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04. Perlen für Brot

in Herbst 519 07.09.2015 16:32
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

So viele Menschen, so viel Leben. Daryl hätte vermutlich verängstigt sein sollen. Doch nun war ihm nur noch kalt. Mehr noch als sonst, er war in seinem ihm fremden Körper gefangen, ertrank in Eiswasser, in der Furcht vor all dem Fremden.
Wo bist du?
Nervös kaute er auf der Unterlippe, drückte sich am Rand des Platzes entlang, huschte fort von der Menschenmenge. Sein Mantel, lang und vormals in schönem Lindgrün, war voller Schlamm, der Saum eher braun als golden bestickt. Seine Stiefel waren durchgelaufen, er war Nass, klamm. Seine edle Kleidung, verdreckt und abgenutzt von zu langer, zu hastiger Reise, lag eng vor kalter Feuchtigkeit am gertenschlanken Leib, sein langes Haar klebte an Wangen und Hals, er schlotterte leicht.
Warum bist du nicht hier?
Ich sehe dich nicht...

Seine Finger schlossen sich fester um die schimmernden Perlen, die goldene Fassung rieb leicht aneinander. Seine Ohrstecker, sein einziges Erinnerungsstück.
Ich hab so ein Hunger...
Wie lange warte ich schon?

Die gesuchten Worte auf dem Schild über einem Laden, Daryl huschte hinein, als ein Kunde den Laden verließ.

Alrian hatte keine Zeit, sich nach dem Verschwinden des letzten Kunden, wieder seiner Skizze zuzuwenden, als auch schon der nächste sein Geschäft betrat. Eilig schob er das Blatt Papier beiseite und drehte es um, damit niemand seinen lächerlichen Versuch, einen träumerischen Gedanken mit einem Stift auf die weiße Fläche zu bannen, zu Gesicht bekam.
"Was gibt es? Geldprobleme oder ist dir was ins Auge gesprungen?"
Die Frage war überflüssig, bei dieser abgerissenen Gestalt, die den Laden betrat. Vielleicht waren die Kleider eins hübsch und leicht gewesen, gar nicht so unähnlich denen, welche die reichen Adorys und Maraqel in seiner Heimat zu tragen pflegten, aber der Glanz war abgefallen. Und zerlumpte Seide sah noch schäbiger und trauriger aus, als zerrissener Wollstoff.
Erst als der junge Mann den Kopf hob und ihn direkt aus katzenhaften Augen - einem grünen und einem goldenen - anschaute, realisierte Alrian, dass ihm ein anderer Hochelf gegenüberstand. Spitze Ohren, die zwischen den nassen, am Schädel klebenden Haare hervorstachen, ein schmales, feingeschnittenes Gesicht. So schön, so vertraut, so schmerzhaft.
Augenblicklich veränderte Alrian Haltung sich, er erhob sich, wurde angespannt und wachsam, wie jemand, der ein Raubtier beobachtete. Unbewusst geschah das, unwillkürlich, und ebenso automatisch, stellte er sich dem anderen Mann vor.
"Oh, ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich ein anderer Hochelf mal in meinen Laden verirren würde. Womit kann Alrian Feos Deras dienen?"

Warum starrte er ihn an?
Daryl verlagerte unangenehm berührt das Gleichgewicht auf das andere Bein.
Warum starrst du mich an?
Sich die spröden Lippen befeuchtend erwiderte Daryl den Blick, starr, verzweifelt entschlossen nicht klein bei zu geben.
Dabei würde er sich am liebsten in den Tiefen seiner Kapuze verkriechen, bis nur noch seine Nase herauslugte, noch tiefer wenn es denn ging.
Es wurde so still. So unendlich still.

Ein hübsches Gesicht hatte Alrians Kunde. Glatt, unberührt, es zeugte nicht von einer Jugend in Armut. In Demut. Dazu die ehemals teuren Gewänder, die Verweigerung der grundlegenden Höflichkeit, den eigenen Namen zu nennen ...
"Adorys, hm?"
Alrians Stimme zerteilte die stille Luft scharf und hart wie ein Messer. Sein Gesicht verdunkelte sich, er verschränkte die Arme und machte keinen Hehl aus seiner Abfälligkeit. Er hatte lang genug gekniet, so oft den Rücken gebeugt, dass es ein Wunder war, dass seine Wirbelsäule noch nicht in tausend Teilchen zersplittert war. Er würde es nicht wieder tun. Er hatte sein altes Leben nicht gegen Freiheit getauscht, um nun auch diese zu verlieren.
"Hast du dich in der Stadt verlaufen, Goldkind, und willst von mir wissen, wie du zurück zu deinen Eltern ins Gasthaus kommst?
Oder hast du hier was Hübsches gesehen, um ein Mädchen zu bezirzen?"

Groteskerweise brachten diese schroffen Worte ihn zum Lächeln. Ein trauriger, fahler Abklatsch eines Lächelns, tot und freudlos. Daryl trat langsam näher, ließ die Perlen auf die glatte Oberfläche der Theke fallen. Nicht aus großer Höhe, eher sanft und vorsichtig.
Die scharfen Worte des Feos hätten einen anderen bestimmt verletzt oder abgestoßen. Aber Daryl begrüßte den Schmerz, denn vielleicht...eventuell rissen sie neue Wunden auf, brachten heißen Schmerz in das kalte Einöd seiner Inneren Seele.
"Mein Name ist Daryl...Adorys Theiren." Seine Kehle war rau, heiser. Die letzte Nacht auf der Straße, besser in einem Torbogen war ihm nicht bekommen. "Ich will die hier verkaufen."

