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01: Jahrmarktfreuden

in Sommer 520 08.06.2015 18:24
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Der Jahrmarkt war ein Ort voller Wunder, für Kinder und Erwachsene zugleich.
So zumindest sagte man.
Kalas wäre nicht hergekommen, hätten Elesil und die Kinder nicht darauf bestanden. Er war gerade einer Phase der Bettlägerigkeit entflohen, kaum wieder zu Kräften gekommen und dementsprechend gering war seine Begeisterung gewesen, bei der Aussicht, einen Ort aufzusuchen, an dem die Menschen sich nur so tummelten, man von der Menge verschlungen wurde, bis man glaubte, ersticken zu müssen.
Doch er hatte nachgegeben. Die Zeit rieselte durch seine Finger, ganz gleich was er tat, und wenn es seiner Tochter und seinem Neffen Freude bereitete, Lachen auf ihre jungen Gesichter zauberte, so war er bereit, einen Teil seiner Zeit dafür zu opfern.
Alles in allem war es weniger schlimm, als er erwartet hatte, hin und wieder fühlte er sogar, dass sein Lächeln, wenn er Feuerspucker oder Musikanten beobachtete, echt war. Ungezwungen. Ungetrübt von den Sorgen des Alltags.
Und trotzdem … die lauten Stimmen und Musik dröhnten bald schon schmerzhaft in seinen Ohren, der Geruch von Mensch, Tier und Gebratenem bereitete ihm Übelkeit. Selbst freudiges Lachen schallte bald wie Hohn in seinem Kopf.
Als Elesil mit den begeistert brabbelnden Kindern, Elaine an der linken Hand, Brent an der rechten, in Richtung des Jahrmarktzentrum zuhielt, um der Vorführung einer Seiltänzerin beizuwohnen, nahm er Oscar kurz beiseite, um ihm in wenigen Worten zu erklären, dass er eine Auszeit brauchte. Zum Atmen. Um Ruhe zu finden.
Und je weiter er sich vom Mittelpunkt entfernte, je weiter die äußeren Felder hinter dem Jahrmarkt in Sichtweite rückten, desto besser fühlte er sich. Nicht unbedingt fröhlicher, aber ruhiger, weniger erdrückt.
Er wusste nicht, wohin er ging oder was er suchte, doch dieses sich treiben lassen war weit angenehmer als das Hetzen, das Rennen von einer Attraktion zur nächsten.
Hätte er nachgedacht, hätte sich seine Aufmerksamkeit vielleicht auch nie auf das eine Zelt gerichtet, das anders war als die anderen. Das nicht bunt, sondern dunkel war, blau, teilweise violett, aus teurem Stoff, zum Teil versehen mit Goldstickereien.
Hätte er den Wünschen seiner Kinder gehorcht, hätte er das Tuch am Eingang wohl nie zurückgezogen, hätte nie einen Blick hinein gewagt, wäre nie eingetreten.
So aber, weil er alleine und fernab von ihnen ging, auf kein Vergnügen aus war, nicht auf das eigene oder das seiner Kinder, geschah all dies und es war, als trete er in eine fremde Welt oder wenigstens ein fremdes Land.
Der Geruch exotischen Tabaks lag schwer in der Luft, lockend und giftig zugleich, ein seidener Vorhang teilte das Zelt und so fiel sein Blick auf den Mann, der auf einem Sitzkissen an einem niedrigen Tisch saß, an einer Wasserpfeife zog. Karten, Teeblätter und andere Gegenstände und Utensilien waren auf der Tischplatte ausgebreitet.

Den Blick nur träge hebend, ein Lächeln leicht, beinahe schon lasziv um die Mundwinkel spielend musterte Madeen den Neuankömmling. Einen Ring aus blaugrauem, süß duftenden Rauch ausstoßend neigte er sich leicht vor.
"Grüße, Fremder", raunte er mit dunkler, rauchiger Stimme, die Worte mit einem fremdartigen Akzent angehaucht. Schlanke, gebräunte Finger begannen mit traumwandlerischer Sicherheit die Karten zu mischen. Ein leises Geräusch, das einzige von dem gelegentlichen Blubbern der Pfeife einmal abgesehen, in dem Zelt. Madeen musterte den Mann von Kopf bis Fuß, ein geübter, scharfer Blick. "Womit kann ich Euch dienen? Ein Blick in die Zukunft? Soll ich Euch die Karten legen?"

