01. Hennabemalung
Sie hatten ihn gesucht. Überall im Haus, im Garten. Oscar und Elaine waren sogar im Viertel herum gelaufen, hatten den Ausreißer in allen Ecken und Winkeln gesucht.
Tatsächlich aber torkelte Brent kurz nach dem Mittag in das Haus. Er roch nach Alkohol, scharf und lief sehr steif. Als er sich auf einen weichgepolsterten Stuhl nieder ließ, stieß der schlaksige Junge ein Zischen aus, rutschte unruhig hin und her. Sein Hals wies dunkle, violettschwarze Flecken auf.
"Mir geht es gut, Oscar", erwiderte Brent energischer als sonst, wischte auch Elaines Besorgnis zur Seite. "Ich war auf dem Jahrmarkt."
Geistig abwesend spielte er mit einer Münze, einer goldenen, voller Kratzer. Er ließ sie auf dem abgestoßenen Rand drehen und kreiseln, stoppte das kratzige Geräusch in dem er die Münze wieder fest hielt.
"Brent!" Oscars Frage nach dem Was war in dem verklärten Blick des Jungen untergegangen. "Ich war auf dem Jahrmarkt", wiederholte er ruhig, lächelte und fuhr zusammen als er sich ungeschickt bewegte. "Bei diesem...Merc… Markeen?"
Kalas hatte stumm daneben gestanden, Brent mit zunehmender Besorgnis, Angst betrachtet. Und auch mit unterschwelligem Zorn.
Schließlich hockte er sich vor seinem Neffen hin, schaute ihm ernst in die Augen und sagte ruhig:
"Erzähl mir bitte, was passiert ist. Ich werde nicht böse sein."
Er bedeutete Oscar mit einem Seitenblick, Elaine hinauszubringen.
Dann schaute er wieder Brent an, nahm ihm gleichzeitig die Münze aus der Hand. Er hatte sie lange nicht mehr gehalten, doch natürlich erkannte er sie. Wie könnte er sie jemals vergessen? Oder ihre Bedeutung?
"Wie sah der Mann aus, der dir das gegeben hat?
Und was hat er mit dir gemacht?"
"Er war recht nett." Brent lächelte, versuchte etwas zu überdecken. Seine Finger versteiften sich, als die Münze so aus seiner Hand genommen wurde, dann auch noch als Elaine von Oscar aus dem Raum geführt wurde. Sein Blick richtete sich auf seinen Onkel, er rutschte unruhig auf und ab, griff sich an den Hals, als wollte er die Flecken verbergen. "Schwarzes Haar, lila-blaue Augen. Er war sehr nett. Hat mich aufgeklärt, dass es wehtun könnte. Aber ich hab nicht einmal gezuckt!"
Kalas holte tief Luft, stand dann auf.
Er hatte genug gehört und er würde keinen Angriff, der auf ihn selbst gerichtet war, über Brent austragen. Er hatte damit gerechnet, dass Madeen die Angelegenheit nicht ruhen lassen würde, doch dass er zu solchen Mitteln greifen würde hatte er nicht erwartet. Nicht einmal von ihm.
Das war wohl sein Fehler gewesen.
"Bleib hier, Brent", sagte er sanft. "Ich kümmere mich um alles."
Als er hinaus in den Flur trat, bat er Oscar darum, einen Arzt zu suchen, und Elaine, bei ihrem Vetter zu bleiben.
Dann machte er sich auf den Weg zum Jahrmarkt, scherte sich nicht einmal darum, sein Äußeres noch einmal im Spiegel zu überprüfen.
Was kümmerte es ihn, das seine Haare offen und wirr waren, dass Mantel und Stiefel, eilig übergestreift, nicht zum Rest seiner Kleidung passten? Er hatte niemanden zu beeindrucken.
"Onkel!" Brent kam nicht einmal dazu, sein Hemd zu öffnen und Kalas zu zeigen, weswegen er eigentlich so lange fort geblieben war. Verlegen kratzte er sich am Nacken und seufzte schwer. "Och man... jetzt wollte ich ihm das Bild zeigen."
