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01: Lucretias Medaillon

in Frühling 520 04.06.2015 16:09
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Die Nächte wurden kürzer.
Tag für Tag verstrich, nahm jedes Mal ein Stück der heilenden Dunkelheit mit sich.
Bald schon würde zu dieser Stunde bereits gleißendes, blendendes Licht durch die Spalten zwischen Vorhängen und Fenster fallen, das kleine Zimmer in Gold hüllen, die Stofftiere und Spielzeuge in den Regalen, das bunte Bild mit den unproportionierten, händehaltenden Gestalten an der Wand und auch das Bett, welches viel zu groß schien für den kleinen Körper, den es während der Ruhestunden beherbergte.
Lucretia freute sich nicht auf den Sommer, würde er doch vor allem Hitze und Kopfschmerzen bringen und sie zwingen, häufiger in die Sonne zu treten. Doch in diesem Moment dachte sie nicht an die unerwünschte, nahende Jahreszeit. Sie genoss den Augenblick, genoss es an diesem Ort zu sein, wohlige Wärme zu spüren und Nähe zu denen, die ihr nahe standen.
Sadas saß aufrecht im Bett, ein polsterndes Daunenkissen zwischen Rücken und Bettlehne aus Eichenholz geklemmt. In den Händen hielt er ein dickes, in der Mitte aufgeschlagenes Buch, aus dem er vorlas. An seine Seite geschmiegt, halb unter der weichen Decke verschwindend saß Aurya, die ihm gebannt zuhörte, dann und wann einen kurzen Laut des Staunens von sich gab oder eine Frage stellte.
Eine ihrer kleinen, braunen Hände wanderte zwischendurch in Lucretias Haar, spielte sanft damit.
Lucretia selbst lag zusammengerollt neben den beiden, hatte nur den Kopf in Sadas’ Schoß gebettet. Sie interessierte sich eigentlich wenig für die Geschichten, dumme und naive Märchen, die nicht einmal Nostalgie in ihr weckten, da es nicht die gleichen waren, welche sie in ihrer Kindheit gehört hatte. Fremd waren sie, stammten aus diesem Land und den umliegenden Regionen.
Und trotzdem lauschte auch Lucretia der Stimme des jungen Magiers, nicht minder gebannt als das kleine Mädchen es tat.
Sie liebte Sadas’ Stimme, wie sie sein Lächeln liebte, sein himbeerrotes Haar, wenn es nach einem Tag der Arbeit zerzaust in sein Gesicht fiel, seine Augen, wenn er sie anschaute, seine weichen, zärtlichen Hände, die Art und Weise, wie seine Wangen sich röteten, wenn er verlegen war. Aber es war nicht diese Liebe alleine, die sie zum Zuhören bewegte.
Wenn Sadas sprach, erwachten die Worte zum Leben, sie konnte die Augen schließen und alles vor sich sehen und fühlen, als wäre sie selbst anwesend. Sie konnte den Atem der Drachen spüren, wenn der Held sich ihm stellte, das Klirren der Klingen hören, wenn zwei Ritter um die Ehre kämpften, den Duft des Rosengartens riechen, in dem sich die Liebenden trafen ...
Es war mehr ein Zufall als alles andere gewesen, dass Lucretia eines Morgens in Auryas Zimmer getreten war und die beiden so vorgefunden hatte. Nur zögerlich hatte sie sich dazu gesellt, als die kleine Dunkelelfe sie dazu eingeladen hatte. Hatte eigentlich bald wieder gehen wollen. Doch sie war geblieben. Und zurück gekommen.
Morgen für Morgen, wann immer Aurya zu Bett gebracht und mit einer Geschichte in den Schlaf geschickt wurde.

