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01. Fallende Seiltänzer

in Sommer 528 07.09.2015 14:53
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

"Wiederhol das nochmal, du ausgestopfte Hure!", was der Grund gewesen war, warum sowohl Madeen als auch Sesilla sich auf dem Hochseil balancierend, nichts als ein dünnmaschiges Netz unter sich, sich anschrien, er war keinem dritten bekannt. Doch vermuteten viele, es ging um die Aufmerksamkeit. Sowohl Madeen als auch die Rothaarige Seiltänzerin Sesilla waren die Sternchen am Himmel des Jahrmarktserfolges. "Ich erwürge dich mit deinem eigenen Schmuck! "
"Komm doch her du feiger, schlappschwänziger Arschlecker!" Sesilla klang wie ein böse keckerndes Eichhörnchen, das sich erbost aufblähte, größer machte. Sie hatte Madeen oft schon die Meinung gesagt, ihn oft versucht zu blamieren. Meist hatte sie eine postwendende Antwort erhalten, getränkt von Madeens Spott und Hohn.
Deswegen wohl hatte sie den Wahrsager hier hoch gelockt. Um ihn ein für alle Mal zu blamieren. Zu demütigen und das hochmütige Maul zu stopfen. Zu sehen wie Madeen zwar geübt, aber keineswegs sicher auf den dünnen Drahtseil stand, seine Muskeln sich zwar an die vertrauten Bewegungen erinnerten und dennoch den Rost der Zeit nicht abschütteln konnten, hatte etwas unglaublich befriedigendes.
"Satanshurenmädchen ", zischte Madeen erbost, was sie dazu brachte die Augen zusammen zu kneifen. Eine Windbö erwischte sie, Madeen wankte leicht, doch stand, während sie vollkommen ruhig wirkte, als wäre das Seil ein Teil von ihr.
"Guten Flug. ", mit honigsüßem Lächeln stieß Sesilla sich ab, schlug elegant einen Salto und landete sicher auf ihrem Steg.
Ein Fluch entwich Madeen, als das Seil von ihrem Absprung zu wackeln begann, er wirbelte mit den Armen, ruderte und - fiel.
Ein gellender Aufschrei, gefolgt von einem ungesund lauten knirschen sich verschiedener Gelenke erklang, wurde vom ächzen des Netzes und dem dumpfen Aufschlag von Fleisch auf fest getretene Erde übertönt.

Es ging alles schnell, viel zu schnell.
Kalas hatte nicht mitbekommen, worum es ging, hatte nichts als Wortfetzen verstanden.
Hatte nichts klar gesehen, als Madeen, wie er im einen Moment auf dem Hochseil stand, im nächsten wie ein Stein zu Boden fiel.
Der Lord erstarrte, Bilder rauschten durch seinen Kopf, Bilder, die nicht an diesen Ort, nicht an diese Zeit gehörten und die doch plötzlich wieder hier waren.
Weit aufgerissene Augen.
Kastanienbraunes, wirr um den Kopf ausgebreitetes Haar, das langsam von einer Blutlache getränkt wurde.
Ein regloser, schlanker Körper in einem hellen Kleid.
Menschen, so viele Menschen, die gaffen und doch nichts tun ...

Unwillig schnalzte Suraya mit der Zunge und drängte sich an all den untätigen Gaffern vorbei - insbesondere ein großer, blonder Mann stand ihr dabei im Weg. Als diese Hindernisse endlich überwunden waren, eilte sie auch schon flinken Fußes auf den am Boden liegenden Madeen zu, stieß ihn leicht mit ihrem bloßen Fuß an.
"He, lebst du noch, Kartenleger, oder brauchen wir einen neuen wie dich?"
Als sie ein Ächzen als Antwort hörte, hockte sie sich kopfschüttelnd vor dem Wahrsager hin und fuhr seufzend fort:
"Ich habe dir doch gesagt, du sollst die Schnepfe in Ruhe lassen.
Da oben haben kleine Männer wie du nichts verloren."

"Leck an einem Laternenpfahl", erwiderte Madeen mit schmerzverzerrter Stimme. Er versuchte sich auf zu setzen und stieß einen leisen Schmerzenslaut aus, der beinahe sofort wieder abbrach und ihn atemlos zurück sacken ließ. Seine Schulter pochte und schmerzte, stand in schrecklich ungesunden Winkel ab, während sein Rumpf so sehr schmerzte, er sich kaum bewegen konnte. "Schulter."

"Ah, ausgerenkt", bemerkte Suraya in einer Stimme, die wenig Mitgefühl verriet.
"Ich kümmere mich darum."
Sie beugte sich vor, musterte die verdrehte Schulter und streckte die Hände aus, nur um mit einem süffisanten Lächeln inne zu halten und zu fragen:
"Bevor oder nachdem ich an deinem Laternenpfahl geleckt habe?"
Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern machte sich mit einem Ruck an die Arbeit.

Madeens gellender Schmerzensschrei hallte laut und schrill über den Jahrmarkt, ließ viele erschrocken zusammen fahren.
"VERDAMMTES MISTSTÜCK!" Madeen heulte vor Schmerz, doch konnte nun wenigstens wieder seine Schulter bewegen, zog den Arm schützend an sich und schniefte. "Warum scherst du dich nicht zurück in die Hölle zu deinem teuflischen Ehegatten?"

"Weil er nicht genug Ausdauer für mich hat. Fragt mich jedes Mal, warum ich mich nicht zu meinen irdischen Liebhabern zurückschere."
Grinsend wischte Suraya sich eine schwarze Locke aus dem Gesicht, die sich vorwitzig aus ihrem losen Zopf gelöst hatte.
"Außerdem muss ich doch noch einen Laternenpfahl lecken."
Madeen konnte wirklich niedlich sein, wenn er aufgebracht war - und Suraya genoss es, diese Momente auszureizen. Sie war eine böse Frau und sie genoss es aus voller Seele.
Die meisten Zuschauer verschwanden nun, wahrscheinlich enttäuscht, dass es keinen Toten, kein Skandal, keine Tragödie gegeben hatte. Sie kamen zum Jahrmarkt, um unterhalten zu werden, wenn dabei ein Arbeiter zu Schaden kam ... nun, wen kümmerte es. Vielleicht ein kurzer Moment des Mitleids, ein angenehmes Gefühl, wenn man nicht selbst betroffen war, und nach wenigen Tagen wäre das Ereignis vergessen.
Ein Mann blieb jedoch wie angewurzelt stehen, der große Blonde, der ihr bereits vorher den Weg versperrt hatte, und starrte so gebannt in ihre Richtung, dass Suraya sich fragte, ob ihre enge Hose wohl ein wenig verrutscht war und einen Teil ihres Hinterns entblößte.
Sie richtete sich auf und rief dem Mann, der sofort zusammenzuckte, zu:
"He, mein Hübscher, hier gibt es nichts zu glotzen.
Komm heute Abend ins große Zelt, dann kannst du mich besabbern, wie du lustig bist."
Ein spöttisches Lächeln trat auf ihre Lippen.
"Und wenn du Glück hast, lecke ich auch mal an deinem Laternenpfahl."