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RE: 01. Hennabemalung
in Sommer 526 07.09.2015 15:38von Glacies Citris • Herzog | 15.151 Beiträge
"...ich rate dir, die nächsten Stunden nichts Anstrengendes zu machen." Madeen wischte sich die farbverschmierten Hände an der Hose ab, strich ein letztes Mal sich eine Strähne seines zu lang gewordenen Haares aus dem Gesicht. Sein Kunde, ein junger Bursche nickte, erhob sich langsam und ließ sich helfen, sein Hemd anzuziehen. Der Stoff verbarg das Bildnis aus schwarzer Henna auf der Haut des Mannes.
"Besten Dank." Auf den Abschied des Kunden reagierte Madeen nur mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Letztes Jahr war so viel kaputt gegangen...es schmerzte ein wenig wieder hier zu sein. Vielleicht war es sein Glück, dass die Wahrsagerei erst später auf den Plan treten würde. Das Malen mit Henna war beruhigend.
Es war nicht schwer, den Weg zu finden. Kalas mochte einen Schlussstrich gezogen haben - oder zumindest hatte er dies geglaubt - doch das löschte nicht die Erinnerungen von sechs Jahren.
Was ihn dennoch ein bisschen überraschte, war dass er Madeen vor dem Zelt erblickte, in Hosen statt Roben gekleidet, die Haare zusammengebunden. Er hatte schien sich ansonsten kaum verändert zu haben, seit er ihn zuletzt gesehen hatte, abgesehen vielleicht von der etwas blasseren Hautfarbe - doch das konnte auch gut am Sonnenlicht liegen, welches an diesem Tag hell und schonungslos auf die Erde fiel.
Erst langsam, dann schneller trat Kalas näher heran, griff Madeen unsanft am Arm, damit er nicht weglaufen konnte. Das würde er nicht zulassen. Er würde nicht noch einmal den Fehler begehen, ihn zu unterschätzen.
"Wusstest du, dass er mein Neffe ist?"
Madeen fuhr heftig zusammen, er starrte aus großen, überrumpelten Augen auf. Sein Blick war einen Moment lang abwesend, fremd. Als würde er Kalas nicht erkennen, dann jedoch schlich sich neben dem Erkennen auch Furcht in die blauen Augen des Wahrsagers.
"Kalas?"
"Natürlich!", gab Kalas heftig zurück. "Dachtest du, ich würde nichts tun!?"
Schmerz und Zorn standen gleichermaßen in seinem Blick. Und er konnte sich nicht dagegen wehren, von einer gewissen Wehmut erfasst zu werden, als er daran dachte, wie oft er sich insgeheim danach gesehnt hatte, wieder von diesen Augen angeschaut zu werden. Natürlich hatte er sich einen Narren genannt, sich nach dem, was passiert war, noch nach diesem Mann zu verzehren und heute war er darin endgültig bestätigt worden.
Und es änderte trotzdem nichts an dem, was gewesen war, was noch immer an Spuren zurückgeblieben war.
"Ist das deine Vorstellung von Vergeltung!?", zischte er, leise, damit Umstehende nicht auf ihn aufmerksam wurden. "Dich an einem Kind zu vergreifen, weil ich deine Spiele nicht länger ertragen wollte!?"
"Bist du des Wahnsinns fette Beute?!", fauchte Madeen abrupt zurück, zerrte an seinem Arm und zischte als er sich nicht losreißen konnte. Er hatte einen Fehler gemacht, einen gewaltigen ja. Aber deswegen würde er sich doch... "Ich bin dreißig Sommer alt, warum sollte ich mich an Kindern vergreifen?! Ja, ich habe einen gewaltigen Fehler gemacht und ich würde alles tun um ihn rückgängig zu machen! Aber was du mir gerade vorwirfst... das habe ich nie getan!"
"Was hast du dann getan?", fragte Kalas scharf und zog aus der Tasche seines dünnen Sommermantels ein wohlbekanntes Geldstück hervor, hielt es Madeen direkt vor die Augen.
"Was hast du mit dem Jungen getan, dem du diese Münze gegeben hast?"
"Was zum..." Madeen starrte auf die Münze und verzog dann das Gesicht. "Ja, ich habe eine Münze ausgegeben. Der Junge kam heute Morgen, kurz nachdem ich mein Zelt aufgebaut hatte. Er wollte unbedingt eine Hennabemalung, obwohl ich ihn warnte, dass es brennen und schmerzen könnte. Er hatte zu viel Geld dabei, ich musste wechseln. Zufrieden?"
