01: Schneeengel
Der erste Eindruck der fremden Welt bestand aus grauen, schweren Wolken über ihm, kalter, weicher Masse in reinem Weiß unter ihm und Kälte, die klebrig und anhänglich unter seine Haut kroch. Den Atem in einem zittrigen Atemzug entlassend - weiß, warm und feucht stieg er gen Himmel - richtete er sich auf, saß inmitten seines Bettes aus Schnee. Menschenleere, weiß-graue Einöde begrüßte ihn, durch Löcher in der tiefhängenden Wolkendecke blitzten die Sterne gleich zornigen Augen und der Wind brachte neben dem scharf-metallischen Geschmack des Winters auch neue Schneeflocken.
Winzige Farbkleckse aus Schwarz, Eisblau und Rot verhinderten, dass er völlig mit dem Untergrund verschmolz, eine Schneestatue, die einsam und verlassen ruhte, darauf wartete im Frühling mit dem restlichen Schnee zu schwinden. Schwere Stille, heilig beinahe, nur unterbrochen von dem ruhigen, gleichmäßigem Atem seiner Selbst, gelegentlichem Rascheln, wann immer der Wind seine schwarzen Federn berührte, mit unsichtbaren Fingern durchkämmte.
Die schlanken Hände zum Gebet vor der Brust gefaltet, erhob sich die monoton, melodische Stimme, murmelte Strophe um Strophe der Lobpreisung Umbras, dann um kurze Gebete an die göttlichen Schwestern Umbras zu murmeln.
Ein vages Gefühl war es gewesen, das Lucille angelockt hatte, das Gefühl, eines Anderen, ähnlich und anders zugleich. Und nun, da er langsam vom Himmel herabstieg, in weiße Gewänder gehüllt und mit weißen Flügeln, in denen Schneeflocken sich unsichtbar niederließen, hörte er auch den Gesang.
Eine zarte Melodie, getragen von einer wunderschönen Stimme, die weder ganz männlich, noch ganz weiblich klang, die göttlichen Schwestern preisend. Jene gütigen Schöpferinnen, grausamen Mütter, die Herrinnen der Welt, reiner als selbst die Engel es waren und giftiger als jede Schlange, welche so tief unter ihnen über die Erde kroch.
Lucille hasste dieses Lied und liebte es zugleich, er verachtete die Worte und konnte doch nicht genug von ihnen bekommen.
Und so kam es, dass er, als seine Füße unweit der schwarzhaarigen Gestalt den Boden berührten, erst einmal nur lauschte, den Gesang seines schönen, frommen Bruders nicht brach.
Die Flut an heiligen Worten stockte, brach auf seiner Zunge und wurde zu einem Laut der Überraschung. Schwarzes Haar ergoss sich über seine zarten Schultern, umrahmte ein Gesicht, dessen Schönheit so kalt wie der Schnee wirkte, der alles umgab, erstickte. Die roten Lippen schlossen sich, wie ein Siegel aus Blut inmitten von blütenweißem Schnee, keine Worte flossen nun. Eisblaue Augen richteten sich auf den Neuankömmling, wartend. Kalt und gleichgültig.
Es war Lucille, der das Schweigen brach.
"Ein Bruder", kicherte er und trat näher heran. "Und so ein schöner dazu."
Er beugte sich vor, nahm das helle Gesicht zwischen seine Hände, betrachtete es ausgiebig, die gletscherfarbenen Augen, die vollen, roten Lippen.
"Bist du gerade erst erwacht?"
Es musste so sein. An ihm haftete noch das himmlische, das göttliche, er war unverdorben wie der frische Schnee, der sich um ihn anhäufte.
Die Hände des schwarzhaarigen Engels legten sich auf Lucilles, lösten sanft aber bestimmt den Griff und entzogen ihm das Gesicht. Die schwarzen Schwingen wie einen Mantel aus Federn um sich geschlungen, erhob er sich, Schnee rieselte von dem schwarz, dem weiß seines Körpers. Als sich die Stimme erneut erhob, sprach er nicht von Lobpreisungen.