"Halt die klappe, Vigi." Madeen erhob sich, zog sich gnadenlos an ihr hoch und torkelte mit schmerzenden Rippen auf den wohlbekannten Mann zu. "Nicht jeder ist auf deine Ware aus, meine Liebe."
Ein spöttisches Grinsen, dass ein wenig atemlos wirkte, dann wandte Madeen sich dem Besucher zu.
"Ah, Lord Dewside, ich hoffe doch, diese kleine... Vorstellung hat Euch nicht verschreckt." Madeen schenkte Kalas für einen Moment einen weichen, besorgten Blick, ehe sein Grinsen zurückkehrte. "Ich würde Euch ja etwas zu trinken anbieten..."
Verdammt!
Sich abrupt bremsend wechselte Madeen das Thema, wollte nicht schon wieder auf... ES zu sprechen kommen. ES war allein seine Schuld, eigentlich sollte er froh sein - war es auch über alle Maßen - das Kalas ihn trotzdem noch besuchte.
Vorsichtig berührte er den blonden Lord am Arm. Eine neutrale, bestenfalls freundschaftliche Geste. Zumal der Kontakt nur kurz anhielt.
"Ihr wirkt etwas blass."

Suraya presste die Lippen zusammen.
Das also war der Dank für ihre Hilfe?
Hämische Worte und - was noch viel schlimmer war - ihren verhassten Vornamen durch die Gegend schreien.
"Das trifft sich gut", erwiderte sie mit einem süßlichen Lächeln. "Schließlich ist meine Ware nicht käuflich.
Mit wiegenden Schritten hielt sie auf den Mann zu – ein reicher Herr dem Anschein nach, mittleren Alters, dessen Gesicht trotzdem noch attraktive Züge aufwies.
Er wirkte verlegen, seine Wangen waren etwas gerötet und er räusperte sich, als sie näher kam.
"Verzeiht, meine Dame, ich wollte nicht unhöflich sein und starren-"
"Schon gut", unterbrach sie ihm und winkte ab. "Wenn du dich entschuldigen willst, hör auf, mich 'Dame' zu nennen und kauf später eine Flasche Schnaps bei mir.
Oh, und wenn ich dir einen Rat geben darf", sie deutete in Madeens Richtung, denn so viel Rache musste sein, "lass dir nicht zu viel Kohle von dem kleinen Mann abnehmen. Er verlangt gerne mal das Doppelte von dem Preis für den Andere hier es dir besorgen."
Sie konnte noch sehen, wie das Gesicht des Herren dunkelrot anlief, hören, wie er ein paar leugnende Worte von sich gab, doch sie lächelte nur und bewegte sich davon, verschwand schließlich in ihrem goldgrünen Zelt, wo sie summend ihre Flaschen bunter Spirituosen auslegte und ungeduldig auf Kundschaft wartete.

Ein paar Sekunden lang starrte Kalas der Frau fassungslos nach, dann erst fiel ihm auf, dass Madeen ihn ja etwas gefragt hatte.
"Ich ... mir geht es gut", stammelte er. "Aber was ist mit dir? Bist du verletzt?"
Er konnte kaum glauben, dass da nicht mehr als ein ausgerenkter Arm gewesen sein sollte.
Nach einem Sturz aus der Höhe ... selbst mit dem Netz, welches den Sturz abgefedert hatte.

"Ich bin nicht klein!", giftete Madeen hinter den schwingenden Hüften der Frau her, grinste kurz dreckig und flötete wesentlich süßer. "Bei dir mach ich gern ’nen Sonderpreis, Schätzchen."
Kichernd zog er Kalas am Ärmel weg, verzog das Gesicht und hielt sich die schmerzende Seite. Er warf auf dem Weg zu seinem Zelt, zu der Ungestörtheit einen fragenden Blick über die Schulter zurück zu Kalas.
"Mein liebster Kalas, dass erste was einem als Seiltänzer beigebracht wird ist, wie man richtig fällt." Madeens Stimme klang beinahe sanft. Sein Akzent wog schwerer, wenn der scharfe Spott fehlte. Und erst vor seinem Zelt wandte er sich um, ein kleines, laszives Lächeln huschte über seine Lippen. "Ich bin unglaublich gerührt von Eurer Sorge. Wollt Ihr Euch vielleicht mit eigenen Augen davon überzeugen, dass ich noch heil bin?"

Abrupt wurde Kalas’ Haltung abwehrend, seine Miene wachsam.
"Nein", erwiderte er angespannt. "Ich glaube dir, wenn du es mir sagst."
Er war nicht hergekommen, um mit Madeen zu schlafen. Es war nicht so, dass die Vorstellung ihn abschreckte und natürlich hatte er auch keinen neuen Liebhaber gefunden oder auch nur nach einem solchen gesucht.
Vielmehr verhielt es sich so, dass ein süßes Lächeln, ein anzügliches Wort, eine zweideutige Berührung ihn nervös machte, unruhig. Die Sehnsucht vertrieb, welche er manchmal des Nachts spürte, keinen Platz ließ für die Fantasien, welche ihn in seinen Träumen gefangen nahmen.
Kalas räusperte sich, wechselte das Thema, während er sich an Madeen vorbei ins Zelt schob.
"Ist diese Frau eine Freundin von dir?"