Er spürte, wie seine Augen sich seltsam trocken und heiß anfühlten. Madeen schluckte, mehrmals, hart und sah zu Boden, musste zittrig durchatmen. Verdammt, es tat weh, es tat so unendlich weh.
"Woher sollte ich wissen, dass der Junge dein Neffe war. Verdammt, ich will doch nur meine Schulden abarbeiten und jetzt ... jetzt soll ich dich schon wieder verletzt haben?"
Kalas erstarrte.
"Eine Hennabemalung ...?"
Es ergab Sinn. Vielleicht war es nichts als eine geschickte Lüge, aber sie ergab Sinn.
Lange starrte er Madeen an, versuchte, verräterische Zeichen in seiner Miene zu sehen, etwas gekünsteltes, doch seine Reaktion schien aufrichtig. Wut, Fassungslosigkeit über eine falsche Anschuldigung.
Kalas ließ seinen Arm los.
"Ich werde wiederkommen", sagte er leise und verschwand in der Menge.
Was sollte Madeen darauf noch antworten. Abgesehen davon, dass er sich vorkam wie ein getretener Welpe. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und atmete tief durch. Dann rief die Arbeit mit lauter Stimme nach ihm.
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RE: 01. Hennabemalung
in Sommer 526 07.09.2015 15:38von Glacies Citris • Herzog | 15.151 Beiträge
Das Hemd abgelegt posierte Brent vor dem Spiegel, zeigte spielerisch seinen sehnigen Leib und die wirren, verschlungenen Musterungen.
Was genau die ölig schwarzen Linien da stellen sollten, wusste Brent nicht, nur das sie toll aussahen und ihm ein verwegenes Aussehen gaben.
"Hey, Eli." Mit breitem Grinsen wandte er sich zu Elaine. "Seh ich nicht aus wie einer dieser Abenteurer aus unseren alten Büchern?"
Elaine verdrehte die Augen.
Brent war zwar ein Jahr älter als sie, aber manchmal hatte sie das Gefühl, er läge fünf hinter ihr.
"Du siehst aus wie ein Junge mit dummen, aufgemalten Mustern", erwiderte sie spöttisch und verschränkte die Arme, musterte ihren Vetter von ihrem Lieblingsplatz am Fenster des Salons aus. "Die richtigen Abenteurer sehen anders aus."
"Du bist doch nur neidisch." Lachend drehte Brent sich leicht, begutachtete die Wirbel, welche sich über seinen Rücken zogen, an einigen Stellen sogar an den Rippenbögen leckte. "Aber ich frag mich immer noch... Warum Onkel so blitzartig fort gelaufen ist."
"Er macht sich Sorgen", antwortete Elaine seufzend. "Er hat Oscar noch gesagt, dass er einen Arzt holen soll. Bestimmt dachte er, du bist verletzt ..."
Sie hatte ihren Vater noch nie derart aufgebracht gesehen. Außer das eine Mal, als sie sich vor zwei Jahren heimlich fortgeschlichen hatte, um auf dem Elefanten zu reiten.
"Warum hast du ihm nicht einfach gesagt, dass er dich nur angemalt hat?"
"Das wollte ich doch und dann ist er schon rausgerannt ", erwiderte Brent etwas schnippischer als sonst. Im Flur konnte man Oscar leise mit den gerufenen Arzt sprechen hören, wie er sich erkundigte, dass nichts passieren würde, dass mit Brent alles in Ordnung wäre. Es ließ seinen Nacken rot werden vor Peinlichkeit.
Elaine musste gestehen, dass seltsam war, wie schnell ihr Vater davongezogen war.
Normalerweise war er so geduldig, so ruhig. In ihrem ganzen Leben hatte er sie vielleicht ein oder zwei Mal auch nur angefahren, niemals geschrien. Die schlimmste Strafe, die man von ihm erwarten konnte, war ein enttäuschter Blick, begleitet von einer dazu passenden Rede. Es machte Elaine nervös, dass er so aufgebracht nach draußen gestürmt war. Irgendetwas konnte da doch nicht stimmen.
"Hoffentlich wird er nicht wieder krank ..."