Kalas wusste nicht, ob er angezogen oder abgestoßen sein sollte.
Der süßliche Geruch des Rauchs legte sich auf seine seit kurzem erst wieder freie Lunge, sodass es ihn verwunderte, dass er davon nicht röcheln musste. Der Akzent des Wahrsagers klang fremdartig, unbekannt, seltsam. Seine Worte versprachen Unsinn, eine Zukunft, die bestenfalls gut geraten wäre, gelesen in Karten und Teeblätter, genau wie junge Ladys sie zur Unterhaltung an regnerischen Nachmittagen voraussagten.
Doch es lag etwas anderes in der Stimme, des Mannes, etwas, das Kalas kannte und dass er vor langer Zeit verbannt hatte, zweimal bereits in seinem Leben. Einmal, bevor er es verstanden hatte und ein zweites Mal, nachdem es ihn beinahe in den Ruin getrieben hatte. Es machte ihn neugierig und seine Vernunft befahl ihm, sich umzudrehen und zu verschwinden.
Es wäre besser, für seine Standhaftigkeit, für seinen Ruf, für alles, was er sich in den letzten Jahren wieder aufgebaut hatte. Es wäre einfach, sich umzudrehen und diesem Zelt den Rücken zu kehren. Ohne ein Wort oder höchstens mit einer höflichen Zurückweisung. Er würde nie zurückkehren und alles schnell wieder vergessen, wieder in seinem Alltag mit allen Sorgen und Pflichten versinken.
Doch Kalas tat nichts dergleichen. Er blieb stehen, schaute den braungebrannten Mann in den exotisch anmutenden Roben mit höflicher Neugierde und fragte dann ruhig:
"Was können die Karten mir denn erzählen?"
Er war klug genug, seine Neugierde zu stillen, aber wohl nicht standhaft genug, sich ihrer völlig zu entziehen.

Der Wahrsager lehnte sich zurück, die Karten noch immer zwischen den Händen. Das lasziv, beinahe selbstsichere Lächeln verließ nie sein Gesicht.
Madeen mischte erneut die Karten, ehe er sie wie einen Fächer hielt, die bunten Bilder nach unten gerichtet.
"Halten Eure kleinen Kinder Euch wach, Mylord?"

Kalas seufzte.
Seine Worte, die lediglich eine rhetorische Frage hatten bilden sollen, waren wohl zu schnell gekommen, denn jetzt musste er sich wohl oder übel die Karten legen lassen. Vor derlei Zeitverschwendungen hatte sein Vater ihn immer gewarnt, doch sein Vater war nun schon seit Jahren nicht mehr hier und müsste er vom Jenseits aus etwas an seinem Sohn bedauern, so würde er sicher einen anderen Makel wählen.
Also ließ er sich dem Wahrsager gegenüber auf einem zweiten Sitzkissen nieder, schaute ihm in die auffallend blauen Augen und schenkte ihm ein höfliches Lächeln.
"Sieht man mir das so sehr an?"

"Vermutlich müsste ich jetzt irgendetwas Mystisches über eine Kristallkugel und spirituelle Kräfte faseln." Madeen schenkte dem Mann ein gespielt süßes Lächeln, das in seinem Kern gleichbleibend kokett blieb. Seim Blick blieb an dem blonden Lord haften, selbst als er die Karten in der üblichen Konstellation legte. Uralte Routine, durch tausendfache Wiederholung in Fleisch und Blut übergegangen. "Doch wie Ihr seht... Besitze ich eine solche Kugel nicht. "

"Also sieht man es mir an", antwortete Kalas mit einem leisen Lachen.
Innerlich war er aber wachsam.
Er konnte nicht hinter das Lächeln des Wahrsagers blicken und das beunruhigte ihn. Doch er wagte nicht, einen Versuch zu wagen, näher hinzublicken. Nicht, weil er sich vor dem fürchtete, was dahinter liegen mochte, sondern weil der Akt des Dahinterschauens selbst ihn ängstigte.

"Nun... Offensichtlich war Eure Vergangenheit voller schwerer Schicksalsschläge oder aber ein unruhiges auf und ab." Madeens Hand ruhte auf der Karte die er umgedreht hatte, eine, welche in verwaschenen Farben eine Straße zeigte, voller Unkraut und Schlaglöcher, schon lange unbenutzt. Mit einem weiteren seiner koketten Lächeln legte der Wahrsager die Hand auf die Karte in der Mitte. "Das Glück ist ein launisches Ding, doch anscheinend hat es gefallen an Euch gefunden. Ihr werdet jemanden treffen. Jemand, der noch wichtig für Euch wird. "
Die Silhouette zweier Personen, eng umschlungen, das Liebespaar unter einem gemalten Nachthimmel. Als Madeen dann die letzte Karte aufdeckte schenkte er dem Mann vor sich einen weiteren, lasziv wirkenden Blick.
"Die Zukunft wird ein Kampf für Euch."
Die Karte mit den stilistisch dargestellten, gekreuzten Schwertern sprach für sich.

