#1

01: Eine Nacht im Badezuber

in Herbst 516 04.06.2015 15:55
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Viele Zeit hatte Ailis in den verbleibenden Tagen des Sommer mit Selail am Strand verbracht.
Schwimmen gelernt hatte sie noch nicht, dazu hatte das Wasser ihr zu viel Angst eingejagt, mit kühlem Nass und plötzlichen Wellen.
Doch sie hatte viel anderes gelernt. Über Selail. Über die Selkies.
Sie hatte gelernt, dass die meisten von ihnen friedliche Geschöpfe waren, die lange und tief liebten, wenn sie es denn taten. Dass ihre Kinder immer einen Sterblichen und einen Selkie als Elternteile haben mussten und dass Familienbeziehungen deswegen mitunter schwierig wurden. Dass man in ihren Gesichtszeichnungen lesen konnte, weil sie wiederspiegelten, wie das Leben ihnen mitgespielt hatte.
Auch Selail kannte sie nun besser, gut genug, um ihn einen Freund nennen zu können, um Wärme in ihrer Magengrube und ein Lächeln in ihrem Gesicht zu spüren, wenn sie ihn anblickte. Sie wusste, dass er Marzipan- und Pistazienkuchen verabscheute, während er Erdbeeren und Schokolade liebte. Sie wusste, dass er sanft und wissbegierig war, jedoch anscheinend ein ähnlich behaftetes Verhältnis zu seinen Eltern hatte, wie sie selbst zu ihren. Sie merkte ihm an, wenn es ihn zurück ins Wasser drängte.
Es war ein guter Sommer, ein leichtherziger wie schon lange keiner mehr.
Doch er war dem Herbst gewichen und dieser hatte nicht nur bunte Blätter und warmes Licht, sondern auch Regen und Melancholie gebracht. Die Strandtage waren weniger geworden und obwohl Ailis wusste, dass ein neuer Sommer kommen würde, war sie bei weitem nicht so sicher, ob sie ihn auch wieder mit Selail verbringen können würde.
Sie hatte nie nachgehakt, was aus seiner Brautschau geworden war, doch sie ahnte, dass er, sobald er eine gefunden hätte, gehen und sich vollends dieser zuwenden würde.
So war das Leben.
Neue Gesichter traten in Ailis’ Leben, schenkten ihr flüchtige Aufmerksamkeit und ließen sie dann zurück, zugunsten anderer, wenn sie die Welt nicht für immer verließen.
Sie wusste es und der Gedanke schmerzte sie, doch sie konnte ihn weder verbannen, noch Selail fortschicken, bevor er selbst gehen und sie verletzen würde.
Und so kam es, dass sie sich Ailis einem besonders regnerischen Tag mit ihrem Selkiefreund in der Bibliothek wiederfand, jenem ruhigen, sanften Ort, an dem sie sich immer wohlfühlte, und mit ihm einen Stapel neuentdeckter Märchenbücher durchstöberte.

Der Sommer war angenehm gewesen. Unterhaltsam und sehr lehrreich. Selail war nicht auf Brautsuche gewesen, so hatte er zumindest erzählt, doch das hielt seine Geschwister nicht davon ab ihn zu necken, dass er doch schon seine Braut hätte. Der Spott war ebenso fremd, wie das plötzliche Drängen seines Vaters. Nicht direkt ein Drängen, aber der alte Selkie, dessen Gesichtszeichnung mehr wirren Flecken als einen Muster ähnelte, hatte plötzlich immer mehr die Nähe zu seinem Sohn gesucht, trotz der Tatsache, dass er die vorherigen Hundert Jahre auch nicht dagewesen war.
Und es hatte ihm auch nicht geschmeckt, dass Selail einer Außenstehenden so viel verraten hatte. Wo sein Clan lebte, wo ihre Erinnerungsorte waren und über das Leben der Selkies als Rasse.
"Ailis." Der Selkie sah von seinem Buch auf, der Seite zehn von über zweihundert. Mehr als Zehn Seiten hatte er innerhalb von anderthalb Stunden nicht geschafft. Zu fremdartig waren die Buchstaben, tanzten über die Seiten und verknoteten fast sein Hirn. Selail rieb sich leicht die Schläfe, ehe er sein Kinn auf seine Hand stützte, träge entspannt zu der jungen Frau hinüber sah, die ihm gegenüber beinahe in ihrem Buch verschwand. "Mir ist aufgefallen...du hast mich nie nach meiner Brautsuche gefragt."

