07. Weltensterben
"Warum kann man unter Wasser nicht atmen?"
Eine unschuldige Frage, Indivia konnte beinahe sein eigenes, jüngeres Abbild sehen, wie es vor ihm stand, anstelle von seiner Mutter. Seine eigenen, jüngeren Augen voller Elan, Neugierde und Leben. Seine jetzigen, älteren, so ahnte er, mussten dunkel gezeichnet sein. Schlafmangel und Alpträume raubten ihm den Atem.
"Warum tut man das?"
Das? Was?
Indivia schüttelte den Kopf, rieb sich die geröteten Augen und konzentrierte sich auf die Figuren auf dem Brett vor sich. Wo er nochmal?
Im Salon, im Anwesen von Lord Ashsteel. Elliot. Es war so schwer zu entscheiden, wie er den Lord ansprechen sollte.
Nun, im schwindenden Licht des sterbenden Herbsttages im Salon zu sitzen, ein Spiel zu erlernen, dass viel zu kompliziert für ihn wirkte, vermutete Indivia, dass 'Elliot' in Ordnung war.
Stumm beobachtete Indivia, wie er eine weitere seiner Figuren verlor, legte dann den Kopf leicht schief, Alpträume im Kopf, eine Stimme im Ohr schreiend. Er leckte sich die Lippen.
"Ich frage mich..." Indivias Stimme klang rau. Als hätte er die ganze Nacht geweint. Hatte er auch, denn diese Alpträume, so ahnte er, waren Erinnerungen. Tote Bilder, doch nicht vergessen. "Ihr fragt mich oft nach meiner Kindheit. Nach allen möglichen Dingen und vor allem meiner Familie. Beneidet Ihr mich um sie?"
Weil Eure so kalt...so grausam war
Stirnrunzelnd, die Dame noch zwischen den langen, schlanken Fingern, schaute Elliot vom Spielbrett auf und in die grünen Augen seines Goldkehlchens. Müde wirkte es heute, schwermütig. Er wusste nicht, woran das lag, aber vorzuwerfen hatte er sich nichts. Er hatte so viel Zeit mit Indivia verbracht, wie es ihm eben möglich war, und er hatte sich mit Boshaftigkeiten zurückgenommen. Selbst Emilia hatte das honoriert, indem sie etwas freundlicher zu ihm geworden war.
"Wie kommst du darauf?", fragte Elliot und es war eine Frage, die er sich wirklich stellte. Er sprach nie über seine Vergangenheit, denn was gab es da schon zu erzählen, außer, dass er den Großteil seiner Kindheit mit Eltern verbracht hatte, die ihn verachtet hatten. Ein Vater, der wie ein läufiger Hund mit seiner Schwester schlief und ihr wie einer gehorchte, eine leibliche Mutter, die ihren Bruder manipulierte und sich dabei an ihrer Macht ergötzte, eine Ziehmutter, die das kleine Kind verabscheute, das man ihr aufgezwungen hatte. Das waren keine Dinge, von denen man beiläufig erzählte, und Elliot war es lieber, es beim Schweigen zu belassen. Es war geschehen und wahrscheinlich hatte er es auch nicht anders verdient.
"Ich habe danach gefragt", fuhr der Lord fort und wandte den Blick wieder dem Spiel zu, zog seine schwarze Figur probeweise in mehrere möglichen Richtungen, "weil ich mich dafür interessiert habe, wie ein Kind wohl unter den Lioda'Shao lebt. Neid habe ich nie verspürt."
Schmunzelnd setzte er seine Dame auf ein Feld und nahm den weißen Springer, der darauf gestanden hatte in die Hand, begutachtete ihn wie eine Trophäe. Dann zwinkerte er Indivia zu. "Schließlich würde ich wohl kaum so gut leben, wäre ich in deine Familie geboren, mein Freund."
"Niemand in meiner Familie hat mich je geschlagen, wenn ich einen falschen Ton gespielt habe.“ Indivia klang ruhig, so gefasst als bemerkte er gar nicht was er da sagte. Seine Gedanken kreisten um das Entsetzen, die Furcht, die Panik. Wasser statt Luft, ein zappelnder Leib. "Und im Gegensatz zu dem Euren hat mein Vater nie versucht mich zu ertränken.“
Schaudernd starrten dumpfe grüne Augen auf, blickten wie blindes Glas durch Elliot.