"Hoffentlich nicht...", flüsterte Brent leise, streifte sich sein Hemd wieder über. Er kam sich wieder dumm und egoistisch vor, einfach so los zu stürmen. Umso erleichterter war der Junge, als er hörte wie Oscar im Flur den Lord des Hauses vorsichtig begrüßte.
Es dauerte nur wenige Momente, bis Elaines Vater wieder den Salon betrat.
Er nickte ihr kurz zu, schenkte ihr ein schmales Lächeln, aber sie konnte sehen, dass sein Blick etwas Gehetztes hatte.
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit auch schon Brent zu.
"Warum hast du es mir nicht gesagt?"
"Ich wollte, doch dann warst du schon wieder fort." Brent fühlte sich unwohl, sichtlich. Er wirkte nervös und musterte seinen Onkel wachsam. Wesentlich kleinlauter murmelte er noch. "Ich dachte, du würdest mich das verbieten..."
"Ich kann dir nichts verbieten, für das es bereits zu spät ist", antwortete Kalas kopfschüttelnd. "Und du weißt genau, dass ich ehrliche Antworten von dir verlange, wenn ich dir Fragen stelle.
Ich habe mir Sorgen um dich gemacht."
Einen Moment lang stand er still da, schaute Brent durchdringend an.
Dann sagte er:
"Bitte geh in dein Zimmer, ich möchte dich heute nicht mehr sehen.
Und nimm die Malereien nicht als Ausrede, dich heute Abend nicht zu waschen."
"Aber ich hab doch gar nicht gelogen ", begehrte Brent trotzig, zornig auf, ehe er murrend, unterdrückt grummelnd in sein Zimmer verschwand, etwas über die Ungerechtigkeit der Welt murmelte.
Seufzend drehte Kalas sich zu Elaine um.
"Du wusstest nichts davon, nicht wahr?"
Er erntete nur ein Kopfschütteln, aber ihr Blick war aufrichtig. Sie hatte nichts damit zu tun, davon war er überzeugt.
"Gut." Er schritt auf seine Tochter zu, strich sanft über ihre kastanienbraunen Locken, lächelte. "Oscar und Elesil werden mit dir auch noch den Jahrmarkt besuchen."
"Warum kommst du nicht mit?", fragte das junge Mädchen zögerlich. Elaine hatte ihn jedes Jahr gefragt. Es war fast schon zum Ritual geworden.
Weil es deinem Vater wehtut. Weil er schrecklich dumm war.
"Ich habe zu viel zu tun", antwortete er und wandte sich seufzend ab. "Es tut mir leid, Elisha."
Sie nickte erneut, murmelte leise:
"Verstehe..." Dann zog sie sich leise zurück.
Es gefiel Kalas nicht, seine Tochter so zurückzuweisen. Zu belügen.
Aber es musste sein, denn wie sollte er ihr erklären, was für ein Mann ihr Vater war? Es schlimm genug, dass er selbst mit seinen abartigen, perversen Neigungen leben würde, ganz bestimmt würde er damit keine unschuldigen Kinder oder irgendwen sonst belasten.
Was ihn in diesem Moment aber beinahe noch mehr plagte, war die Tatsache, dass er Madeen in dieser einen Sache Unrecht getan hatte. Und auch, dass er wusste, was seine Ehre und Verantwortung ihm nun abverlangte. Und der Anstand.
~~~
Kalas kam früh am nächsten Tag zum Jahrmarkt, als noch nicht einmal alles aufgebaut war. Soweit er das beurteilen konnte, war er der einzige Besucher zu dieser Stunde. Je schneller er diese Angelegenheit hinter sich brachte, desto besser.
Ihm war unwohl bei dem Gedanken, Madeen noch einmal gegenüber zu treten, doch er musste sich bei ihm entschuldigen. Eine hässliche, boshafte Stimme in seinem Kopf wollte ihn zwar daran hindern, wisperte, dass er dem Wahrsager nichts schuldete, dass er es verdient hätte, dass sie damit quitt wären.
Aber es war Kalas’ feste Überzeugung, dass Unrecht nicht mit mehr Unrecht beglichen werden konnte. Was immer Madeen getan hatte, was immer er nicht getan hatte, das verwirkte nicht sein Anrecht darauf, mit Anstand behandelt zu werden, und es gab Kalas nicht das Recht, ihn absichtlich schlecht zu behandeln.