Sobald Madeen den Blick bemerkte, dieser vorsichtig lauernde Blick, behielt er seine Hände bei sich. Er spürte wie sein Grinsen erstarb, war lustlos es weiter aufrecht zu halten.
"Suraya... sie ist wie ich. Wurde als Kind gekauft und arbeitet nun ihre Schuld ab", murmelte Madeen leise, leckte sich die Lippen. Er sah über die Schulter zurück, zu Kalas. Trotz des warmen Lichts fühlte er sich verloren. Allein. Und es verdammt nochmal seine eigene Schuld. Seufzend schritt Madeen in das Zelt, kramte die wenigen Dinge zusammen die er für Tee brauchte. "Soll ich sie Euch vorstellen?"

"Nur, wenn du das möchtest", antwortete Kalas höflich und setzte sich.
Er hatte kein besonderes Bedürfnis, diese Dame näher kennenzulernen, obwohl er darüber nachdachte, ihrem Angebot bezüglich des Schnapses nachzukommen.
Er trank nicht viel, doch manchmal gönnte er sich einen Abend alleine mit einem starken Tropfen, um all den Kummer zu vertreiben. Um nicht wahnsinnig zu werden.
"Ich habe mich nur gefragt", fuhr er leise fort, "ob sie von uns weiß."

"Oh, fürchtest du nur weil du mich nicht mehr fickst plappere ich plötzlich wie ein Singvogel?" Madeen wollte nicht so heftig reagieren. Es... geschah einfach, obwohl er es besser wusste, obwohl er gehofft hatte... Kalas war also nur hier um seinen Mund zum Schweigen zu bringen? "Nein. Niemand außer mir weiß von dir."
Vielleicht hörte es sich nur in seinen Ohren so an, aber... zitterte seine Stimme?
Madeen knallte den Kessel für den Tee härter als nötig auf das Gestell. Er bot Kalas keine Tasse an, sah ihm nicht mal ins Gesicht.

Unwillkürlich zuckte Kalas bei den heftigen Worten zusammen.
"Nein, natürlich nicht", beeilte er sich hastig zu sagen. "Ich glaube nicht, dass du viel redest, nur weil..."
Er hielt inne, atmete tief durch.
Er wollte sich nicht aufregen. Es tat seiner Gesundheit nicht gut, mittlerweile war es nahezu ein Garant für erneute Halsschmerzen.
"Man muss es nicht unbedingt erzählen, damit jemand es herausfindet", fuhr er ruhiger fort, starrte auf die eigenen Hände. "Und bei ihren Worten dachte ich einen Moment lang..."

"Kalas." Madeen hatte den falschen, ungläubigen Ton den man anschlug wenn etwas Offensichtliches angesprochen wurde. Er sah Kalas mit gespielter Überraschung an, während echter Schmerz in seinem Blick schimmerte. "Ich bin eine Hure, Kalas. Wie auch andere auf diesem Fleischmarkt."
Die Worte rissen ungeheilte Wunden erneut auf. Madeen spürte wie bittere Gram seine Kehle empor kroch.

Kalas schaute einen Moment lang verwirrt zu Madeen auf.
"Was hat das ..."
Er verstummte, schluckte befangen.
Dann fragte er langsam:
"Wissen sie es alle?
Einfach weil ... weil sie uns zusammen gesehen haben?"

"Nein. So läuft das nicht." Madeen verschränkte die Arme. "Wenn du ein Kunde wärst, der mehr als nur Karten legen von mir will, dann würdest du nicht zu mir kommen sondern mich zu dir schaffen lassen."
Hoffentlich würde das die Aufsteigende Panik in Kalas' Augen dämmen. Es schmerzte nämlich schrecklich ihn so scheu zu sehen, bereit zur Flucht.
"Aber ich glaube kaum, dass meine Wenigkeit der Anlass für Euer ergrauendes Haar ist."

Kalas konnte kaum erleichtert aufatmen, das befreiende Gefühl zu genießen, nicht verdächtig zu sein, ehe er mit dem nächsten Reizthema überfallen wurde.
"Nein", antwortete er, eine Spur defensiver als beabsichtigt, "der Grund für mein ergrauendes Haar ist mein zunehmendes Alter."
Er stellte sich vor, was Madeen wohl sagen würde, erführe er nun die Wahrheit. Würde er ihn bemitleiden? Die Sache spöttisch abtun? Oder etwas ganz anderes tun, womit Kalas nicht lächelte.
Aber es spielte ohnehin keine Rolle. Diese Bürde musste er alleine tragen.
"Und vielleicht", seufzte er, mit milderer Stimme und etwas traurigen Augen, "die Lasten, die ein Leben als Lord mit sich bringt."
Er lächelte wehmütig, schaute eine Sekunde lang Madeens Ohren an.
"Aber das ist sicher beides etwas, was du nicht kennst."

Wut vibrierte in Madeens ganzem Körper wieder, ließ seine Haut heiß und prickelig und fahl werden, sammelte sein Blut sich doch in seinem Bauch, zu einer einzigen glühenden Kugel.
"Oh, Verzeih Lord, ich vergaß wie anstrengend es ist Papiere zu unterschreiben, während wir niederen Sterblichen unsere tägliche Mahlzeit mit so etwas profanem wie Zwangsarbeit verdienen müssen. ", war seine Stimme vorher zuckersüß und eiskalt gewesen, so wurde sie nun dunkel vor Wut, grollte wie ferner Donner. "Natürlich ist es mir unbekannt, wer bin ich auch, dass ich, ICH niedere Hure einen LORD auch nur beurteilen dürfte. Nein. Euer Leben ist mir gänzlich unbekannt."

Kalas’ Lächeln erstarb unter Madeens harschen Worten.
In diesem Moment hätte er nichts lieber getan, als ihm alles zu erzählen.
Wie es war, zu wissen, dass er mit einem Wort oder einer Unterschrift das Schicksal ganzer Familien besiegelte.
Dass er über die Scherze Anderer lachen musste, wenn ihm traurig und elend zumute war.
Dass er über Ungerechtigkeiten hinwegsehen musste.
Dass er selbst dann stark sein musste, wenn er vor Schwäche zitterte.
Dass er entscheiden musste, was das Richtige war, wenn er zwischen zwei Übeln zu wählen hatte.
Dass sein eigenes Glück stets eine Nebenrolle spielte.
Dass er heimlich vor sich hinstarb, von einer Krankheit verzehrt wurde, die er vor der Welt geheim hielt.
"Verzeih", wisperte er stattdessen, ohne Madeen anzuschauen. Das hätte er nicht ertragen, er fühlte sich jetzt schon, als würde er zerbrechen "Meine Worte kamen unbedacht."
Denn wie konnte er all das jemandem begreiflich machen, der sich verdingen musste, nur um am Leben zu bleiben?
Den man in einen Käfig sperrte, wenn er wagte, sich zu widersetzen.
"Du hast Recht... ich bin derjenige, der nichts weiß."