Nervös schaute Ailis von ihrem Buch auf, riss sich von ihrer Geschichte über den Fluch einer Nixe los, und blickte direkt in Selails helle Augen.
Sacht nickte sie.
"Habe ich nicht ..."
Jetzt wird er mir sagen, dass er eine Frau gefunden hat, dachte sie und ihr Herz krampfte sich dabei zusammen. Sie wollte nicht, dass es endete, wollte diese Leichtigkeit, diese Freude, dieses warme Gefühl, welche sie im seiner Gegenwart überkamen nicht verlieren.
Trotzdem, obwohl sie sich lieber wieder hinter dichtbeschriebenen Seiten versteckt hätte, fragte sie tapfer:
"Hast du jemanden gefunden?"

"Ja." Selail grinste breit und legte den Kopf leicht schief. Er spielte mit der freien Hand an den Kanten seines Buches, das ihm so große Probleme bereitete. "Ich hab den Sommer mit ihr verbracht."

Ailis blinzelte und spürte, wie Röte in ihre Wangen stieg. Wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Hoffnung schöpfte.
"Ich ... ich glaube, dass ich auch jemanden gefunden habe", nuschelte sie und fügte dann ein wenig deutlicher hinzu: "Ich habe auch den Sommer mit ihm verbracht."
Nach diesen Worten verstummte sie, hielt den Atem an.
Sie fühlte sich, als hätte sie gerade etwas unsagbar Mutiges von sich gegeben, wusste aber nicht im Mindesten, ob es klug gewesen war.

Der Selkie grinste breiter und spielte mit einer seiner Haarsträhnen, schlug eine scheinbar unschuldige Stimme an.
"Und... kenne ich diesen Glückseligen fremden Mann?" Selail neigte sich vor, die Unterarme auf den Tisch gestützt. "Ich muss ihn beglückwünschen."

"Ich glaube schon, dass du ihn kennst", murmelte Ailis verlegen. "Sehr gut sogar."
Scheu blickte sie in Selails Augen, die schön und blau auf ihr ruhten.
"Glaubst du denn, dass er das gleiche in mir sieht, wie ich in ihm?"
Sie hoffte es, betete, dass er keinen Scherz mit ihr trieb.
Dass es ihm so ernst war wie ihr selbst.
Noch einmal könnte sie das nicht ertragen.

"Glaubst du wirklich, ich wäre hier, wenn es nicht so wäre?", Selail ließ die spielerische Fassade fallen, lehnte sich vor und sah die junge Frau forschend an.

"Ich ... ich weiß nicht ... bestimmt nicht?", sprudelte es aus Ailis hervor. Ihr Verstand schien nicht in der Lage, sinnvolle Sätze zu bilden oder wenigstens nicht, sie ihrem Mund angemessen zu übersetzen.
Sie schaute beiseite, atmete tief durch.
Dann sagte sie schließlich leise, aber deutlich ruhiger:
"Es tut mir leid.
Ich war noch nie ... also, nicht oft ... nur einmal, meine ich ..."
Sie verstummte, sobald sie bemerkte, dass sie sich wieder in dumme Wortgeflechte verstrickte.
Mit hochroten Wangen starrte sie die Tischplatte an und erst, als sie sicher war, dass dadurch kein Loch darin entstehen würde, in dem sie versinken konnte, streckte sie die Hand aus und legte sie zögerlich in Sels, schaute wieder zu ihm auf.
"Ich ... ich will noch mehr Tage mit dir verbringen, Selail.
Ich will nicht, dass du eine Andere aussuchst.
Ich will dass du bei mir bleibst."

Sacht schloss Selail seine Finger, umfing Ailis' wesentlich zierlichere Hand mit der eigenen. Er grinste wieder und sagte diesmal mit aufrichtiger Ehrlichkeit in der Stimme:
"Ich brauche keine Braut mehr zu suchen. Ich habe sie gerade gefunden."