"Über dem Meer, auf einem See aus Sand...", Wort für Wort, Silbe für Silbe gab Sadrius wieder, erzählte, las nicht einfach nur vor, nein, er gab sich größte Mühe mit Worten, Stimme und Tonfall, dem Auf und Ab seiner Stimme, ein Bild in den Kopf seiner Zuhörerinnen zu malen. Es mit Leben und Bewegung zu füllen und atmen, tanzen, drehen zu lassen. "Ward eine Stadt erbaut, aus dem Gold des Mondlichts..."
Die Märchen, die Aurya meist aussuchte, kannte er nicht, waren ihm völlig fremd und weckten den inneren, kindlichen Trieb, mehr zu erfahren, die Geschichte aufzulösen um auch den letzten Rest gierig aufzusaugen, in der Fantasie Schlösser zu bauen, Drachen zu jagen und eine holde Maid zu retten. Dieses Märchen hier, jedoch, war neu, ein anderes. Aus anderer Kultur, wenn er die Seiten des schweren Buches umblätterte, konnte er förmlich den Kuss der heißen Wüstenluft auf seinen bleichen Wangen spüren, die beinahe schon nadelstichartigen Liebkosungen der Sonne auf seiner Haut und den scharfen, betörend süßen Geruch fremdartiger Gewürze.
"Lebte ein Prinz, reich und gelangweilt. Er hatte viele und doch keine Frauen. Keine war ihm gut genug um länger, als eine Nacht an seiner Seite zu bleiben."

Gespannt hörte Aurya zu, hielt manchmal sogar den Atem an, um ja kein Wort zu überhören.
Sie stellte es sich vor, goldene Türme, die aus weißem Sand hervor bis in den Himmel ragten, die Wolken zerteilten und das Licht der Sterne auffingen. Sie stellte sich vor, wie sie durch ein reich verziertes Portal schreiten und den Prinz sehen würde, einen schönen, jungen Mann in feine, bunte Stoffe gehüllt, aber mit einem traurigen Gesicht. Er war sicher traurig, wenn ihm alles langweilig war.
Und die Frauen ... sie stellte sich vor wie eine nach der anderem zu ihm ging und wieder fortgeschickt wurden.
Warum?
Stirnrunzelnd schmiegte Aurya sich enger an Sadas und nuschelte, als er eine kurze Pause machte, leise:
"Warum waren sie ihm nicht gut genug?
Haben sie etwas falsch gemacht?"

Sadrius stockte kurz und sah zu Aurya herab, er lächelte und strich ihr über die Wange, erklärte mit sanfter Stimme.
"Sie waren nicht die Richtige." Wie sonst sollte er Aurya erklären, dass die Frauen, laut dem Märchen nicht fortgeschickt sondern von dem Leibwächter des Prinzen erwürgt worden waren.
"Lange Zeit spielte der Prinz sein Spiel, eroberte eine neue Frau und stieß sie nach einer Nacht wieder gelangweilt von sich. Doch änderte es sich, als seine Augen sie erblickten, durch das Bernsteinfenster seines Palastes", fuhr er fort, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Den Geschmack von exotischer Abendluft - leicht und süß auf der Zunge. Lauwarmer Tee und Früchte - fremd, köstlich.

Nicht die Richtige ...
Aurya hätte gerne gefragt, woran man erkannte, wer die richtige war, doch Sadas’ nachfolgenden Worte lenkten sie davon ab, schickten ihre Neugierde in eine andere Richtung.
"Wen erblickte er?", fragte sie gespannt und versuchte, sich vorzustellen, wie es sein musste, in einem prachtvollen Gemach zu sitzen und durch das Fenster jemanden zu erblicken, der alles veränderte. Und wer konnte das sein, dass sie das Leben eines Prinzen änderte, der doch schon alles haben musste, was er sich nur wünschen konnte?
Aurya merkte gar nicht, wie ihre Finger sich vor Aufregung anspannten. Erst als Lua leise murrte und den Kopf regte, bemerkte sie, dass sie an den tiefroten Haarsträhnen gezogen hatte. Erschrocken streichelte sie über die Stelle, wie Sadas es immer bei ihr tat, wenn sie sich gestoßen hatte oder hingefallen war.
Aber Lua warf ihr nur einen ruhigen Blick zu und streckte den Arm aus, legte ihr den Zeigefinger flüchtig auf die Lippen. Anschließend drehte sie sich, wälzte sich auf den Rücken und schaute nach oben, in Sadas’ Gesicht.
Aurya entging nicht, wie weich dabei ihr Lächeln war.

"Sie war nur ein Bauernmädchen, doch hatte seine Schönheit inne, die selbst einen Prinzen wie ihn innehalten ließ", las Sadrius leise weiter, strich langsam, stetig über Auryas Helles Haar. Er fühlte, wie sein Herz einen Stich verspürte, ähnlich wie es dem Prinzen gehen musste. "Doch egal wie sehr er sie versuchte zu erobern, mit süßen Worten und Geschenken, stets entwich sie ihm, spielte und beschenkte ihn mit einem reizenden Lächeln."