Es fühlte sich nicht wie ein Sieg an. Viel mehr, als hätte Madeen ein Messer gezückt und Kalas nur noch mehr verletzen. Er atmete tief durch, zittrig und schwach. Schließlich massierte er sich die hämmernden Schläfen, er schluckte, schüttelte den Kopf und ließ sich kraftlos auf eines der großen Sitzkissen nieder.
Bei den Göttern, was sollte er tun?
"Ich bin es leid. Ich bin dieses ganze, verdammte Leben leid und es wringt jede Freude aus meinem Körper." Madeens Worte waren schwer, wurden überzogen von seinem bleischweren Akzent. "Nein Kalas, keiner von uns hat Recht oder Unrecht."

Stumm saß Kalas da, wollte Madeen in die Arme schließen, doch es war, als kam der Gedanke nicht in seinen Muskeln an. Er wurde aufgehalten, von Zweifeln, von Angst.
Also erhob er wieder leise die Stimme, nahm das Risiko auf sich, ein Thema anzusprechen, was den Wahrsager wieder verärgern würde:
"Madeen... letztes Jahr hast du mich gefragt, ob ich... ob ich mich vor dir ekele, weil du dich verkaufst.
Und du scheinst das immer noch zu glauben."
Er schaute ihn endlich wieder an, suchte den Blick seiner müden, blauvioletten Augen.
"Aber das ist nicht wahr.
Du tust was in deinen Möglichkeiten stehst, um eines Tages frei zu sein... und ich bewundere, wie stark dein Wille ist."

Ein Lächeln huschte über Madeens Lippen, erreichte nur kurz seine Augen. Er seufzte schwer und griff nach seiner Teetasse, nippte an der Flüssigkeit. Zu hören, das Kalas sich nicht für ihn ekelte war zumindest beruhigend zu wissen.
"Aye, ich tue was ich kann. Und ich tue es nicht gerne."

"Ich kenne das Gefühl", murmelte Kalas, ehe ihm bewusst wurde, dass man diesen Satz falsch verstehen konnte, und er eilig hinzufügte: "Das Gefühl, Dinge zu tun, weil man sie tun muss, obwohl sie mir nicht gefallen. Obwohl ich das natürlich nicht mit damit gleichsetzen könnte, meinen Körper zu verkaufen..."
Seine Stimme erstarb, er fixierte einige Momente lang die Teekanne an.
Dann fragte er etwas nervös:
"Habe ich dir eigentlich schon einmal erzählt, dass ich... dass ich meine Unschuld an einen Jungen verloren habe, der dafür bezahlt wurde?"

Madeen stockte, die Teetasse noch halb in der Luft, beinahe seine Lippen berührend. Es dauerte einige Zeit, bis Kalas' worte durchsickerten, dann jedoch wurden seine Augen groß und rund, die Tasse zitterte in seinem Griff, er musste sie abstellen. Madeens ganzer Körper vibrierte. Leicht.
"Wirklich?"

"Ja, wirklich."
Röte kroch unter Kalas’ Wangen. Es war das erste Mal, dass er jemandem von Luca erzählte. Von einem der größten Fehler seines Lebens.
"Ich war jung damals ... gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt. Ich stand kurz vor meiner Hochzeit."
Seine Stimme wurde unwillkürlich schneller, die Worte brachen aus ihm hervor.
"Ich hatte mein ganzes Leben bis dahin damit verbracht, zu leugnen, dass Männer mich anziehen.
Und dann lief ich eines Tages durch diese kleine Straße, er kam auf mich zu, berührte mich und ..."
Sein Gesicht brannte und er nestelte nervös an seiner Halsbinde.
"Ich war ein Narr.
Ich glaubte, ihn zu lieben und gab ihm eine Stelle als Dienstbote, damit er nicht mehr auf der Straße arbeiten musste.
Und als dann Gerüchte darüber auftauchten ... musste ich ihn wieder fortschicken."

"Es...tut mir leid", brachte Madeen noch hervor, ehe er vom unterdrückten Lachen geschüttelt wurde, seine Augen glitzerten vor Tränen des Lachens. "Verzeih, bitte, sei nicht böse aber..."

Kalas senkte den Blick.
"Ich bin dir nicht böse", antwortete er leise. "Es ist eine dumme Geschichte."
Wahrscheinlich war ein herzhaftes Lachen für einen Außenstehenden die einzig mögliche Reaktion darauf.

"Keineswegs." Madeen schluckte das Lachen runter und legte sacht eine Hand auf Kalas'. Eine besänftigende Geste, zumindest war sie als solche gedacht. Er lächelte sanft. "Es ist eine grausame Ironie. Es ist das Leben, Kalas. Das ist nun mal eine gerissene Schlampe."

"Wie meinst du das?", fragte Kalas, indem er den Kopf schieflegte. Seine Hand behielt er, wo sie war - unschuldige Berührungen machten ihm nichts. Gefielen ihm sogar irgendwie.

"Machst du dir deswegen solche Sorgen darum, ob ich mein Schandmaul auf mache oder nicht?" Madeen leckte sich die Lippen, seine Mundwinkel zuckten kurz hoch und entspannten sich dann wieder. Sacht strich er mit den Fingerspitzen über Kalas' Haut, malte unsichtbare Muster auf dessen Handrücken. "Hm, wenn es meinem Kapital nicht derart schaden würde, dann würde ich dir meine herausgeschnittene Zunge als Beweis bringen."

Kalas entspannte sich wieder ein wenig, lachte leise.
"Deine Zunge darfst du gerne behalten, auch wenn sie reichlich spitz ist.
Ich glaube dir auch ohne dass du sie abschneidest."
In etwas ernsterem Tonfall fügte er hinzu:
"Aber ja ... das ist der Grund, warum ich Diskretion wünsche.
Ich habe gesehen, was es auslösen kann, wenn es zu wenig davon gibt."
Sein Blick verhärtete sich ein wenig.
"Zumal es mich mittlerweile auch ins Gefängnis bringen könnte."

