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3. Elliot: Was der Lord wusste

in Herbst 516 07.01.2016 09:57
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

„Warum? Warum habt Ihr mir nie etwas gesagt!?“ Emilia konnte furchterregend sein, wenn sie wütend war. Draußen regnete es in Strömen, der Raum war von trübem Licht erfüllt, welches durch Elliots flackerndes Kaminfeuer eher betont als bekämpft wurde. Aber Emilia schien von innen zu glühen, als sie so neben seinem Schreibtisch aufgebaut stand, die Hände in die Hüfte gestemmt, das hübsche Gesicht wutverzerrt. Ja, sie war ein furchterregender Anblick. Und wunderschön.
„Was hätte es genutzt?“, erwiderte er schwach. Sein Kopf dröhnte noch vom gestrigen Abend, er hatte zu viel getrunken. Wieder einmal. „Was hätte es dir genutzt, wenn ich dir gesagt hätte, dass du aussiehst wie meine verstorbene Tante? Was wüsstest du dann, das du nicht schon gewusst hättest?“
„Ich wüsste einen Grund, warum Ihr mir helfen wolltet! Ich wüsste, dass wir vielleicht verwandt sind!“
„Und? Vielleicht ist jeder vielleicht verwandt… was weiß ich, wo meine Eltern und Großeltern und Onkel und Tanten und der ganze Rest sich herumgetrieben haben.“
„Darum geht es nicht.“ Emilia wandte sich ab, ihre Augen fixierten eines der deckenhohen Fenster. Elliot war, als würde sie mehr darin sehen als nur den Regen, der in solchen Massen herabfiel, dass es schien, als würde Aquaria versuchen, die Welt mit ihrem Element zu erobern. Aber wie immer konnte er sich nicht sicher sein, was in dem Kopf der jungen Frau vor sich ging. „Habt Ihr es mir aus Groll verschwiegen?“
Seufzend schüttelte Elliot den Kopf. „Nein, meine Liebe, das habe ich nicht.“ Es war keine Lüge. Es war nicht Groll gewesen, der ihn davon abgehalten hatte, nie mit Emilia darüber zu sprechen. Er wusste selbst nicht genau, was es war… er hatte es ihr einfach niemals erzählt. Vielleicht aus Angst, dieses zarte, sanftmütige Wesen könnte unter der Erinnerung zerfallen und die Züge jener Frau annehmen, die Elliot am meisten von allen hasste. Vielleicht aus Furcht, sie könne tiefer graben und entdecken, was unter seiner Oberfläche schlummerte. Wie Indivia es beinahe getan hätte. Oh, Diva…
Elliot rutschte mit dem Stuhl zurück und stand auf, wäre beinahe zu seiner Vitrine gelaufen, in welcher er den Weinbrand aufbewahrte. Ein Reflex, um den plötzlichen bitteren Geschmack von seiner Zunge zu vertreiben. Aber er besann sich rechtzeitig, denn er wollte Emilias Zorn nicht weiter provozieren. Diesmal nicht. Dazu fehlte ihm die Kraft. Außerdem spürte er noch Schwindel und Übelkeit vom gestrigen Abend, umso mehr, nun da er sich wieder bewegte und langsam auf eines der Fenster zuhielt. „Weißt du, Emilia, es ist nicht viel, das ich weiß, und nichts davon gibt mir klare Antworten.“
Er spürte, wie ihre Augen sich in seinen Rücken bohrten, und er musste sie nicht anschauen, um zu wissen, dass kein gnädiger Blick darin lag. „Was wisst Ihr?“
„Dass meine Tante eine Tochter hatte, die offiziell nur zwei Tage alt wurde. Und dass eine Hebamme Zweifel an dem Tod des Kindes hegt.“ Elliot legte die Hand ans Fensterglas, kalt und glatt. Durch einen dicken Schleier aus Regen konnte er die Umrisse des Gartens sehen, der Bäume, deren bunte Blätter an diesem Tag grau erschienen, des Pavillons, in dem so viele, frohe Stunden verbracht worden waren, und der nun einsam aus seiner Umgebung hervorragte. „Und womöglich hat sie Recht. Womöglich ist es aber auch nur das Gerede einer alten Verrückten. Ich weiß es nicht.“
„Und was soll mit dem Mädchen geschehen sein?“ Er hörte verhaltene Neugierde aus Emilias Stimme. Aber auch Vorsicht. Die Stimme einer Frau, die nicht wusste, ob man nicht nur einen bösen Scherz mit ihr trieb.
„Sie glaubt, es wurde ausgetauscht. Und tatsächlich wäre das möglich: Lord Rayland entließ nach der 'Beerdigung' all seine Diener und eine Zofe meiner Tante hatte ein Kind, das nur wenige Tage jünger war als das kleine Fräulein Rayland.“
„Und Ihr glaubt, dass… dass ich dieses Mädchen bin?“