"Danke", hauchte Ailis und lächelte mit einem Mal.
"Danke. Ich muss auch nicht mehr suchen."
Ohne Selails Hand loszulassen, die so zärtlich und warm um ihre eigene lag, erhob Ailis sich und umkreiste den Tisch. Selbst im Sitzen war der Selkie nicht kleiner als sie, aber er hatte nun genau die richtige Größe für ihr Vorhaben und so küsste sie vorsichtig seine Wange.
Mehr wagte sie nicht.

Selail lächelte und legte langsam einen Arm um ihre Taille, zog sie vorsichtig heran. Sein Ziel war es, dass sie auf seinem Schoß saß, nicht verschreckt davon huschte.

Ailis’ Herz begann, schneller zu schlagen, wieder schoss Blut in ihre Wangen, doch sie leistete keinen Widerstand, ließ zu, dass Selail sie an sich zog. So ungewohnt es auch war, auf seinen Schoß zu sitzen, ihm so nah zu sein und von ihm gewärmt zu werden, es machte ihr keine Angst. Es fühlte sich gut und an und richtig.
Und war es nicht dieses Gefühl, das zählte?

Lachend schmiegte Selail seine Wange an ihr rotes, weiches Haar, sein Körper vibrierte leicht von seinem Lachen wieder.
"Unter Selkies gibt es keine roten Haare. Deswegen war ich vollkommen fasziniert als ich das erste Mal jemanden mit roten Haaren sah."

"Unter uns Menschen sind sie auch nicht häufig.
Aber ich glaube, meine Großmutter hatte sie."
Ailis musste lächeln, schwieg eine Weile selig.
Dann fügte sie hinzu:
"Und ich war von deiner Gesichtszeichnung fasziniert.
Bin es noch."

"Ich habe auch oft gesehen, wie Menschen sich die Gesichter bemalten. Warum ist meines so viel faszinierender?" Selail wackelte leicht mit den Beinen, ließ Ailis spielerisch wippen, hielt sie doch schützend, stützend fest.

Ein leises Lachen stieß Ailis aus, als sie so sanft geschaukelt wurde.
"Sie bemalen sich anders.
Sie schminken Lippen und Backen rot oder die Haut weiß, aber diese Muster", sie hob vorsichtig die Hand und zog mit dem Finger eine feine Linie auf Selails Wangenknochen nach, "sind anders. Ungewöhnlich. Einzigartig."
Sacht lehnte sie die Schulter an seine Brust, schmiegte sich leicht an.
"Sie passen zu dir."

"Sie sind nur meine Lebenslinie." Selail legte den Kopf schief und schmiegte die Wange an Ailis' Berührung.

"Wir haben so etwas nicht", erwiderte Ailis leise, während sie nachdenklich weiter über das Muster fuhr. Wie ein Leben, so sah es wahrlich aus. Mal weich und verspielt geschwungen, mal voll scharfer Kurven und spitzen Enden.
Selail musste schon viel gesehen und erlebt haben.
Viel mehr als sie, die das Leben nur aus Büchern kannte und kaum wagte, es aus nächster Nähe zu begutachten.
"Wir bekommen nur Falten."

"Stimmt nicht ganz", Selail legte das Kinn auf ihre zarte Schulter und nahm ihre Hand, spreizte sie sacht auf, dass Ailis auf ihre eigene Handfläche niederblickte. "Nur haben die Menschen ihre nicht im Gesicht und auf den Schultern."

Ailis folgte Selails Blick, lehnte ihre Wange dabei sanft an seine.
"Ich habe gehört", murmelte sie, "dass man darin die Geschichte eines Menschen lesen kann.
Aber ich dachte, das sei nur ein Ammenmärchen ..."
Sie hörte, wie der Regen wieder einsetzte, wie dichte, schwere Tropfen auf die Glaskuppel des Bibliothekhauptraumes fielen. Es war nicht unerwartet, den ganzen Tag lang hatte es schon geregnet, doch nun war es, als würden alle Engel weinen und die Dunkelheit, welche die schwarzen Wolken mit einem Male brachten, fiel sogar im durch Lampen gut beleuchteten Saal auf.
Hoffentlich wird es kein Gewitter geben...