"Ich sagte von Anfang an, ich würde schweigen." Madeens Stimme wurde ein wenig härter, er zog seine Hand zurück. Es war seltsam, eben noch war er bereit gewesen jeden Wunsch von Kalas' Augen abzulesen, Hauptsache er würde ihm dessen Vertrauen zurück bringen, nun fühlte er sich, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. "Und ich wiederhole mich ungern. Aber. Ich. Werde. Schweigen."

"Das weiß ich", antwortete Kalas ruhig, nicht weniger ernst als zuvor.
"Würde ich dir das nicht glauben, wäre ich nicht wieder zu dir gekommen."

Die Stille lag schwer auf ihnen, nach Kalas' Worten sprach keiner mehr etwas, einzig die Geräusche von Draußen drangen dumpf und fern in das Zelt. Madeen mahlt mit den Kiefern, nachdenklich, Angestrengt.
Letztendlich wusste er nicht, was er noch sagen sollte, was er erlaubt war zu tun und womit er Kalas nur wieder verscheuchte.

Das Schweigen war beinahe noch schmerzhafter, in jedem Fall aber erdrückender als Madeens schneidende Worte.
Kalas kehrte jedes Jahr zurück, jedes Jahr aufs Neue, aus reiner Sehnsucht und dem Hauch von Hoffnung, es könnte wieder alles so werden wie früher. Und manchmal hatte er sogar den Eindruck, es wäre schon im Begriff werden.
Aber dann, wenn die Worte schließlich erstarben und die Zunge in seinem Mund wie ein Stein lag, fühlte es sich an, als würde eine unendlich dicke Mauer zwischen ihnen liegen.
Er hätte Madeen gerne verziehen. Er spürte, dass er bereute, was er getan hatte. Dass er nicht geahnt hatte, wie sehr er damit verletzt hatte.
Aber Kalas konnte nicht vergessen.
Und er hatte Angst davor, dass es längst zu spät für einen Neubeginn war. Dass dieses Schweigen auch bleiben würde, wenn sie sich einander wieder zuwandten. Oder dass Madeen in ihm nicht mehr sehen würde, als einen weiteren Freier, dessen Lust es zu stillen galt, unentgeltlich aus Mitleid oder aus Schuldgefühl. Dass er ihn zurückweisen könnte.
"Madeen", begann er schließlich, denn er ertrug die Stille nicht mehr, "möchtest du immer noch, dass ich dich besuche?"

Vorsichtig blickte Madeen vom Teesatz am Boden seiner Tasse auf, den Blick wachsam und auf jede Form vom Hinterhalt gefasst.
"Ja. Ja, will ich."

Man sollte keine Versprechen abgeben, von denen man nicht wusste, ob man sie halten konnte.
Dennoch nickte Kalas und sagte:
"Gut. Dann werde ich auch nächstes Jahr wieder kommen, wenn mich nichts davon abhält."
Und bis dahin, das schwor er sich, würde er herausgefunden haben, was er selbst wollte.

"Dann freue ich mich schon darauf. ", erwiderte Madeen ehrlicher als er selbst gewollt hatte. Er spielte mit seiner leeren Tasse, musste sich irgendwie beschäftigen. Dann jedoch glitt ein schwaches Grinsen über seine Lippen. "Vielleicht sollte ich dann aber nicht wieder vom Seil fallen. Ihr schient ernsthaft erschrocken.“

Kalas lächelte stumpf. Er hatte gehofft, diesen Schrecken fürs erste vergessen zu haben.
"Das war ich auch.
Immerhin ist meine Frau durch einen Sturz ums Leben gekommen."

"Ah." Madeen sah zur Seite und seufzte schwer. "Ich hörte davon.“

Kalas’ Augen verdunkelten sich, seine Lippen nahmen einen bitteren Zug an.
"Was hast du gehört?", fragte er leise.
Man hatte damals viel erzählt, auch viel Unwahres.
Man hätte erwarten können, dass Estrellas Sturz von einem Balkon am helllichten Tage ein recht eindeutiges Ereignis gewesen wäre. Und auch, dass jenes Jahr genügend Zwischenfälle geboten hätte, über die Gespräche lohnenswert gewesen wären.
Aber das war offenbar ein Trugschluss gewesen, denn diverse Gerüchte hatten sich beharrlich gehalten:
Dass es ein Komplott des jungen Lord Ashsteel sei, um zu verhindern, dass ein Teil seines Reichtums jemals in die Hände der Lockhalls viel - denn schließlich waren sowohl Estrella Dewside als auch Lady Odessa Ashsteel gebürtige Lockhalls gewesen.
Dass Estrella eine Eingebung, eine Vision über den kommenden Sturm und die Verwüstung der Stadt gehabt hatte und dadurch in den Wahnsinn getrieben worden war.
Aber die beliebteste Geschichte war noch immer die eine gewesen, welche zwar vollkommen der Unwahrheit entsprach, unglücklicherweise aber auch am bodenständigsten war:
Dass Kalas Dewside selbst seine Gemahlin ermordet habe, nachdem sie von seiner Affäre mit einem Dienstboten erfahren und gedroht hatte, diese der Öffentlichkeit preiszugeben...

"Ich hörte nur, dass sie sich in den Tod gestürzt hatte." Madeen fuhr zurück, die Hände abwehrend gehoben. Es kostete ihn einiges an Selbstbeherrschung, Kalas nicht wegen dessen Ton anzufahren. Er erhob sich und schritt auf den Vorhang zu, der Geschäft und privaten Wohnbereich trennte. "Ich gebe nichts auf Gerüchte und ich setze keine in die Welt "

"Dieses Gerücht ist die Wahrheit", antwortete Kalas sanft. Es lag keine Kraft in seinen Worten, in seiner Stimme, nicht einmal Traurigkeit. Nur eine unendliche Müdigkeit. "Der Tod war einem Leben mit mir vorzuziehen."
Er räusperte sich und stand ebenfalls auf.
"Ich sollte gehen.
Es ist keine Art, dich mit diesen Geschichten zu belästigen."

"Du musst nicht gehen." Madeen sprach sein Angebot nicht aus, nicht laut. Er blieb passiv und zaghaft, ließ Kalas entscheiden ob er die vage Hoffnung hörte oder nicht.