Und so kam es, dass er trotz allen Widerwillens zurückkehrte, um ein letztes Mal Madeens Zelt zu betreten, für die falschen Anschuldigungen um Verzeihung zu bitten. Danach würde sein Gewissen rein sein und er könnte die verbleibenden Jahre seines Lebens in Frieden verbringen. In Frieden Abschied von der Welt nehmen und nichts bereuen.
Trotzdem verspürte er einen Stich im Herzen, als er die Zeltplane zurückzog und den vertrauten Geruch süßlichen Tabaks einatmete, und Unsicherheit, wenn er an das bevorstehende Gespräch dachte.
"Lass mich in Ruhe, Aydrin", fauchte Madeen, drehte sich nicht um. Wer als der glatzköpfige Aydrin sollte es auch sein, der ihn heimsuchte. Und das schon, seit Kalas' ...unglücklicher Abreise. Der Wahrsager fletschte die Zähne und streifte sich sein leichtes, offenes Hemd über. Verzichtete einmal mehr auf Roben. "Ich sagte ich würde zu ihm gehen und dann werde ich das auch tun. Was können sie schon tun? Mich einsperren? Dann hätte ich ihn wenigstens vorher um Verzeihung bitten können."
Zornig schnaubend riss der Wahrsager den Vorhang der den Innenraum des Zeltes trennte auf, sein Gesichtsausdruck änderte sich von zornig zu überrumpelt, dann zu schmerzverzerrt, reuevoll und schließlich wurde es blank.
"Ah. Mit Euch hatte ich nicht gerechnet. Lord."
"Ich ..." Kalas räusperte sich. "Ich werde dich nicht lange aufhalten, Madeen."
Er hatte seine Worte sehr genau überlegt und trotzdem kamen sie nur schwer über seine Lippen. So froh er auch war, dass seine Vermutung sich als falsch herausgestellt hatte, dass Brent unversehrt war - es war unangenehm, am Vortag derart aus der Haut gefahren zu sein, es tat weh, ihm ein weiteres Mal gegenüber zu treten.
"Ich möchte dich um Verzeihung für mein gestriges Betragen bitten.
Ich habe dich zu Unrecht einer schrecklichen Sache beschuldigt ... und das tut mir aufrichtig leid."
Was immer in Madeens Kehle steckte, welche Worte er wählen wollte, er erstickte daran, erzitterte heftig.
"Kalas." Rau klang seine Stimme, hilflos und brüchig. Madeen räusperte sich heftig und trat näher, griff nach dem Lord und ließ doch die Hände wieder schlaff zurück an seine Seite fallen. "Ich...es..."
Er schüttelte den Kopf, griff sich ins dunkle Haar.
"Ich...muss mich entschuldigen", flüsterte Madeen, er schaffte es nicht für lange, in Kalas' Augen zu sehen. Nur mit den Zähnen knirschend brachte er es zustande, schluckte jedes bisschen Stolz. "Ich war arrogant, dumm und vor allem grausam. Ohne Rücksicht habe ich dich zu etwas gezwungen... das mehr als nur ein Vertrauensbruch ist."
Kalas hatte nicht damit gerechnet, jetzt noch eine Entschuldigung, Worte der Reue zu hören. Zu sehen, wie ernst es Madeen damit war, wie sehr es ihn schmerzte. Und fast wünschte er sich, dass es anders wäre.
Wäre da wieder diese Angriffslust gewesen, dieser vollkommene Unwille, einen Fehler zu gestehen ... dann hätte Kalas sich umdrehen und verschwinden können. Die Vergangenheit ruhen lassen. Doch so musste er sich darauf eingehen, die Worte zu sich vordringen lassen, die halbverheilten Wunden erneut aufbrechen.
"Es ... es ist gut, Madeen", antwortete er leise. "Ich nehme die Entschuldigung an. Ich bin nicht mehr wütend."
"Natürlich nicht." Bitter klang Madeens Stimme. Bitter und sehr schwer, Madeen sah zur Seite und wischte sich mit einer fahrigen Bewegung über die Augen. Wütend war Kalas nicht, aber da war die Distanz, etwas, dass Madeen am ausgestreckten Arm erfrieren ließ, ihm Angst machte. "Das ist keine halbherzige Entschuldigung, Kalas."