"Oh... ", Selail sah auf und begann dann Ailis sanft aber bestimmt von seinem Schoß zu schieben. "Ich sollte gehen ehe es zu sehr stürmt."

Sacht nickte Ailis und erhob sich.
"Natürlich ..."
Natürlich fühlte sie Enttäuschung, hatte sie doch gehofft, noch etwas mehr Zeit mit ihrem ... Bräutigam, konnte sie ihn schon so nennen? Jedenfalls hatte sie gehofft, dass Selail länger bleiben würde.
Aber sie war die letzte, die die Gefahr eines wütenden Sturms unterschätzen würde.
Nein, wenn es um Sicherheit ging, war Zeit kein Opfer.
"Sei vorsichtig."

Seufzend erhob der Selkie sich, strich seine, vom langen Sitzen zerknitterte Kleidung glatt.
"Ich komme so bald wie möglich wieder", versprach er und hauchte einen kurzen Kuss auf ihre Stirn.

Ailis schenkte ihm ein kleines Lächeln.
"Ich werde hier warten."
Flüchtig strich sie über Selails Arm, eine schüchterne Abschiedsgeste, die ihr trotzdem wundervoll erschien.
Ja, sie würde da sein.

Der Selkie grinste breiter und huschte dann aus der Bibliothek. Er versuchte es wirklich, vor allem sich gegen den heftigen Wind und eiskalten regen der mehr Nadelstichen glich anzukämpfen. Doch hatte er innerhalb von zu viel Zeit zu wenig Boden gut gemacht, als dass er es rechtzeitig zu irgendeinem Gewässer geschafft hätte.






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#2

RE: 01: Eine Nacht im Badezuber

in Herbst 516 04.06.2015 15:55
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

"Ailis!", eine halbe Stunde später stand Selail triefnass am Eingang der Bibliothek, die Lippen bereits trocken, rissig und aufgesprungen, Augen glasig und die Haut matt, fiebrig.

"Selail!"
Vor Schreck ließ Ailis das Buch fallen und sprang auf, rannte auf den Selkie zu, der dort nass und alles andere als munter im Eingang stand.
"Was ist los, warum bist du nicht im Meer?"
Sie hatte nicht gezählt, wie lange er heute schon an Land war, doch nach ihrer Rechnung war es höchste Zeit, dass er zurück in seine nasse Heimat kehrte.

"Schaffe es nicht ", die Worte fielen einfach aus Selails Mund, er lallte leicht und nuschelte, als würde seine Zunge trocken und klebrig an seinem Gaumen kleben und jedes Wort undeutlich und gedämpft vorbei lassen. "Der Sturm hält mich auf "
Kaum zu glauben, er würde hier sterben. Jetzt.

Nein ...
Das kann nicht sein.
Das darf nicht sein!

Und in diesem kurzen Moment, in dem Ailis wie angewurzelt und starr vor Angst vor dem austrocknenden Selkie stand, formte sich in ihrem Geist ein Gedanke.
"Selail", sagte sie und packte seinen Arm. "Ich bringe dich ins Wasser."
Sie schon Selail so gut sie eben konnte vor sich her, doch nicht in Richtung des Ausgangs. Stattdessen lenkte sie ihn auf den Korridor zu, welcher die Bibliothek mit dem Wohngebäude verband.
"Muss es Salzwasser sein?"
Denn was war das Meer, wenn nicht eine große Menge angesammelten Salzwassers?

"Nein...nur Wasser." Selail stolperte, hielt sich an der Wand aufrecht. Sein Atem ging rasselnd, schwer und unregelmäßig, während seine Augen sich immer weiter trübten. Seine Haut juckte und spannte, als hätte er die Liebkosungen des Feuers ertragen müssen.

Ailis hatte nicht nur das Glück, ein Zimmer recht nahe der Bibliothek zu bewohnen, sondern auch einen kleinen zusätzlichen Raum zur Verfügung zu haben, der daran angrenzte und in dem sie sich waschen konnte.
In diesen schob sie Selail, auf dessen Haut sich mit jeder Sekunde mehr Schweißtropfen zu bilden schienen, der zunehmend an Kraft und Farbe verlor.
"Steig darein", sagte sie ihm, hastig auf den hölzernen Badezuber deutend, und zögerte nicht, sogleich kühles, frisches Wasser einzulassen.