"Wer bist du?"
"Lucille ist mein Name", erwiderte der weiße Engel, ohne den faszinierten Blick von dem anderen zu lösen. "Ein verstoßenes Kind der Lumina."
Es war lange her, dass er ein solches Geschöpf gesehen hatte.
So fromm, so treu den Göttinnen, die ihn vom Himmel hatten fallen lassen.
So unverdorben vom Übel der Welt.
Es erfüllte Lucille mit Ehrfurcht, mit Ekel, mit Neid.
Sollte ihn der Gedanke von einem Gefallenen berührt zu werden mit Ekel erfüllen? Auf jeden Fall sollte er irgendetwas fühlen. Aber in seinem Inneren herrschte kalte Ruhe. Gleichgültig gegenüber allem stand er da. Die Winkel seines roten Mundes neigten sich leicht nach unten, er musste das geringe Gewicht seines Körper auf den anderen Fuß verlagern, als die Kälte - dumpf aber vorhanden - seine Glieder empor kroch. Er wusste nichts, aber das hier, das sagte ihm nicht zu.
"Komm, mein hübscher Bruder", sagte Lucille und nahm den dunklen Engel am Arm. "Die frostige Kälte wird dich nicht töten, aber ich glaube nicht, dass sie dir behagt. Und ich kenne einen Platz, an dem es wärmer ist."
Das Gasthaus mochte ein vulgärer Ort sein, doch sein Zimmer war stets gut beheizt.
Ruhig neigte der Schattenengel den Kopf, doch folgte ohne ein Widerwort dem anderen. Er sah zum Himmel auf, als suchte er etwas.
Als Lucille die Tür zu seinem Zimmer öffnete, fiel sein Blick sogleich auf Sivan, der neben dem breiten Bett saß und mit kleinen Steinen und Ästen spielte. Der kleine Junge mit den schon jetzt vollen, weißen Locken, nur von zwei schwarzen Strähnen durchsetzt, blickte auf und lächelte. Dann stand er unbeholfen auf und tabste in Lucilles Richtung, schlang die Arme um sein Bein.
Der Engel bückte sich und hob das Kind hoch.
"Wir haben einen Besucher, Sivan", säuselte er und drehte sich zu seinem Begleiter um.
Amentiam - der schwarze Engel - betrat mit teilnahmslosem Blick das Zimmer, die Arme leicht fröstelnd um den schlanken Leib, noch immer so bloß und unberührt wie er vom Himmel gefallen war. Auch wenn die Schwingen nun verborgen darauf ruhten erneut ausgebreitet zu werden.
Weder das Kind, noch Lucille - der Gefallene - konnten Amentiam eine andere Reaktion als einen stummen, kalten Blick entlocken. Stattdessen verharrte der Engel genau dort, wo er stand, beinahe wie eine lebende Puppe.
"Setz dich, mein lieber Bruder", sagte Lucille und entließ Sivan wieder auf den Boden. Dann führte er den Schattenengel auf sein Bett zu, drückte ihn sanft aber bestimmt in eine sitzende Haltung.
"Ich werde dir etwas zum Ankleiden geben, Brüderchen."
Und während er in seinem Wäscheschrank nach etwas passendem kramte, fragte er:
"Wie heißt du?"
Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Sivan fasziniert vor seinem Gast stand und seine kleinen Händchen in den schwarzen Federn vergrub.
"Amentiam", der Schattenengel sah auf das Kind herab, denn Kopf schiefgelegt, ehe er seine Schwingen enger anlegte, um sie aus der Reichweite der kindlichen Hände zu entfernen. Der Blick seiner hellen Augen weiterhin so ausdruckslos, dass es ohne Zweifel an Apathie grenzte, die Hände ruhig in seinem Schoß gefaltet, alles an Amentiam wirkte...leblos.
"Wie süß."
Lucilles Mundwinkel verzogen sich zu einem herablassenden Lächeln.
"Da hat deine Mutter aber einen schönen Namen ausgesucht."