Der Blick in Madeens Augen bewegte Kalas beinahe zum Bleiben.
Er sah darin keine Arglist, nur einen aufrichtigen Wunsch.
Es waren nicht die Augen, die Kalas verführt hatten, sondern die, in welche er sich verliebt hatte.
"Ich muss jetzt fort..."
Er wandte sich ab und machte sich auf den Heimweg.
Was nutzte es ihm, zuzulassen, dass er Madeens sanfter Seite verfiel, wenn er nicht wusste, ob er die raue ertragen könnte?

Das Kalas sich abwandte war ebenso vorhersehbar wie herzzerreißend. Madeen schluckte schwer und trat dann durch den Vorhang, schürte die Kohlen seiner Pfeife an. Er brauchte jetzt den süßen Tabakgeschmack, dringend, sonst würde er schreien und etwas tun, das mehr als nur Reue hervorrufen würde.






zuletzt bearbeitet 07.09.2015 14:53 | nach oben springen
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RE: 01. Fallende Seiltänzer

in Sommer 528 07.09.2015 14:54
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Seufzend schälte Suraya sich aus ihrem halbdurchsichtigen Kleid, welches eng um ihre braune Haut anlag.
Eigentlich war es nicht das Kostüm ihrer Wahl gewesen, doch sie war von einem Herren mit offenbar zu viel Geld im Beutel gut bezahlt worden, es heute bei ihrem Tanz zu bezahlen, also hatte sie darin getanzt. Und obwohl es weniger komfortabel gewesen war, als ihre gewöhnliche Gewandung, hatte es dem Publikum anscheinend sehr gefallen, also hatte sie sich für diesen einen Abend nicht daran gestört.
Was aber weitaus weniger erfreulich gewesen war, war die Tatsache, dass dieser Bastard offenbar geglaubt hatte, er hätte sie für mehr als diesen einen Gefallen bezahlt. Nach dem Auftritt hatte er Suraya nachgestellt, trotz ihrer zunehmend kühleren Antworten versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Als er dann nach ihrem Hintern gegrabscht hatte, war ihr die Geduld ausgegangen und sie hatte ihm mit dem Knie derart heftig in die Magengrube getreten, dass sie bereut hatte, nicht tiefer gezielt zu haben, denn das hätte ihm sicher für den Rest seines Lebens jegliche Freude an weiblicher Gesellschaft und außerdem jede Chance auf Nachkommen genommen.
Dummerweise hatte das zur Folge gehabt, dass Andere auf die Sache aufmerksam geworden waren. Sie war zu ihren Sklavenhaltern - wie sie die Jahrmarktleitung liebevoll nannte - gebracht worden, hatte sich dort rechtfertigen müssen und Zurechtweisungen über sich ergehen lassen. Zum Schluss hatte man ihr mitgeteilt, dass ihre Schulden wieder gestiegen waren, aufgrund des Aufwandes, der durch sie entstanden war. Suraya war sicher, dass es nur ein Vorwand war, aber diese Leute nahmen nun einmal alles als Vorwand. Erhobenen Hauptes und mit wiegendem Hintern - einen Teil von ihr, den keiner von ihnen jemals besitzen würde, obwohl einer tatsächlich einmal versucht hatte, sie dafür zu bezahlen - war sie schließlich davongezogen, hatte ihren Zorn nur mit großer Mühe unter der Oberfläche halten können.
Und nun war der Abend spät und sie zurück in ihrem Zelt, alleine mit ihrer Langeweile, denn einen Gefährten für die Nacht hatte sie nach dem Drama selbstverständlich nicht finden können.
Also schlüpfte sie nun in bequemere, gut für eine warme Sommernacht wie diese geeignete Kleidung - einen dunklen Rock, der bis zu ihren Knien reichte und ein ebenso dunkles Oberteil, welches ihre Arme freiließ und ihre Brüste immerhin so weit bedeckte, dass die Spitzen bei einer unbedachten Bewegung nicht sichtbar werden würden - und schnappte sich eine Flasche Brombeerschnapses, ehe sie sich wieder nach draußen begab.
Madeens Zelt war nicht weit von ihrem eigenen entfernt und sie bezweifelte, dass sie stören würde. Falls er Besuch hatte, würde sie sich einfach dazu gesellen, zumindest, wenn es sich bei diesem Besuch um einen hübschen Mann handelte ...
"He, Mad, bist du da?", rief Suraya, als sie das Tuch am Eingang des Wahrsagerzeltes zur Seite schob und eintrat.

"Komm rein", war die kurz angebundene Antwort von drinnen, begleitet von süßem Rauch und dem leisen Rascheln von Karten, die gemischt wurden. Madeen saß in seiner Alltagskleidung, jener abgerissenen Hose und der offenen Weste, welche einen sehr guten Blick auf seinen trainierten, sehnigen Leib gab, auf dem Kissen hinter dem niedrigen Tisch, das Mundstück der Pfeife in der einen, die gemischten Karten in der anderen Hand. Er wirkte zudem abwesend, als grüble er über etwas nach.

Suraya setzte sich, stellte die mitgebrachte Flasche auf dem Tisch ab und hielt einen Moment inne, um einen bewundernden, anzüglichen Blick über Madeens freiliegende Haut gleiten zu lassen. Dann wandte sie sich wieder dem Schnaps zu, zog den Korken und nahm einen tiefen Schluck.
"Manche Kunden sind so anstrengend", seufzte sie und reichte die Flasche weiter.

"Hmh..." Abwesend griff Madeen nach der Flasche und nippte daran, starrte mit nachdenklichem Blick auf die Karten. Dann jedoch schien er abrupt zurück in die Realität zu schnellen, verschluckte sich an dem scharfen Schnaps und beugte sich hustend, würgend zur Seite.

"Oh, verzeih", spöttelte Suraya mit einem süffisanten Grinsen, "ist er mir zu stark für den kleinen Mann geraten?"
Kopfschüttelnd beobachtete sie Madeen dabei, wie er keuchte und hustete, als sei er am Ersticken.
"Hat dein Freund dir derart den Kopf verdreht, dass du dich nichtmal aufs Trinken konzentrieren kannst?"

Einen giftigen Blick in ihre Richtung abschießend, wischte Madeen sich über die Lippen und setzte sich auf, zog an seiner Pfeife und blies ihr duftende Rauchkringel entgegen.
"Du bist so giftig und gehässig wie eine Kobra. Hat wieder einer deiner Kunden versucht deine Rundungen zu erkunden?"