"Mochte sie den Prinzen nicht?"
Aurya überlegte stumm, ob sie den Prinzen hätte heiraten wollen. Jemanden, der ihr immer Geschenke machte und schöne Dinge erzählte.
Nachdenklich schaute sie zu Sadas auf, dann wieder in Luas Gesicht, doch sie fand in keinen von beiden die Antwort.

Sadrius legte den Kopf schief und dachte ernsthaft über die kindliche Frage nach. Natürlich stand die Antwort nicht in dem Buch, also musste er sie ausdenken.
"Vielleicht wollte sie, dass er sie nicht langweilig findet?", der Blutelf lachte leise, sanft auf und sah zu Lucretia herab. Seine Augen wirkten glasig, waren seine Gedanken doch wo ganz anders. "Vielleicht wollte sie sich interessanter machen."

Lucretia schaute Sadas warm an. Sie konnte an seinem Blick sehen und an seiner Stimme hören, dass er ganz in der Geschichte versunken war. Doch es störte sie nicht, es gefiel ihr sogar. In Momenten wie diesen schien Sadas von Innen zu leuchten, seine besorgte, unsichere Art war gänzlich verschwunden, seine Schönheit, die er sich sonst so sehr zu bedecken bemühte, glänzte dabei.
Flüchtig strich sie über seine warme, helle Hand, hörte Aurya dabei sagen:
"Dann war sie aber dumm. Es ist doch langweilig, wenn sie ihn immer nur anlächelt und nichts mit ihm macht."
Lucretia drehte ihren Kopf.
Das Mädchen würde es nicht verstehen, es war einfach zu jung, zu unerfahren und unbedarft. Sie hatte es ja selbst lange Zeit nicht begriffen. Wie viele andere grausame Wahrheiten auch.
"Lass ihn weiterlesen, Aury. Vielleicht beantwortet das deine Frage."

Ein verlegen, verträumtes Lächeln huschte über Sadrius' Lippen, dann las er mit ruhiger, sanfter Stimme weiter, passierte, um umzublättern und zeigte Aurya das Bild, welches jemand mit viel Liebe zum Detail gemalt, in die Geschichte eingefügt hatte.

Staunend betrachtete Aurya die bunte Zeichnung, welche ein unbekannter Maler auf der Seite verewigt hatte. Goldene Wände hatte der Palast, Bögen und Säulen, die mit kunstvollen Verzierungen geschmückt waren, Türme in Formen, wie die junge Dunkelelfe sie noch nie gesehen hatte. Ein prächtiger Garten von üppigem Grün, in dem verschiedenste Blumen ihre bunten Blüten der Sonne entgegenreckten, erstreckte sich vor dem Wohnsitz des Prinzen, der mit gebanntem Blick aus dem Fenster schaute.
Auch Auryas Aufmerksamkeit wurde von dem Objekt seines Interesses geweckt. Mehr noch sogar als den schönen Hintergrund und den Prinzen nahm sie nämlich die Frau wahr, welche an dem Fenster vorbeischritt. Braune Haut hatte sie und zarte Glieder, bunte Tücher wanden sich um ihre runden Kurven und die schlanke Taille, aus ihrem Kopf sprossen blauschwarze Locken, die wie eine Wolke hinter ihr herschwebten und sie lächelte strahlend wie die Sonne.
Nie hatte Aurya eine schönere Frau in einem der Bücher gesehen und sie streckte fasziniert die Hand aus, strich über ein Stück Tuch, als könnte es dadurch lebendig werden.

"Gefällt dir das Bild? ", fragte Sadrius leise, hauchte einen kurzen Kuss auf Auryas Scheitel. Er lächelte, mit ihrem hellen Haar und der dunklen Haut sah sie ihrer Mutter ähnlich, vielleicht war gerade das, was ihn so eifersüchtig über sie wachen lie. Die Furcht vor erneuten Verlust, das goldschwere Gewicht von schuld um seinen Hals, brennend auf der Haut, gierig wie Säure.

"Ja."
Eifrig nickte Aurya und lächelte Sadas an.
"Es ist so schön!"
Einen Moment länger noch betrachtete sie die Frau auf dem Bild, dann fragte sie neugierig:
"Wie geht es weiter?"

Sadrius sah auf, bemerkte den heller werdenden Streifen von Licht zwischen den Vorhängen hervor lugen. Er klappte das Buch zu, legte es auf den kleinen Nachttisch und strich über Auryas Kopf.
"Ich glaube, es ist besser, wenn wir für heute aufhören."