Er legte ein paar Kleidungsstücke neben dem Schattenengel aufs Bett, schob seinen Sohn unsanft beiseite.
"Sivan, dein Vater möchte in Ruhe mit seinem Bruder sprechen. Sei so gut und geh wieder spielen."
Der junge Engel gehorchte ohne Widerworte.
Die roten Lippen verzogen sich kaum merklich nach unten, ehe Amentiams Miene wieder neutral wurde. Er griff nach den Kleidungsstücken, die schlanken Finger schwebten fragend in der Luft über dem Stoff. Gleichgültige, blaue Augen sahen auf, blickten Lucille an.
"Zieh das an, Brüderchen", sagte Lucille geduldig. "Wenn du leben willst, musst du dich den Menschen anpassen und die Menschen tragen keine Kleidung."
Er zupfte sanft an einer schwarzen Feder.
"Ebenso wenig wie Flügel."
Ohne Widerworte griff Amentiam nach den Kleidungsstücken, ließ seine Schwingen verschwinden, in Nichts auflösen. Hier und da kämpfte der Engel kurz mit dem Stoff der Kleidung, doch dann saß alles dort wo es sitzen sollte. Ohne eine Emotion in den eisblauen Augen sah der Schattenengel an sich herab.
Zufrieden betrachtete Lucille den nun schwingenlosen und stattdessen in Stoff gehüllten Engel.
Zumindest in etwas Stoff.
Er hatte ein paar schwarze Stücke herausgesucht, die knapp und eng waren, nur von Schnüren zusammengehalten wurden.
Sie bedeckten das Nötigste, überließen aber wenig der Fantasie.
"Hübsch siehst du aus, Brüderchen", bemerkte Lucille mit einem dunklen Lächeln.
Dann beugte er sich vor und von einem Moment auf den nächsten lagen seine Lippen auf Amentiams.
Gleichgültig ließ Amentiam die Berührung zu, ehe er den Kopf desinteressiert abwandte, an dem Stoff seiner geliehenen Kleidung zupfte, einige Schnüre zurecht zog. Als alles zu seiner zufriedenheit saß, trat der Schattenengel an das Fenster, hinaus in die Welt - grau und verschneit und dunkel.
Lucille folgte dem anderen Engel, legte, als dieser am Fenster stehen blieb, von hinten die Arme um ihn.
Seine Augen ruhten auf den Straßen und Häusern, eine künstliche Welt, erschaffen von diesen lächerlichen Kreaturen, denen die göttlichen Schwestern mehr Gunst schenkten, als ihren eigenen Kindern.
"Und nun, mein hübscher Bruder?
Was wirst du nun tun, da du hier bist, in der Welt der Menschen?"
"Ich weiß es nicht.", Amentiam sträubte sich nicht gegen die Berührung, doch genauso wenig tat er etwas um den anderen zu ermutigen. Den Kopf schief gelegt beobachtete er wie einige der Menschen davon eilten, in Schnee und Dunkelheit verschwanden, sein eigenes Spiegelbild wie eine schöne Erscheinung im Glas die Geste spiegelnd. "Was soll ich tun."
"Was immer du willst, Brüderchen."
Lucille wandte den Blick nicht vom Fenster ab, als er das Kinn auf Amentiams Schulter legte.
Seine Hände wanderten sacht über seinen Brustkorb und tiefer, ertasteten Rippe für Rippe durch den dünnen Stoff des Oberteils.
"Ein Ort zur Lobpreisung... zum Beten... ein Kloster... ", murmelte Amentiam leise, es klang beinahe so, als wäre ein wenig seiner kalten Gleichgültigkeit Nervosität ggewichen. Er starrte in die Ferne und schien die Berührungen Lucilles entweder nicht zu bemerken oder es war ihm egal. Erneut tat er nichts, weder um den gefallenen Engel zu stoppen, noch um ihn zu ermutigen.
Leise seufzte Lucille.
"Du bist wirklich ein Dummkopf.