"Ah, eine Kobra", erwiderte Suraya, in den dunklen Augen lag ein schwärmerischer Glanz, als sie nach der dargebotenen Wasserpfeife griff. "Ich hätte mir eine für meinen Tanz anschaffen sollen, als dieser Händler sie mir damals angeboten hat~"
Sie führte das Mundstück an ihre Lippen, sog genüsslich daran.
Sie pustete ein Paar qualmende Ringe in die Luft.
Sie seufzte.
"Ja, genau das ist passiert. Was mich aber eher wurmt ist, wie diese Arschlöcher damit umgehen, dass ich meine Runden verteidige."

"Hm." Madeen unterband den bitteren Kommentar der auf seiner Zunge lag. Er musste die Stimmung nicht noch mehr hinab ziehen. Einen Moment lang, da spielte er nur mit dem Mundstück der Pfeife, dann jedoch legte er sie zur Seite und seufzte. Fuhr sich durch das Haar. Sein Kopf war kurz davor zu bersten und weder Alkohol noch Tabak konnten den Tumult in seinem Inneren besänftigen.

"Meine Güte", bemerkte Suraya und gönnte sich einen weiteren Schluck des süßlich-scharfen Getränks. "Ist alles in Ordnung mit dir?
Du siehst aus als hätte dir jemand erzählt, dass du dein bestes Stück nie wieder benutzen kannst.
Haben die Karten dir etwas Böses gesagt?"

"Alles...in Ordnung", antwortete Madeen ruhig, überging ihren Sarkasmus geflissentlich. Stattdessen griff der Wahrsager nach dem Schnaps, trink einen großen Schluck und wischte sich über den Mund. Das Zeug brannte wie die Hölle.

Schön, dann ziehe ich dir eben alles nach und nach aus der Nase.
Madeen war selbst schuld, ihre Neugierde derart zu kitzeln.
"Oder", fragte Suraya mit blitzenden Augen, "wurdest du von deinem Lord versetzt?"

"Hmh." Madeen spielte mit der Flasche, ehe er auf sah. "Wohl eher verzeiht er nur langsam."

"Ach wirklich?"
Suraya bemühte sich, in diesem Moment ernst zu bleiben. Es schien ihr sinnvoller - zumal es Madeen selbst ungewöhnlich ernst war.
Den Spott könnte sie sich aufheben, für den Fall, dass er nicht weiterreden würde.
"Was gäbe es denn zu verzeihen?"

"Ich hatte einen dummen Einfall ", Madeen seufzte tief und vergrub die Hände in seinem Haar.

"Oh?"
Suraya runzelte die Stirn. Madeen hatte seine Launen, wie jeder andere Mensch auch.
Es war dennoch ungewohnt - um nicht zu sagen: merkwürdig - ihn so bedrückt zu sehen. Noch dazu über einen Fehler, den er jemand anderem gegenüber begangen hatte.
Sie hatte eigentlich nie den Eindruck gehabt, dass er sich besonders darum scherte, ob er jemanden verletzte oder nicht.
"Was für einen denn?"

"Ich hab sein Vertrauen missbraucht", murmelte Madeen und kam sich im selben Atemzug lächerlich vor. Das gleiche hatte er oft, sehr oft getan und nie hatte jemand ein Wort der Entschuldigung von ihm dafür gehört. Abgesehen von Suraya. Sie schien er wohl ernsthaft zu schätzen.

"Und bei ihm tut es dir leid?"
Suraya entwand seinen Fingern sanft die Schnapsflasche, hob dabei eine Braue.
"Weil du etwas so schlimmes getan hast oder weil dir so viel an ihm liegt?"
Beides wäre bedauerlich. Suraya war jung, viel jünger als Madeen, und manchmal waren sie einander Feuer und Eis oder Feuer und Wasser oder welche Parallele zu den Elementen man auch immer ziehen wollte... doch sie betrachtete ihn als Freund. Auch, weil sie ihn, was Angelegenheiten des Herzens betraf, stets als ähnlich zynisch, als ähnlich kompromisslos wie sich selbst eingeschätzt hatte.

"Woher soll ich das wissen?" Madeen erhob sich, schnaubte zornig und verächtlich. Er wandte sich ab, ging auf und ab in dem Zelt. "Keine Ahnung, ist doch eigentlich unwichtig."

"Es ist nicht unwichtig, wenn du dafür das Fortbestehen deines Lebens und deiner Männlichkeit aufs Spiel setzt, indem du mich 'Vigi' nennst."
Lasziv lächelnd streckte Suraya sich und fügte hinzu:
"Eigentlich hätte ich nach so einer Beleidigung verlangt, dass du mir eine Nacht lang voll zur Verfügung stehst, damit ich dir vergebe und dich verschone.
Aber ausnahmsweise reicht es diesmal, dass du mir erzählst, was passiert ist."
Sie interessierte sich bei dieser Geschichte eher dafür, dass ihre Neugierde gestillt wurde, als ihre Lust.

"Was?", Madeen wandte sich um, widerstrebend und widerwillig. Er fuhr sich erneut durchs Haar. "Ich hab heute keine Lust auf Bettspiele. Und die Geschichte ist schnell erzählt. Ein Lord, den ich näher kennen gelernt habe und der mir wohl irgendwie nah gekommen ist."

"So viel habe ich mir auch schon gedacht", antwortete Suraya.
Sie reichte die Flasche an Madeen weiter, denn sie hielt es für wenig förderlich, mehr zu trinken als er.
Schließlich sollte sich seine Zunge lösen, nicht ihre.
"Aber was hast du ihm angetan?
Sonst bist du doch sehr gut darin, die Leute im Bett zu behalten, die du einmal reingelassen hast."

"Ich habe...Scheckenlöwenpulver in sein Tee gemischt." Madeen knirschte mit den Zähnen. Wie dumm er doch gewesen war, davon ausgehend, dass Kalas durch mehr Körpermasse und Größe eine höhere Dosis als er selbst benötigte. Doch hatte in seiner ach so genialen Gleichung nicht daran gedacht, dass der Lord keinerlei Erfahrung hatte und dementsprechend empfindlich auf das Mittel reagierte.