Aurya beklagte sich lautstark und warf ihrem Ziehvater wie auch Lucretia bettelnde Blicke zu, war damit jedoch wenig erfolgreich. Die Kriegerin streckte sich, setzte sich auf schüttelte sacht das wirre, rote Haar und küsste dann sanft die Wange des Mädchens.
"Er kann uns morgen Abend weiter vorlesen", sagte sie sanft, strich Aurya sacht über den hellen Schopf. "Schlaf gut."
Sie erhob sich, berührte flüchtig Sadas Arm und sagte leise, mit einem zuneigungsvollen Lächeln:
"Bis gleich."
Dann verließ sie das Kinderzimmer.


Aurya zog einen Schmollmund, doch sobald Lua verschwunden war, war sie sicher, dass es für diesen Morgen um ihre Geschichte geschehen war. Das aber brachte ihre Gedanken zurück zu einer Überlegung, welche sie einige Stunden zuvor bereits gehabt hatte. Als sie alleine durch ihre liebsten Bücher geblättert und die wenigen, doch wunderschönen Bilder angeschaut hatte, war es ihr mit einem Mal ins Auge gesprungen, etwas, das anders war, etwas, das sie von all den Prinzessinnen unterschied, sie anders machte.
Ernst schaute sie Sadas an und fragte:
"Ist Lua eigentlich meine Mutter?"

"Nein. Ist sie nicht.", Sadrius' Stimme klang traurig, er drückte das kleine Mädchen etwas enger an sich. Warum stellte sie jetzt diese Frage? Wieso? Es war so schwer zu erklären, er verstand es doch selbst nicht, würde die Wahrheit nicht Auryas unberührtes Herz zerschellen lassen?

Verunsichert schaute Aurya zu Sadas auf. Er wirkte verändert, bekümmert.
Sie begriff nicht, warum, und das machte ihr Angst.
"Habe ... habe ich keine Mutter?", wisperte sie leise.
Alle Mädchen in den Geschichten hatten Mütter. Viele starben bei der Geburt, manche waren böse, manche zogen ihre Kinder aber auch groß und brachten ihnen bei, gut zu sein. Sie spielten selten eine große Rolle, doch sie waren da.
Was bedeutete es, keine Mutter zu haben?

"Deine Mutter ist gestorben.", flüsterte der Blutelf leise, strich zärtlich über Auryas Kopf und drückte sie an sich. Er vermisste Tiamat. Und dann wiederrum nicht. Denn letztendlich hatte er sie nicht gekannt, nur eine Illusion geliebt.

"Oh ..."
Aurya wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Es erleichterte sie, eine Mutter zu haben oder eher, eine Mutter gehabt zu haben.
Doch es war traurig, dass sie tot war, wie so viele Mütter in den Geschichten. Es war traurig, dass sie diese Frau niemals kennenlernen würde, dass sie ihr niemals beibringen könnte, gut zu sein.
Das kleine Mädchen drückte sein Gesicht an Sadas' Brust, in den weichen Stoff seines Hemdes.
"Wo ... wo ist sie dann jetzt?"

"Ich weiß nicht...aber auf jeden Fall an einem besseren Ort.", murmelte Sadrius leise, strich über Auryas Kopf. "Bestimmt vermisst sie dich, ist aber auch froh, dass es dir hier gut geht?"

Aurya nickte langsam, Sadas’ sanfte Berührung, seine leise Stimme und seine Wärme waren ihr ein Trost.
Vorsichtig blickte sie zu ihm auf, in seine gelben Augen.
"Vermisst du sie auch?"

"Manchmal ", Sadrius strich wieder über ihren Kopf. Er biss sich auf die Unterlippe, sah zu dem Vorhang, das Licht.

Etwas fester griffen die kleinen Kinderhände in den Stoff Sadas’ Hemdes.
"Du bleibst doch immer bei mir ... oder, Sadas?"
Der Gedanke drängte sich Aurya einfach auf und sie musste fragen.
Sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, er könnte sie alleine lassen, ihr nie wieder abends Geschichten vorlesen, ihre Bilder loben oder sie in den Arm nehmen, wenn sie traurig war.

"Natürlich", flüsterte Sadrius leise, drückte Aurya eng an sich. Er barg die Angst vor ihr, versteckte sie.