"Oder mich vom Balkon in den Tod zu stürzen."
Der Ritter entglitt Elliots Fingern und landete mit einem lauten, klackenden Geräusch auf dem Spielbrett. Schwarze und weiße Figuren stürzten um, purzelten durcheinander wie ein Schwarm Käfer. Elliot bemerkte, wie sein Blick ihnen folgte, doch seine Gedanken waren anderswo. Versuchten zu fassen, zu begreifen, zu verarbeiten, was da gerade gesagt worden war. Erneut trafen seine Augen Indivias, aber er spürte, wie jeder Hauch eines Lächelns von seinen Lippen gewichen war. Und jeder Glanz war aus den verschiedenfarbigen Augen verschwunden.
Ruckartig erhob der Lord sich und drehte sich um, kehrte dem Goldkehlchen den Rücken. "Branntwein, mein Freund?", fragte er und versuchte, beiläufig zu klingen. Normal. Ja, Normalität, das war wichtig. Es sollte niemand wissen, es durfte niemand wissen... wenn er nur gewöhnlich reagierte, würde Indivia aufhören, es zu glauben. Er musste! Wenn Elliots Stimme in diesem Moment nur nicht so heiser klingen würde, so brüchig und schwach...
Mit jedem Schritt fürchtete Elliot, zusammenzubrechen, er befürchtete, dass jeder Atemzug zu schnell kommen oder versagen würde. Tränen stiegen ihm in die Augen, während er verzweifelt versuchte, sich daran zu erinnern, wer der junge Lord Ashsteel sein musste, wie der junge Lord Ashsteel sich geben würde. Als er die Vitrine mit den Spirituosen erreichte, hatte er das Gefühl, als würden zwei weitere Augenpaare, dunkles und helles Blau, auf seinem Rücken ruhen, sich unter seine Haut bohren. Die Narbe in seinem Nacken, begann zu brennen, zu glühen wie Feuer, als hätte sie sich erneut aufgerissen und entzündet.
"Du darfst niemandem erzählen, mein Liebling, hörst du? Sonst sind wir alle verloren."
Die Worte hallten so laut, so klar und deutlich in seinem Kopf wieder, dass er beinahe zusammenzuckte. Seine Hand zitterte, als er sich ein großes Glas goldener Flüssigkeit einschenkte.
"Nein, danke." Indivia starrte dumpf auf die Figuren, ein ungutes Gefühl keimte in ihm auf, während er versuchte die Figuren, dass Spiel zu retten.
Seine Hände huschten über das Brett, versuchte irgendwas zu retten. Letztendlich jedoch, musste er aufgeben, konnte die vielen Figuren noch nicht voneinander unterscheiden.
Die dunkle Vorahnung blieb.
Ein tiefer Schluck, scharfer Geschmack auf Elliots Zunge, brennend in seiner Kehle. Ein kurzer Moment der Besinnung, die flüchtige Möglichkeit, nach dem rettenden Strohhalm zu greifen. Er sah nur diesen einen Halm und er griff mit Verzweiflung und Entschlossenheit gleichermaßen danach.
Als er sich umdrehte und wieder Indivia zuwandte, war die Maske des Lords mit seinem Gesicht verschmolzen. Mochte es dahinter toben und stürmen, keine Regung in Elliots Miene verriet seine inneren Qualen, das Gefühl von Nacktheit. Seine Furcht vor der vollkommenen Bloßstellung, vor Zurückweisung, vor Mitleid.
Das Goldkehlchen hatte ihn überfallen und in einem Moment der Unachtsamkeit eiskalt erwischt, doch nun waren sein Schwert gezückt und seine Schilde erhoben, er war bereit, um sein Leben zu kämpfen. Er hatte einen Fehler begangen, hatte den jungen Barden zu nah an sich herangelassen - nun würde er alles dafür tun, ihn wieder zu vertreiben, aus der Dunkelheit, in die er gewandert war.