Ohne dass er es wollte, es stoppen konnte, schwappte plötzlich ein hartes, lautes Schluchzen aus ihm heraus, Madeen presste die Hände vor den Mund, wollte alles und jeden ersticken, jedes Wort, jeden Laut.
Es tat weh!
Warum tut das so weh?!
"Ich weiß", antwortete Kalas tonlos. "Ich weiß."
Aber was sollte er tun?
Auf Madeen zugehen und ihn umarmen, obwohl er es nicht wollte?
Ihm Worte des Trostes schenken, die geheuchelt waren?
Er fühlte sich befangen, unsicher, er wusste ehrlich nicht, was er tun sollte, nicht einmal, was er tun wollte.
Die Sehnsucht war nie ganz verflogen, die Sehnsucht nach dem, was gewesen war. Nach dem, was hätte sein können. Viel zu oft hatte Kalas mit sich selbst geschimpft, daran gedacht, was geschehen wäre, hätte er das Gift damals nie getrunken.
Aber es ließ sich nicht mehr ändern, es war geschehen, die Nähe, die sich langsam zwischen ihnen entfaltet, die jedes Jahr zuvor überdauert hatte, war nun fort, verschwunden. Jetzt war alles Vergangenheit.
Und die Vergangenheit sollte man besser ruhen lassen und aus ihr lernen.
Sonst würde sie nur schmerzen.
"Ich sollte jetzt besser gehen", sagte er leise.
Er konnte nicht hier bleiben.
Er wollte nicht weiter bluten.
"Mach was du willst.", flüsterte Madeen, er schüttelte den Kopf, zitterte und fror. Nur in seinem Kopf, das alles war nur in seinem Kopf.
Mach, dass es aufhört, Kalas. Warum tut es weh? Warum jetzt?
"Ich steh dir nicht im Weg."
Lass es aufhören.
"Ich will nicht länger bluten und leiden."
"Genausowenig wie ich", antwortete Kalas, obwohl er nicht einmal sicher war, ob Madeen die Worte an ihn oder an sich selbst richtete. Aber welche Rolle spielte das schon? Kein Wort konnte diese Wunden heilen, nur noch mehr verletzen.
Es war an der Zeit, das alles zurückzulassen. Es war das Beste für sie beide.
Kalas trat etwas näher, kramte einen kleinen, metallenen Gegenstand hervor und legte ihn auf Madeens Tisch.
"Das gehört dir", sagte er mit einem matten Lächeln. "Und du ... wirst es eher brauchen als ich."
Er warf Madeen einen letzten Blick zu, ruhig, distanziert, aber nicht ohne einen Hauch von Trauer, Bedauern, dann raffte er sich auf und trat ins Freie, ließ den Wahrsager alleine zurück, die Münze, mit der er Jahr für Jahr seine Widerkehr angekündigt hatte, in seinen Händen.
Es war das Beste.
Ein leidender Laut entwich aus seiner Kehle, Madeen starrte die Münze kurz an, dann wischte er die Plane zur Seite, rannte die paar Schritte, die Kalas schon zurück gelegt hatte.
"Nein." Madeen erzitterte und schlang die Arme um Kalas, presste seine Wange gegen dessen Rücken. Durch den weichen, teuren Stoff - etwas das Madeen sich nie würde leisten können - konnte er den harten Bogen von Kalas' Knochen spüren, hielt ihn enger fest. "Geh nicht wieder weg."
Kalas zuckte zusammen, als er Madeens Arme um seinen Oberkörper spürte, sein Gesicht gegen seinen Rücken.
Alle Farbe wich aus seinem Gesicht und er versuchte hastig, sich zu befreien.
"Lass mich los!", brachte er gepresst hervor, während sein Blick panisch nach allen Seiten glitt, angstvoll nach jemandem Ausschau haltend, der sie sehen konnte. Er erblickte nur ein zwei Jahrmarktarbeiter, die gerade mit den Pferden beschäftigt waren und ein paar andere, die Kisten schleppten. Er atmete tief durch und berührte sanft Madeens Hände, die sich an seinem Hemd festklammerten.
"Bitte lass mich los", fügte er etwas ruhiger hinzu. "Ich verspreche dir, nicht zu gehen."