Du könntest alles haben, alles spüren", wieder ließ er die Hände etwas tiefer rutschen, schob die Fingerkuppen sacht unter den Rand der engen Hose, "und du entscheidest dich wirklich dafür, deiner treulosen Mutter weiter zu dienen?"
Amentiams kalte Hand umfasste Lucilles Handgelenk, hielt es auf und zog dessen Finger aus seiner Hose.
"Meine Mutter ist nicht treulos.", sagte er mit sanfter Kälte in der Stimme. Wäre er nicht ein Engel gewesen, hätte man es für Tadel halten können, doch so war es ihm nun völlig egal. Der Schattenengel wand sich um, die gletscherblauen Augen auf Lucille gerichtet. "Es ist ein guter Pfad."
"Woher, Brüderchen", sagte der Gefallene lächelnd, "willst du denn wissen, welcher Pfad ein guter ist, wenn du nur einen bisher beschritten hast?
Wenn du dir die Freuden der anderen nicht einmal vorstellen kannst?"
Lucille streckte die Hände aus, legte sie an Amentiams Wangen.
"Schönheit wie diese ist verschwendet, wenn sie hinter den tristen Mauern eines Tempels versteckt wird."
Kein noch so süßes Wort, das Lucilles Mund verließ, erweckte eine Gefühlsregung in Amentiam, er sah einfach nur ruhig in die goldenen Augen, als suche er etwas, musterte, sah und blickte dann mit einem Funken Enttäuschung in den eisblauen Augen zur Seite.
"Ich weiß es."
"Du weißt es nicht."
Mit einem Mal war Lucilles Gesicht todernst, seine Stimme ungewöhnlich dunkel.
"Du hast nicht einmal den Hauch einer Ahnung.
Du, mein kleiner Bruder", er bohrte einen Finger in Amentiams Brust und schaute ihm mit einer Mischung aus Mitleid und unverhohlener Abscheu in die Augen, "bist nichts als ein dummes Vögelchen, das den Weg fliegt, der in sein winziges Hirn programmiert ist.
Ein Vögelchen, das weder weiß, was jenseits dieses Weges liegt, noch wie leicht es ist, davon abzukommen ohne es zu wollen."
Amentiam nahm das Wettern und den ruhigen Zorn des gefallenen Engels mit stoischer Gleichmut an, sah nur in dessen Augen, dann auf dessen Hand und wischte letztere dann mit einer ruckartigen Handbewegung fort. Lucilles Worte regten, weckten nichts in ihm. Nicht einmal Mitleid. Nicht einmal Spott.
"Mag sein.", ruhig klang seine Stimme, gleichbleibend sanft, doch nie tröstend. Schnee, der aus den Wolken fiel, vom Wind getragen wurde und die kalte Erde mit vergänglichen, glitzernden Lippen küsste. "Dennoch werde ich ihn gehen."
Einen Moment lang starrte Lucille den Schattenengel an, die Augen verdunkelt, die Miene regungslos.
Dann aber zuckten seine Mundwinkel und er begann zu kichern.
Und daraus entstand ein herzhaftes Lachen, gerade so, als hätte jemand einen besonders amüsanten Witz erzählt.
"Dann geh, mein Brüderchen", antwortete er glucksend und legte eine Hand auf Amentiams Schulter, führte ihn Richtung Tür. "Geh deinen Weg, der dir so heilig ist.
Aber wenn du einst auf dem Scheiterhaufen brennst oder im Staub liegst, während Schande sich in deine Haut bohrt, erinnere dich an meine Worte:
Du warst bereits ein Verstoßener, als du die Augen geöffnet hast, dazu verdammt, ein Sünder zu werden."
"Ich bete für deinen Sohn und für dich, Gefallener." Amentiams - für seine Verhältnisse - scharfzüngige Bemerkung wurde sanft ausgestoßen, kalter Winterwind, melodisch von gläsernen Glöckchen und silbrigen Gesängen untermalt. Der Schattenengel öffnete die Tür, wandte sich ohne zu zögern ab. Ohne auch nur einmal über die Schulter zurück zu blicken.
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