Kalas nickte, sein Blick galt für einen Moment lang ausschließlich den Karten.
Nachdenklich musterte er jede einzelne von ihnen, denn was sollte er sonst tun?
"Die Zukunft ist für jedermann ein Kampf, oder etwa nicht?", sagte er schließlich.
"Aber ich muss wirklich gesegnet sein, einen solchen Menschen zu finden."
Als er wieder zu dem Wahrsager aufschaute, erreichte Kalas’ Lächeln seine Augen nicht.
Einen solchen Menschen gab es nicht.
Kalas hatte sich darum bemüht, Gefallen an Frauen zu finden, doch es war ihm nie gelungen. Und keinen weiteren Liebhaber würde er sich jemals nehmen. Der Preis war dafür immer schon zu hoch gewesen, doch nun war er nahezu ins unermessliche gestiegen.
Er konnte das, was von seiner Familie übrig geblieben war, nicht alleine zurücklassen, während er selbst für seine eigene, sündige Wollust ins Zuchthaus geschickt wurde. Er konnte es ihnen nicht antun.
Er hatte Luca fortgeschickt, zu einem Zeitpunkt, da er ihn noch für die Liebe seines Lebens gehalten hatte.
Noch einmal würde er keinen Mann so nah an sich heranlassen, selbst wenn er so schön und lockend wie dieser Wahrsager wäre.
"Was schulde ich dir für deine Dienste?"

"Drei Löwen." Die schlanke Hand ausgestreckt begegnete Madeen dem Blick des anderen ohne auch nur ein Anzeichen von Schwanken, sein unverschämt hoher Preis diente einzig dem Zweck eine Reaktion zu entlocken. Es lag eine gewisse Härte in Madeens Augen, war schon immer da, als wären sie stellenweise aus farbigem Glas geformt. Dann wiederrum, wurde sein Blick weicher, er schloss die Finger um seine leere Handfläche. "Oder einen erneuten Besuch im nächsten Jahr, Lord."

Kalas schaute den Wahrsager prüfend an. Er hatte keine Ahnung, wie viel Geld für eine Weissagung üblicherweise verlangt wurde, doch er ahnte, dass drei Goldmünzen weit mehr waren.
Dass der Mann ihn prüfte, war eindeutig, aber Kalas war nicht sicher, ob er sich dieser Prüfung unterziehen wollte.
"Erlaub mir, dich zu fragen", sagte er leise, "warum du glaubst, dass ich nächstes Jahr zurückkommen werde, sollte ich es dir versprechen. Haben es dir deine Karten verraten?"

Ein weiteres Lächeln entblößte gesunde, weiße Zähne, Madeens Augen glitzerten spöttisch. Der Wahrsager stützte das Kinn auf die Hand und musterte den Mann von oben bis unten.
"Ihr seid ein ehrlicher Mann. Ihr würdet ein Versprechen doch nicht brechen, oder?"

"Das ist wahr", erwiderte Kalas. "Aus freiem Willen würde ich es nicht tun."
Er hielt dem herablassenden Blick des anderen Mannes stand, erwiderte ihn mit scheinbar gleichmütiger Ruhe.
"Aber du sagtest selbst, dass meine Zukunft ein Kampf wird. Ob ich ihn gewinnen werde, muss hingegen ungewiss sein, sonst hättest du es sicher erwähnt."
Kein Wahrsager der Welt konnte wissen, worüber nicht einmal die Ärzte sich im Klaren oder auch nur einig waren.
Also zückte Kalas seinen Geldbeutel und zog drei goldene Münzen mit eingeprägten Löwen hervor, legte sie vorsichtig, eine nach der anderen auf den Tisch.
"Ich werde dich nächstes Jahr wieder besuchen.
Nimm diese als Pfand."
Mit diesen Worten drehte er sich um und fragte sich stumm, worauf er sich hier eingelassen hatte.

"Oh, ich verlasse mich darauf, Lord", rief Madeen dem anderen Hinterher, ehe er lachte, rau, dunkel und mit einem seltsamen Klang. Die Münzen, ebenso wie die aufgedeckten Karten auf dem Tisch nicht berührend, griff der Wahrsager nach seiner Wasserpfeife, nahm einen langen, tiefen Zug daraus und lachte wieder leise, beinahe sanft. "Und wie ich mich darauf verlassen werde."






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