#1

Wesen der Finsternis

in Kurzgeschichten 21.08.2014 12:24
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Ich erinnere mich nicht daran, wann ich zum ersten Mal das Verlangen gefühlt habe.
Vielleicht habe ich es immer verspürt, doch war es mir nie bewusst.
Ich weiß nur, dass es mit einem Mal begann, mich zu verzehren, mich quälend vorwärts zu treiben.

Meine ersten Erinnerungen handeln von Finsternis.
Es war nicht die stille, ruhige Finsternis der Nacht, welche den Schlummer ruft.
Es war nicht die lauernde, bedrückende Finsternis, welche Gefahr verbirgt.
Es war eine allumfassende Finsternis, undurchdringlicher als der dickste Nebel. Eine zeitlose Finsternis, welche nicht ziehen ließ, was sie einmal umarmt hatte. Es war eine Finsternis der Einsamkeit.
Und Einsamkeit war meine einzige Gefährtin, bis schließlich aus ihr das Verlangen entsprang.
Es dauerte lange, bis ich begriff, was sich da in meinem Inneren eingenistet hatte,
was mich so ruhelos und ziellos umherziehen ließ, was da in jedem Augenblick an mir nagte.
Und noch länger dauerte es, bis ich schließlich nachgab,
denn ich wusste nicht, was mich erwarten würde und das Unbekannte lockte mich nicht, es beunruhigte mich nur.
Doch das Verlangen wurde stärker und stärker,
die Sehnsucht und die Gier nach etwas, das ich nie gekannt hatte, rissen an mir, verbrannten mich,
bis mir schließlich keine Wahl mehr blieb, als ihnen zu folgen.

Und so begann mein Aufstieg.
Meine Suche nach dem Unbekannten, welches mich erfüllen, mich heilen würde.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte.
Ich weiß nicht, wie ich die Reise überwältigte,
fühlte es sich doch an, als würde mein Verlangen mich innerlich zerreißen, würde ich es nicht bald stillen.
Ich erinnere mich daran, wie endlos die Finsternis mir erschien. Wie quälend lang sie sich ausstreckte.
Irgendwann spürte ich, dass da noch andere waren.
Andere, die ihre Fühler nach oben ausstreckten, die die Finsternis verlassen wollten.
Ich berührte sie nicht, sprach nicht mit ihnen.
Ich wusste nur, dass sie da waren, dass sich unsere Wege kreuzten, ahnte dass sie dasselbe suchten wie ich.
Doch dass wir uns einander niemals annähern würden.

Unsereins ist gesellig.
Wir verzehren uns nach Gesellschaft.
Doch wir meiden einander, denn wir können nicht geben, was wir verlangen.
Wir sind Wesen der Finsternis, der Einsamkeit.
Wir sind blind, taub, stumm, wir sind nicht eins mit der Welt.
Wir sind körperlos, ohne Herz und ohne Geist, wir lechzen nach Leib und Seele.
Und als ich schließlich, nach dem langen, qualvollen Aufstieg beides fand, wusste ich, was Schönheit war.
Als ich ihre hilflosen, verzweifelten Schreie hörte, mich nach ihr ausstreckte,
ihr die Macht gewährte, um die sie mich anflehte,
als ich mit ihr im fahlen Mondlicht, getaucht in ein Meer von Blut stand,
als ich zum ersten Mal die Welt um mich spürte, wusste ich, wonach es mich gierte.
Und auch, dass mein Verlangen endlos ist, es immer sein wird.
Sie wird Mein sein, ihr Leib mein Gewand, ihre Seele mein Spielzeug,
bis sie es einst, so sie mich langweilt, fortwerfen werde,
in die Finsternis, aus der ich selbst gekommen bin.
Wir hassen die Menschen nicht. Wir lieben sie.
Doch wir beneiden sie auch, denn kein Mensch wurde je in wahrer Einsamkeit geboren.
Wir geben ihnen, wonach es ihnen gelüstet, unsere Macht, um ihnen ihre süßesten Träume zu erfüllen.
Doch wir lassen sie auch den Preis zahlen.

Die Finsternis verschlingt jeden, ist nicht wählerisch dabei.
Die Finsternis ist gierig, will nicht hergeben, was sie einmal genommen hat.
Die Finsternis ist alt, endlos, ewig.
Sie ist geduldig.
Die Finsternis wartet.






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