Elliot drehte sich wieder um. Emilia hatte sich nicht vom Fleck bewegt, doch ihre Haltung war weit weniger standhaft als zuvor. Zweifel und zahllose Fragen standen ihr ins Gesicht geschrieben und sie stützte sich mit der Hand auf seinem Schreibtisch ab. Sie sah nicht mehr stark und unnachgiebig aus, sondern unsicher und zerbrechlich, ein junges Mädchen in einem knochenweißen Kleid. Er schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Es könnte möglich sein – aber ich halte es für unwahrscheinlich. Das Kind hatte braunes Haar, kein blondes, und Muttermale an der Hüfte, die du nach eigener Auskunft nicht besitzt – und du würdest mich nicht anlügen, nicht wahr, meine Liebe?“ Ein kleines Lächeln huschte über Elliots Lippen, als er sah, wie sie die Stirn kraus zog und ihn aus blauen Augen gereizt anfunkelte. Aber es war nur ein Schatten seiner üblichen, vor Überheblichkeit und Arroganz triefenden Grimasse. Es bereitete ihm heute keine Freude mehr, Emilia zu provozieren. Also fuhr er fort: „Das heißt allerdings nicht, dass ich dieser Angelegenheit nicht auf den Grund gehen möchte, denn es würde immer noch bedeuten, dass ich irgendwo eine -“ Er brach ab, denn in seinem Kopf hallte das Wort „Schwester“ wieder und suchte den Weg auf seine Zunge. Elliot räusperte sich, würgte den hinterlistigen Gedanken ab und wandte sich abermals halb von Emilia ab, um hinaus in den Regen zu starren, als gäbe es dort etwas bedeutungsvolles zu sehen. Sicher gab das seinen Worten eine gewisse Dramatik, als er fortfuhr: „Dass ich irgendwo eine Base habe, von der ich nie etwas wusste. Und es könnte mir immer noch einen Weg zu dir weisen.“
Aus den Augenwinkeln sah er, dass Emilia nickte. Er bemerkte auch ihr Zaudern, ihre sichtliche Befangenheit, ihr Ringen mit Worten. Und er kam ihr nicht zur Hilfe. Sie würde Fragen stellen, das wusste er jetzt schon, ebenso wie er wusste, dass er diese Fragen nicht mögen würde. Als sie sich dann dazu durchrang, zu sprechen, klang sie leise und unendlich zart. „Ich sehe Eurer Tante wirklich sehr ähnlich, nicht wahr?“
Regentropfen, schwer, dicht und dick. Das Knistern des Kaminfeuers. Keine Antwort, Schweigen.
„Mylord…?“
Elliot seufzte. Er schüttelte den Kopf. Er ging auf Emilia zu und blieb unmittelbar vor ihr stehen, studierte ihr vom Kaminfeuer warm beleuchtetes Gesicht. „Nein.“ Er hob die Hand, streckte sie nach ihrer Wange aus und verharrte in der Bewegung, als die junge Frau zusammenfuhr. Er spürte trotz allem noch einen Stich im Herzen und presste die Lippen fester aufeinander, um nichts davon nach Außen dringen zu lassen. Seine Finger legte er nur flüchtig auf ihre Schulter, berührte nur kurz eine ihrer langen Locken, ehe er den Arm völlig zurückzog. „Nein, du siehst ihr nicht ähnlich, meine Liebe. Deine Haare sind genauso hell, genauso weich wie ihre. Ihre Augen hatten die gleiche Form, die gleiche Größe, den gleichen Ton von Blau wie deine. Die gleichen Lippen, die gleiche Haut, die gleiche Statur – du siehst ihr nicht ähnlich. Du siehst identisch aus.“
Emilia senkte den Kopf, doch er konnte in ihren Augen jenes Aufblitzen trauriger Nachdenklichkeit sehen, welches sich schon bei ihrer ersten Begegnung in sein Gedächtnis gebrannt hatte. „Und… bin ich auch wie sie?“, murmelte sie.
„Nein.“ Diesmal zögerte Elliot mit seiner Antwort nicht. „Nein, du bist absolut nicht wie sie.“ Und damit war das Gespräch vorüber für ihn. Er befand sich schon jetzt viel zu nah an der Wahrheit über seine Eltern, als ihm lieb war. Und obwohl er diese Wahrheit mit allen Mitteln schützen wollte, wäre es ihm lieber gewesen, Emilia dafür nicht von hier zu vertreiben. „Hör zu, Emilia, ich habe viel zu tun. Es gibt dutzende Briefe, die auf eine Antwort warten und vielleicht muss ich sogar ein paar Tage verreisen, um in meinen Ländereien nach dem Rechten zu sehen.“
„Ich werde Euch nicht aufhalten.“ Die Miene der jungen Frau war wieder gefasst. Höflich, kühl. Sie deutete einen Knicks an und schritt dann auf die Türe zu, doch ein Räuspern seinerseits ließ sie innehalten. Über die Schulter warf sie ihm einen fragenden Blick zu.
„Falls sich etwas neues ergibt, eine Erkenntnis oder ein Hinweis, werde ich dich das wissen lassen“, sagte Elliot. Und weil er es für notwendig hielt, fügte er noch hinzu: „Und wer auch immer du bist - du wirst in meinem Haus immer willkommen sein.“
Sie erwiderte nichts. Kein Danke, nicht einmal ein Lächeln. Sie neigte nur kaum merklich den Kopf und setzte dann ihren Weg nach draußen fort.
Sie wird auch gehen, dachte Elliot bitter. Sie hat mir nicht verziehen, dass das Goldkehlchen verschwunden ist. Beinahe erwartete er eine Antwort darauf, aber in seinen Gedanken war nichts als Stille. Tharaniel war merkwürdig ruhig seit jenem Vorfall. Dabei war es eigentlich genau seine Art, Salz in die offene Wunde zu streuen...






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