Madeen verkrampfte sich, ließ jedoch los, als hätte Kalas ihn geschlagen. Die Hände krampfhaft zu Fäusten geballt - so fest, dass seine Nägel in seinen Handballen schnitten - starrte der Wahrsager zu Boden, die Zähne zusammen gebissen. Sonst hätte er geschrien. Es fehlte nicht mehr viel und er wäre bereit vor Kalas auf die Knie zu fallen. Zu flehen und zu betteln, sich wie ein Wurm im Staub zu winden, vergessen war all sein Stolz.
In diesem Moment warf Kalas all seine Vorsätze über Bord.
Er wollte nicht bleiben, er wollte flüchten, doch er hatte das Gefühl, dass er Madeen ebenso wenig in diesem Zustand hier zurücklassen konnte. Mit einem weiteren, misstrauischen Blick in alle Richtungen, schob er den Wahrsager vor sich her, wieder in Richtung Zelt. Dort angekommen zog er die Plane hinter ihnen zu, dirigierte Madeen zu seinem Platz und ließ sich dann mit einem stummen Seufzer gegenüber von ihm nieder.
Er wusste nicht, was er jetzt tun oder sagen sollte, also tat und sagte er gar nichts. Wartete darauf, dass Madeen das Wort ergriff.
Sich zu setzen, als wäre dies nur ein Jahr von all den vorherigen, es schien außerhalb von Madeens Möglichkeiten zu liegen. Er schluckte, ging unruhig auf und ab, die Hände geballt, da er sonst wohl etwas getan hätte, dass er bereuen würde. Kalas berühren zum Beispiel.
Für eine Weile saß Kalas ruhig da, ohne ein Wort zu sagen, wartete ab, dachte nach. Doch Madeens Unruhe, sein fortwährendes Schweigen machten ihn bald schon nervös.
Schließlich schaute er auf, direkt in seine Augen.
"Was wird jetzt werden?", fragte er leise, sanft.
"Ich...ich weiß nicht." Madeen spürte richtig, wie er ruhiger wurde. Als würde Kalas' Blick ihn wie eine Decke umhüllen, betäuben, besänftigen. Und jedes Bisschen Kraft aus ihm saugen. Stumm ging Madeen in die Knie nieder, auf seinem Kissen, starrte auf seine eigenen Hände. "Ich weiß es nicht ....ich wollte dir nie derart Schmerz zufügen. Ich hab nicht mal nachgedacht."
Kalas schluckte eine bittere Antwort herunter. Er wusste ja nicht einmal, ob es ihn beruhigen oder noch mehr verletzen sollte, dass Madeen ihn nicht hatte verletzten wollen. Dass er offenbar nicht einmal in Erwägung gezogen hatte, dass eine solche Verletzung seiner Grenzen ihm Schmerzen bereiten könnte.
Er nickte schwach.
"Ich verstehe."
Er verstand nicht. Er verstand in keiner Weise, wie Madeen auch nur auf die Idee hatte kommen können, ihn zu vergiften, wie ihm nicht in den Sinn gekommen war, dass es mehr sein könnte als er zu verzeihen vermochte.
"Ich möchte nicht mehr darüber sprechen", sagte er schließlich, nicht unfreundlich aber bestimmt. "Sag mir nur, was du von mir möchtest."
Madeen schluckte und schüttelte dann den Kopf. Es war...falsch. Alles. Madeen konnte nicht mehr teilen, nicht mehr entscheiden, er wusste nicht was er sagen, was er denken sollte. Warum sollte es jetzt bei ihm liegen?
Weil es sein Fehltritt war, seine Missetat.
"Du ...." Wie sollte er das jetzt formulieren? Es war so schwer..."Ich...wollte dich nur um Verzeihung bitten."
Bitteres Lachen erklang, beinahe schrill. Madeen presste seine Handflächen gegen seine Schläfen, pochte doch sein Schädel so sehr als würde er gleich explodieren.
"Aber selbst wenn ich auf Knien vor dir durch den Staub rutschen würde - und glaub mir, ich werde es - ist das nichts, was durch einfache Worte beigelegt werden kann. Also...frag mich nicht was jetzt kommt. Ich... weiß es nicht."
Kalas Mund wurde trocken, Traurigkeit schimmerte in seinen Augen.