Benommen starrte Selail den Zuber einen Moment an, dann reagierte er erstaunlich schnell, schleuderte ungeschickt seine Kleidung vom Leib und tauchte dann unter, rollte sich zusammen in der hölzernen Wanne. Das Wasser schlug über seinen Kopf zusammen und sein Körper reagierte instinktiv. Die Beine schwanden einer starken Robbenflosse, Kiemen und kurzes, dunkles Fell spross, die Kiefer wölbten sich leicht vor, neue Muskeln und stärkere Zähne ersetzten das Gebiss des Menschen.

Reflexartig zuckte Ailis zusammen, als Selail sich in das Becken stürzte und innerhalb weniger Sekunden plötzlich eine völlig andere Gestalt angenommen hatte.
Doch der Schreck währte nicht lange.
"Ist es besser?", fragte sie sanft. "Ich kann auch noch Salz holen, wenn sich das besser für dich anfühlt."

Der Selkie tauchte auf, streckte nur den Kopf über den Wasserspiegel und stieß ein sanftes Geräusch aus, ähnlich einem Gurren. Seine Stimmbänder waren nun nicht mehr in der Lage menschliche Worte zu bilden, aber er konnte Ailis auch so mitteilen, dass er kein Salz brauchte. Das Wasser genügte.

Ailis lachte leise.
"Das freut mich."
Neugierig ließ sie ihre Augen über Selail gleiten, denn in dieser Gestalt hatte sie ihn so nah noch nie gesehen.
Vorsichtig streckte sie die Hand aus und strich über seinen Kopf, fühlte das glatt anliegende Fell dünn und nass unter ihren Fingern.

Selail schloss leicht die inneren und äußeren Augenlider, neigte leicht den Kopf an ihre Hand. Es fühlte sich gedämpfter an als auf der bloßen Haut.

Schließlich musste Ailis doch ihre Hand zurückziehen.
"Ich muss noch einmal zur Bibliothek", erklärte sie sanft.
"Kann ich dich kurz allein lassen?
Soll ich dir etwas zu Essen mitbringen?"

Selail gurrte wieder leise und tauchte dann den Kopf unter, verschwand wieder in dem Wasser. Es war zwar ziemlich eng und morgen würde er einen Steifen Nacken davon tragen, aber besser ein paar Tage Nackenschmerzen, als Tod.

Ailis bemühte sich, in der Bibliothek rasch ihre letzten Aufgaben für den Tag zu erledigen. Als das endlich getan war, schloss sie die Türe zu ihrem Lieblingsort und ging zurück zu ihrem Zimmer, machte auf dem Weg nur einen kurzen Abstecher in den Speisesaal, um etwas zu Essen zu holen. Etwas, das sie - wie so oft - beinahe vergessen hätte.
Mit einem kleinen Korb in der rechten Hand, stieß sie schließlich mit der linken die Tür zu ihrer Kammer auf und eilte als erstes in den kleinen Waschraum, wo sie erleichtert feststellte, dass Selail wohlauf war.
Lächelnd ließ sie einen getrockneten Hering auf der Ablage neben dem Badezuber zurück. Genau in der Reichweite ihres Selkies.
An diesem Abend ließ Ailis die Tür zum Badezimmer einen Spalt breit offen, als sie sich mit einem Buch in ihr Bett kuschelte.
Sollte Selail rufen, wollte sie es hören.

Eine nasse, krallenbewehrte Hand mit Schwimmhäuten zwischen den pelzigen Fingern schob sich aus dem Wasser, tastete über die Ablage und schnappte sich den Hering, verschwand mit der Beute wieder unter die Oberfläche.