Lange verharrte Aurya so in Sadas’ Umarmung, wärmer und inniger, als sich die Umarmung einer Mutter anfühlen konnte.
Und es beruhigte sie langsam, nahm ihr die Sorge, dass das hier jemals enden könnte.
Sie fühlte sich geborgen und geschützt.
"Ich hab dich lieb", murmelte sie irgendwann und rieb die Stirn leicht an Sadas’ Brust.
Doch ihre Lider wurden zunehmend schwerer, ihre Arme schlaffer.
Und irgendwann war sie eingeschlafen.

Langsam, vorsichtig befreite Sadrius sich aus Auryas Umarmung, deckte sie ordentlich zu und trat dann aus dem Zimmer, die Tür nur angelehnt, damit er sofort reagieren konnte sollte Aurya rufen.
Diese Situation,... Sie war zu knapp gewesen, ihre Worte hallten in seinem Kopf, schmerzhaft beinahe.

Lucretia hob den Kopf, als sie glaubte, die Dielen knarzen zu hören, doch es schien nur ihre Einbildung zu sein.
Sie trug bereits ihr Nachthemd und saß an ihrem Schreibtisch, hatte noch ein paar Notizen für Ùna fertiggestellt. Sadas ließ sich Zeit, dem Licht nach zu urteilen, war die Sonne draußen längst aufgegangen.
Er verbrachte oft noch einige Minuten alleine mit Aurya und Lucretia ließ ihm diese Momente gerne. Er liebte das Mädchen inniger, als jede Mutter ihr Kind lieben konnte und das achtete sie, war beruhigt, dass die Kleine mehr Zuneigung und Wärme erfuhr, als ihrer Mutter und Tante zuteil geworden war. Dennoch wunderte Lucretia sich, dass Sadas derart auf sich warten ließ.
Seufzend erhob sie sich, nahm die Notizen mit, um sie nach unten zu bringen, wo Ùna und Zephyr sie später finden würden. Ihren Liebsten würde sie dann wohl auch finden.

Noch langsamer als sonst schlurfte Sadrius durch die Flure, machte aus dem kurzen Weg von Auryas zu Lucretias Schlafzimmer eine halbe Weltreise.
Er musste nachdenken, doch jeder klare Gedanken den er noch hatte wurde trüb und undurchsichtig, zu kompliziert. Es war nicht allein die Müdigkeit, der Drang nach Schlaf. Es war eine Überdrüssigkeit des Lebens. Als hätte vieles seinen Sinn verloren und musste erst einen neuen finden.

"Sadas!"
Nachdem Lucretia die Unterlagen in den dafür vorgesehenen Kasten abgelegt hatte, hatte sie noch einmal einen kurzen Blick in Auryas Zimmer geworfen, den jungen Magier dort nicht vorgefunden. Zwar hatte sich eine dunkle Vorahnung in ihr aufgetan, doch sie hatte diese lieber beiseitegeschoben, sich gesagt, dass sie ihn einfach verpasst hatte, dass er sicher schon in ihrem Bett lag und dort mit einem warmen, sanften Lächeln auf sie wartete.
Doch nun, da sie ihn im Flur erblickte, die Haltung seltsam gebeugt, das Gesicht hinter langem Haar versteckt, da wusste sie, dass etwas nicht in Ordnung war.
Besorgt trat Lucretia an ihn heran, berührte vorsichtig seinen Arm.
"Was ist los mit dir?"

Erschrocken zischte Sadrius , riss seinen Arm zurück und starrte Lucretia mit ungewohnt wildem Blick an, als wäre sie eine Fremde die ihm im Wege stand, Gefahr bedeutete.
"Oh ", flüsterte er leise, der wilde Blick wurde traurig und weich. "Oh, du bist es."

Lucretia ließ die Hand sinken und starrte ihn entgeistert an.
"Wen hast du denn erwartet?", fragte sie schließlich dumpf.
Seine Augen, der Ausdruck, welcher in ihnen lag, beunruhigte sie, ließ Alarmglocken in ihrem Hinterkopf läuten, aber sie wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.

"Ich... Ich habe gedacht du wärst eine von ihnen. ", das letzte Wort betont, dass es eine zweite Bedeutung bekam, lehnte Sadrius sich zurück, gegen die Wand. Gegen etwas das solide stand, halt versprach. Er strich sich über das Gesicht.