In diesem Moment sah er nicht den grausamen, selbstsüchtigen Madeen vor sich, auch nicht den schönen Mann, den er so sehr begehrt hatte, dass mit ihm alles andere in den Hintergrund gerückt war. Nein, er sah den Madeen, welchem er vor zwei Jahren im Käfig erblickt hatte, eine verzweifelte, hilflose Gestalt, inmitten der Scherben des eigenen Stolzes sitzend.
Und Zeit trotz allem, was geschehen war, verspürte Kalas Mitleid mit ihm.
"Du musst nicht knien, Madeen", antwortete er heiser. "Das will ich nicht und das habe ich nie gewollt."
Ein Jahr zuvor, kurz nachdem es geschehen war, damals hätte es Kalas gereizt, doch zu dem Zeitpunkt war er noch zu aufgebracht, zu wütend gewesen, um klar zu denken. Um die Rachefantasien auszublenden, die sich ihm aufgedrängt hatten, der Wunsch, es Madeen zu vergelten, ihn das gleiche spüren zu lassen.
Aber jetzt da so viel Zeit vergangen war, blieb nichts als die Trauer um das Verlorene.
Es wäre so viel einfacher, so unendlich viel einfacher, wenn Kalas ihm egal wäre. Wenn er nicht Angelhaken in sein innerstes getrieben hatte und jetzt daran zupfte und zerrte, wie an den Saiten eines Instruments.
"K...Kalas." Madeen sah langsam auf, den Blick glasig, leer. Resigniert. "Ich weiß nicht... nichts... Was soll ich tun?"
"Ich fürchte, dass ich dir das nicht beantworten kann", erwiderte Kalas langsam. "Ich wollte eigentlich gar nicht wiederkommen. Ich-"
Er wurde unterbrochen, weil er husten musste. Sein Körper reagierte mittlerweile äußerst sensibel auf Stress. Er mochte zwischenzeitlich vollkommen gesund wirken, doch wann immer etwas seine Seele belastete, konnte er damit rechnen, dass die Krankheit ihr Gesicht wieder zeigte. Bisher war es nie so schlimm gewesen, wie im Vorjahr, nachdem er Madeen verlassen hatte. Und das war auch gut so, denn er wusste nicht, was nach einem zweiten Mal noch von ihm übrig geblieben wäre.
Er war jetzt schon zu dünn für einen Mann seiner Größe, der Einsatz eine solch stattliche Gestalt besessen hatte. Körperliche Anstrengungen ermüdeten ihn schnell und seine Schläfen ergrauten bereits.
Die Krankheit ließ ihn schwächeln, früh altern, ihn womöglich zum Greis machen, bevor er vierzig Jahre alt wurde. Und alles, was er tun konnte, war, seine Medizin zu schlucken, sich in Ruhe zu können und der Welt vorspielen, es sei alles in Ordnung.
Als der Hustenanfall endlich abgeklungen war, fuhr Kalas heiser fort:
"Ich... ich brauche Zeit, Madeen."
Zeit, die er wahrscheinlich nicht hatte.
Durch den Husten aufgeschreckt, war Madeen aufgesprungen, doch wusste weder was noch wie er etwas tun sollte. Seine Hände flatterten unruhig, ehe er sich zwang wieder schlaff und erstarrt da zu stehen.
"Natürlich", flüsterte er rau, lächelte extrem nervös und gab es dann auf. "Ich... ich halte dich auf... du solltest zu deiner Familie zurückgehen."
Langsam nickte Kalas und erhob sich dann.
Doch er zögerte noch, zu gehen.
"Ich ..."
Er atmete tief durch.
"Wenn die Umstände es zulassen, werde ich wiederkommen."
Wenn ich vorher nicht sterbe.
Als er kurze Zeit später wieder unter die Sonne trat, wusste Kalas nicht, ob er Hoffnung schöpfen oder verzweifeln sollte.
Madeen wartete. Er wartete bis die Sonne untergegangen, bis der letzte Kunde bedient worden war, bis die Aufpasser auf dem Jahrmarkt die Fackeln für die Nachtruhe löschten.
Und erst als er allein war, im Dunkeln voller Geräusche und leisem Flüstern des Windes... erst dann gestattete Madeen sich, dass Gesicht in die Hände zu stützen und bitterlich zu weinen.
Das erste Mal seit Jahren.
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