Die Nacht verlief recht ruhig.
Zwar hörte Ailis immer wieder, wie das Geräusch von Tropfen, die von draußen gegen das Fenster schlugen, lauter wurde, und auch das Heulen des Windes entging ihr nicht, doch niemals wurde sie von Blitz oder Donner aufgeschreckt.
Kurz nachdem sie schließlich die Lampen gelöscht und sich in ihre Bettdecke gekuschelt hatte, hörte sie, wie ihre Zimmertür ging und spürte kurz darauf eine kühle, feuchte Nase an ihrer Wange.
Lächelnd zog sie Yua an sich, vergrub das Gesicht im Fell der Füchsin, das im Dunkel des Zimmers matt zu leuchten schien, und schlief so durch die Nacht.

Als Ailis am nächsten Morgen erwachte, lag sie wieder allein in ihrem Bett.

Die Befürchtung eines steifen Genicks war sogar noch schlimmer als gedacht. Selail hob den Kopf und stieß ein missbilligendes Knurren aus, ehe er sich höchst unelegant aus der Wanne rollte, sich abtrocknete, sobald seine Beine wieder Form angenommen hatte, er nicht mehr nur aus nassem Fell bestand.
"Verdammter Sturm.", murrte der Selkie, während er sich seine Kleider überstreifte und aus dem Bad stakste, sich abwesend den schmerzenden Nacken reibend. "Verdammtes Wetter."

"Morgen", murmelte Ailis und hob den vom Schlaf zerzausten Kopf, als Selail ihr Zimmer betrat.
Blinzelnd schaute sie ihn an, rieb sich die Augen.
"Ist alles in Ordnung mit dir?"
Sie lächelte. Er wirkte nicht allzu gut gelaunt, aber wohlauf.
Gesund.
Lebendig.

"Ich lebe noch." Selail grinste breit und streckte sich, fuhr aber zusammen als all seine Wirbel knackend ihre Verspannungen lösten. Der Selkie strich sich abwesend über die Stirn und lächelte dann breit. "Und ich hab meine Braut in Reichweite. Ich bin ein glücklicher Selkie. Selbst ein paar schmerzende Muskeln ändern daran nichts."

Ailis war noch nicht lange genug wach, um darauf viel zu antworten.
"Freut mich", sagte sie also leise, begleitet von einem rosigen Schimmer auf ihren Wangen.
Nun setzte sie sich ganz auf, strahlte Selail mit ihren grünen Augen an. In ihrem kleinen Zimmer, zwischen zahlreichen Bücherstapeln stehend, wirkte er mit seiner kräftigen Statur und dem hohen Körperbau noch größer als sonst.
"Du kannst dich setzen, weißt du", fügte sie hinzu und rutschte etwas beiseite, sodass eine große, freie Stelle auf ihrem Bett entstand.

"Ich habe irgendwie zu viel Respekt davor, von Büchern erschlagen zu werden.", Selail lächelte, doch etwas in seinem Blick flackerte, ein Runzeln bildete sich auf seiner Stirn, während er sich suchend umsah.

Ailis legte den Kopf schief.
"Warum sollten sie das tun?", fragte sie amüsiert. "Hätten sie einen Grund dazu?"

"Nun, es sind ziemlich viele", mit einem Schulterzucken blickte Selail sich weiter um, entspannte sich wieder leicht. "Wie auch immer. Danke für den Badezuber...."

"Ich bin froh, dass es funktioniert hat", erwiderte Ailis. "Dass es dir gut geht."
Einen Moment lang hatte sie befürchtet, dass Selail nicht genügend Platz haben würde, schließlich war der Zuber nicht darauf ausgelegt, dass Männer seiner Größenordnung sich ganz hineinquetschten, um darin zu schlafen.

"Es...war ausreichend." Selail kratzte sich verlegen am Hinterkopf und verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. "Dennoch sollte ich zu meinem Clan zurück, bevor sie mich offiziell für Tod erklären."

Ailis’ Blick wurde ernst und sie nickte.
"Das ist wohl besser."
Sie stieg aus ihrem Bett und legte zögerlich die Arme um Selail, schloss ihn in eine schüchterne, kurze Umarmung.
"Bis dann ..."
Nachdem er gegangen war, legte sich Ailis noch einmal ins Bett, lauschte ihrem Herzschlag, labte sich an dem warmen Gefühl in ihrem Inneren und dachte an den Selkie, der nun wohl ihr Bräutigam war.






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