"Hmmm..."
Alrians Aufmerksamkeit löste sich ein wenig von dem Besucher, der sich Daryl nannte, und richtete sich auf die Perlenohrringe. Er nahm die winzigen Schmuckstücke zwischen die Finger, begutachtete sie nachdenklich.
Hervorragend waren sie gearbeitet, würden nicht nur seinem Kunden, sondern auch ihm selbst ein hübsches Sümmchen einbringen.
"Weißt du, was die wert sind, Goldkind?"

Warum nennt er mich Goldkind?
Daryl schwieg.
Stattdessen sah er auf die Perlen herab, verbarg die Augen hinter goldenen, langen Wimpern und Strähnen von klammem Haar, das in sein Gesicht fiel.
"Nein."

Zum allerersten Mal in der Welt hier draußen, hm?
Alrian seufzte entnervt.
"Fünf Löwen gebe ich dir dafür. Du kannst sie zurückkaufen, aber für jeden Tag gibt es Zinsen, einen Falken in diesem Fall. In zwei Wochen versteigere ich sie dann an den Höchstbietenden."

"Einverstanden", flüsterte Daryl, nahm das entnervt wirkende Seufzen und ließ es wie ein heißer Blitz durch seine erkalteten Gedanken fahren. Der Blitz verpuffte zu schnell. Ragte nicht einmal weit in die Eiswüste, die hervorragend Daryls innere Welt beschrieben. Er streckte sacht die Hand nach den Münzen aus, achtete nicht darauf dass sein Ärmel rutschte.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah Alrian etwas aufblitzen. Vernarbte Haut, ein Handgelenk voller alter Schnitte. Seine Brauen zogen sich leicht zusammen und er fragte sich flüchtig, was ein verwöhnter und vom Leben gesegneter Adorys für einen Grund haben mochte, sich das Leben nehmen zu wollen.
Vermutlich den selben, aus dem er zu mir kommt und seinen Schmuck verkauft.
"Falls du noch keine Unterkunft hast, frag jemandem nach der Wasserschlange", sagte er. Und um nicht zu freundlich zu klingen, fügte er hinzu: "Denk nicht dran, hier bei den Händlern unter einem Vordach zu schlafen. Das vertreibt die Kunden und die Stadtwache wird dich von der Straße prügeln."

Daryl merkte gar nicht mehr, wie sein Blick leer wurde, er sich in den kalten Scherben seines selbst verkroch. Seine Finger schlossen sich um Münzen, lange nicht so kühl in ihrer goldenen Perfektion wie er. Ein Wunder dass sein Atem nicht Frost und Schnee brachte, dass Eisblumen nicht auf seinem Leib wuchsen. Und die Maden sich durch sein lebloses, verrottetes Fleisch fraßen.
Ich will bei dir sein.
Ohne ein weiteres Wort zog er sich zurück, wurde gestoppt von etwas, das in der Auslage lag, eine ovale Brosche so schien es, aus feinem Edelholz. Doch konnte er hinter der schwarzbraunen Hülle das Ticken vieler feiner Zahnräder hören.
Für einen Moment fühlte Daryl Neugierde.

Schweigend und mit scharfem Blick beobachtete Alrian den jungen Mann. Hübsch war er, zart, seine reine Haut bettelte nahezu danach, berührt zu werden und sein Haar würde trocken und gekämmt vermutlich schimmern wie Gold. Er war das Bild eines Adorys... und trotzdem waren da diese leeren Augen und eine Aura der Verzweiflung, die ihn eher bemitleidenswert als anziehend erschienen.
Wenn Alrian aber eines wusste, dann war es, dass Mitleid mit seinesgleichen eine Verschwendung war.
"Gibt es noch etwas, Goldkind, oder willst du weiter den Durchgang versperren und meine andere Kunden vergraulen?"

Ohne ein weiteres Wort riss Daryl den Blick von dem fremdartigen Schmuckstück fort, eilte rasch aus dem Laden. Draußen hatte es erneut begonnen zu regnen, Daryl begrüßte den feinen, kalten Sprühregen, hielt kurz das Gesicht hoch, dann jedoch setzte er seine Kapuze auf und verschwand in der Menge, die er so fürchtete.

Kopfschüttelnd schaute Alrian dem Adorys nach, ehe er sich wieder seiner Skizze zuwandte, bereit, die Begegnung so schnell wie möglich wieder zu vergessen.
Doch irgendetwas hatte der Besuch dieses Jungen in ihm ausgelöst. Hervorgelockt, konnte man sagen. Etwas, das sich nicht einfach wieder einsperren ließ, das an ihm zupfte und zerrte, ihn ablenkte, ihn beinahe wahnsinnig machte. Quälend langsam verstrich der restliche Tag und Alrian war so froh wie selten, als er am Abend endlich die Tür seines Pfandhauses abschließen konnte.
Als er später sein Lieblingsbordell "Zur roten Grafentochter" besuchte, um sich abzulenken und die Zeit ein wenig zu versüßen, fragte er nicht wie er es sonst meist tat nach einem Mädchen, sondern folgte einem jungen Mann in dessen Zimmer.






zuletzt bearbeitet 11.02.2016 12:02 | nach oben springen
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