"Oh..."
Suraya schwieg einen Moment lang, ehe sie die Implikationen des Satzes begriff.
"Oh!"
Sie hatte etwas ähnliches selbst einmal getan. Allerdings mit einem Mann, den sie danach nie wieder gesehen hatte, am Abend vor ihrer Abreise aus der Stadt und mit der Zustimmung ihres Liebhabers.
Wie geplant hatte er sie die ganze Nacht lang wachgehalten und sie war dementsprechend müde und glücklich gewesen. Er war allerdings davongewankt wie eine wandelnde Leiche. Mit Sicherheit hatte er es weniger genossen als sie und war vielleicht auch auf dem Heimweg an Erschöpfung gestorben - wer wusste das schon?
Allerdings hatte er sich auch freiwillig darauf eingelassen. Oder besser gesagt: begierig auf ihr scherzhaftes Angebot gestürzt.
"Hast du... hast du dich bei ihm entschuldigt?"

"Das tue ich seit drei Jahren", erwiderte Madeen trocken und lächelte Suraya an, doch mit seinen Gedanken war er nicht ganz hier. Deutlich konnte man das in seinen Augen erkennen, die im Moment eher blau als violett wirkten. Abwesend glänzten. "letztes Mal hat er mich bei...den Vorbereitungen erwischt. Und erfahren dass...nennen wir es, mein Gehalt etwas aufstocken. Und davor das Jahr kam er wutschnaubend hier rein und beschimpfte mich, ich hätte seinen Neffen, einen Jungen von...was...zehn, elf? Jahren angefasst."

"Und dieses Jahr hat er zumindest sehr erschrocken in die Gegend geschaut, als du vom Seil gefallen bist", gab Suraya nicht minder trocken zurück.
"Klingt eindeutig nach einem Fortschritt."
Sie schnappte sich den Schnaps. Trinken half immer, wenn es darum ging, Lösungen für derartige Probleme zu finden. Selbst wenn es dafür sorgte, dass ihre Stimme unklarer und ihr Vokabular vulgärer wurde.
Nach einem gewaltigen Schluck, der die Flasche halb leer und selbst ihre daran gewöhnte Kehle mit einem brennenden Gefühl zurückließ, fuhr sie fort:
"Aber er kommt dich noch immer jedes Jahr besuchen?
Fickt er dich noch?"

"Nein. Abgesehen von den notgeilen Käufern fickt mich niemand und ich ficke niemanden", erwiderte Madeen mit halbem Grinsen. Dann entriss er Suryara die Flasche, trank mehrere kleine Schlucke. Seine Augen glänzten leicht fiebrig, er war angetrunken. Aber nicht Betrunken. "Und du? Wieder jemand neuen gefickt?"

"Hah.
Nicht heute."
Zorn brodelte in Surayas dunklen Augen und sie nahm den Schnaps unsanft wieder an sich, um die Wut damit zu ertränken.
"Diese Bastarde haben mich so lange festgehalten, dass schon alle weg waren, als ich aus ihrem Zelt kam."
Sie wischte sich den Mund und reichte die Flasche wieder zurück.
"Aber lenk mal nicht vom Thema ab... du musst echt frustriert sein, wenn von allen älteren Herren nur der eine es dir nicht besorgt, der es dir besorgen soll.
Warum nimmst du bei deinem nächsten Besuch nicht auch das Pulver? Dann seid ihr wenigstens quitt."

"Ich nehme das Pulver schon", antwortete Madeen leise. "Wenn ich mich verkaufe wie eine billige Straßenhure."

"Solange du nicht bezahlt wirst wie eine billige Straßenhure ..."
Nachdenklich spielte Suraya mit einer ihrer schwarzen Locken, als könnte sie darin die Antworten auf alle Fragen finden, die sich ihr in diesem Moment stellten.
"Weiß er, was du von ihm willst?"

Madeen antwortete nicht. Er wusste es nicht. Vermutlich aber, so ahnte er, wusste Kalas es nicht. Woher denn auch, stellte der Wahrsager doch sicher, nie zu viel Einblick zu geben.

Seufzend rieb Suraya sich die Schläfe.
"Du kannst so ein Scheißidiot sein, Mad, weißt du das?"
Es war schlimm und schwierig genug, mit eigenem Liebeskummer umzugehen.
Mit dem anderer Menschen war es noch frustrierender.

"Und du eine verfluchte Zicke", giftete der Wahrsager zurück und bleckte die weißen, makellosen Zähne in einer Grimasse aus Stress und Unwillen zu reden.

"Ja, ja, ich weiß", antwortete Suraya und machte dabei eine abwinkende Handbewegung. "Und eine Schlampe und eine Kobra, so weit waren wir schon."
Sie zog in Erwägung, noch etwas Ernsthaftes hinzuzufügen, doch da Madeen nicht an einem solchen Gespräch interessiert zu sein schien ...
Ein breites Grinsen legte sich auf ihre vollen, dunklen Lippen.
"Sag mal ... wenn du ihn im Augenblick nicht benutzt, hast du doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich an ihm bediene.
Wer weiß, wie lange der noch hübsch bleibt."

War Madeens Blick vorher schon wütend gewesen, nun glich er mehr denn je einer rasenden Rachegottheit. Bereit sofort zu den Waffen zu greifen und Suraya das Herz im Notfall mit einer stumpfen Nadel auszureißen.
"Ich glaube nicht", zischte Madeen leise, sehr leise. Neben dem rasenden Zorn war noch ein winziges bisschen von... Eifersucht in seinem Blick. "Lass die Finger von ihm.“

Suraya schaute ihn einen Moment lang stumm und prüfend an.
Dann lachte sie und stand auf.
"Nimm dich doch nicht so ernst, Schätzchen.
Ich werde ihn dir schon nicht wegnehmen."
Sie trat näher an Madeen heran, vollkommen unbeeindruckt von seiner Wut.
"Aber wenn du ihn behalten willst, solltest du etwas dafür tun.
Sonst sucht er sich selbst jemand anderen."
Sie beugte sich vor und küsste seine Wange. Eine freundschaftliche, besänftigende Geste - mit eine der nettesten, zu der sie fähig war und die dementsprechend wenig Menschen zuteilwurde.
"Gute Nacht.
Kannst den Schnaps alleine austrinken, ich will nicht mehr."
Und dann verschwand sie hinaus in die Nacht.

Madeens Miene wurde weicher, er sah Suraya nach, der Blick erst weicher, dann traurig. Er nahm den Schnaps, drehte die Flasche zwischen den Händen. Er schloss die Augen und seufzte.
"Das tue ich doch schon... "






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