"Eine von ihnen ...?"
Verwirrt und unsicher musterte Lucretia ihn von Kopf bis Fuß, trat dann vorsichtig näher und legte eine Hand an seine Wange.
"Wen meinst du, Sadas?", fragte sie leise.
Wer war es, der ihm eine solche Angst einjagte?

"Ich meine eine der Frauen meiner Mutter." Sadas leckte sich die Lippen, nervös und unruhig huschte sein Blick hin und her, er fühlte und benahm sich wie ein in die Enge getriebenes, hilfloses Tier. Immer wieder rieb er sich über die Arme, als würde er frieren. "Eine ihrer Assassininnen."

Alle Farbe wich aus Lucretias Gesicht und sie starrte Sadas einen Augenblick lang nur an.
Dann aber gab sie sich einen Ruck und nahm seinen Arm.
"Komm mit", sagte sie leise, doch in einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, während sie ihn in ihr Gemach führte. Sie schaute ihn dabei nicht an, denn sie wollte nicht, dass er das Flackern in ihren Augen sah. Die Unsicherheit. Die Angst.
Sie musste stark sein, sie hatte die Verpflichtung dazu.
Gegenüber Sadas und auch sich selbst.
Angekommen in ihrem Zimmer, schritt sie sogleich zu einem ihrer Kommoden, öffnete eine ganz bestimmte, unscheinbare Schublade.
"Warum schickt deine Mutter dir Assassinen nach?"

"Weil sie es nicht schätzt...wenn man die Familientradition bricht", murmelte Sadrius leise und rieb sich wieder über die Arme. Er atmete zittrig aus, versuchte sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen und merkte doch nur, dass seine Wangen nass waren, seine Lippen salzig schmeckten.

Lucretia stieß einen leisen, verbitterten Laut aus.
"Das schätzen sie alle nicht", knurrte sie und dachte daran, wie wütend ihre Mutter gewesen sein musste, als sie erfahren hatte, dass ihre jüngere Tochter sich aus dem Staub gemacht hatte. Ein kalter Zorn war es sicher gewesen, unsichtbar für all jene, die nicht unter die Maske der Königin schauen konnten ...
Schnell hatte Lucretia gefunden, was sie suchte, gut versteckt in einem geheimen Fach hinter viel anderem, prächtigeren Schmuck. Fest schloss sie ihre Hand um das Medaillon, helles Silber, welches einen gelben Stein umfasste.
Als sie sich umdrehte und Sadas wieder anschaute, zog sich ihr Herz zusammen.
Dieser verlorene Anblick, die Tränen, beides tat ihr weh.
"Sadas ..."
Sie nahm ihn in den Arm, strich zärtlich über seinen Rücken, durch sein Haar, schmiegte ihre trockene Wange an seine nasse.
Und als sie sich wieder von ihm löste, trug er die Kette, welche sie soeben hervorgeholt hatte.
"Ich lasse nicht zu, dass dir etwas geschieht."

"Was ist das?", mit bleichen, zittrigen Fingern fasste Sadrius nach dem Stein, gelb. Wie seine Augen. Das Medaillon klirrte leise, stieß gegen Tiamats Kette - Auryas Kette.

"Es wird dich beschützen", erklärte Lucretia leise. "Vor Gefahr warnen."
Vorsichtig nahm sie seine Hand, kühl und bebend, mitsamt dem Medaillon in ihre eigene.
"Meine Mutter hat es mir gegeben und es hat mich oft gerettet."

"Ah." Sadrius ließ seine Hand schlaff zurück an seine Seite sinken. Er wirkte so weit fort, in seiner eigenen, kleinen Alptraumwelt gefangen. Das Lächeln, welches er Lucretia schenkte, wirkte faserig und brüchig, wie ein zerbrochener Spiegel mit scharfen Scherben. "Danke."

Es tat Lucretia weh, dass sie anscheinend nichts tun konnte, um Sadas’ Furcht zu lindern.
Viel brachte sie auch nicht zustande, außer ihn noch einmal zärtlich zu berühren und leise in sein Ohr zu sagen:
"Du bist nicht allein, Sadas. Ich passe auf dich auf."
Lange lag Lucretia noch wach, lag mit offenen Augen neben Sadas, der im Schlaf ebensowenig Ruhe zu finden schien, wie sie selbst im Wachen. Sie spürte, wie er sich wälzte, hörte ihn leise wimmern.
Und sie konnte nichts tun, als bei ihm zu liegen, ihn sanft zu berühren und seine Angst zu teilen.






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