"Weißt du", fuhr Elliot fort, schritt langsam und aufrecht näher, "ich habe mich immer gefragt, wie in deinem Köpfchen so viel Platz für Unsinn sein kann." Es war nicht einfach der übliche Spott, es war blanker Hohn, der da aus seiner ruhigen, glatten Stimme sprach. Sein Lächeln war frostig wie eine Nacht im dunkelsten Winter, seine Augen, Cliffords nachtblaues und Emilys fliederfarbenes, glichen Gletschern zu verschiedenen Tageszeiten.
"Warum denkst du dir solche Geschichten aus, mein Freund, hm?" Vor Indivia blieb er stehen, schaute einen Augenblick lang abfällig auf ihn herab. Dann beugte er sich vor, legte die freie Hand schwer auf die schmale Schulter und stützte sich darauf ab, ging leicht in die Hocke, sodass sie beinahe - aber nicht ganz - auf Augenhöhe waren. "Willst du ein kleines Engelchen im Menschenkörper sein sein, das einen geplagten Mann mit reinem Herzen und selbstloser Liebe von seinen inneren Dämonen befreit?" Er lachte hart auf und nahm einen weiteren Schluck Branntwein. "Ja, hübsche Geschichten sind das, nicht wahr? Wie wundervoll es sein muss, seinen eigenen dunklen Prinzen zu bezaubern und läutern. Einen verkappten Helden aus den Klauen seiner Seelenqualen zu befreien und glücklich bis ans Ende aller Tage mit ihm zu sein. Herzallerliebst.
Aber lass mich dir ein kleines Geheimnis verraten, mein Freund: Ich bin kein guter Mann, der sich hinter irgendwelchen schlimmen Erfahrungen versteckt. Dein Vogelhirn flüstert es dir vielleicht zu und du willst es glauben, weil es eine so wunderschöne Lüge ist, aber glaub mir - du bist ein Opfer deiner eigenen Einfalt."
Elliot hielt inne und ließ den Blick in einer Mischung ausgespieltem Mitleid und Abscheu über den jungen Barden gleiten. Es geschah alles von selbst, die Worte wanderten in einem flüssigen, stetigen Strom von seinem Kopf auf seine Zunge. Wie ein Uhrwerk, das von einem störenden Staubkorn befreit worden war und sich somit wieder in Gang gesetzt hatte, bewegten die Lippen des Lords sich weiter, spuckten tödliche Pfeile, die einzig und allein auf Indivias Herz zielten.
"Du willst wirklich an das Gute in mir glauben, nicht wahr? Du willst wirklich glauben, dass meine Makel meinen ach so grausamen Eltern zu verschulden sind und dass du mich heilen kannst, weil wir uns so sehr lieben.
Du wünschst dir, die arme Magd aus dem Märchen zu sein, die nur ein paar lächerliche, kleine Hürden überwinden muss, um den reichen Mann ihrer Träume ihr Eigen zu nennen. So ist es doch, mein kleines Goldkehlchen."
Jedes Wort, jeder eiskalte Blick brach Indivias Wesen ein wenig mehr, trat den glimmenden Funken von Lebensfreude, die bisher alles in seinem Leben definiert hatte, die sein Leben war, aus.
Hatte er am Anfang noch widersprechen, dann weinen wollen, in einem sinnlosen unterfangen beweisen wollen, dass er... was eigentlich?
Zweifel keimten auf, wucherten, bestärkt vom kalten Hohn des Lords und trieben ihre giftigen Wurzel in Indivias Geist. Er wusste nicht was er wollte. Sollte.
Und konnte nichts.
Deswegen hatte seine Familie ihn hier abgeladen. Deswegen wollte der Lord ihn loswerden.
Stumm saß Indivia auf dem Stuhl, in sich zusammen gesackt, als hätte man ihm wie einen Ball die Luft abgelassen. Den Blick der leblosen, glanzlosen Augen, beinahe wie die eines Toten auf den Boden gerichtet. Er presste die Lippen auf einander, wollte den hohen, langgezogenen Schmerzenslaut schlucken, wie er die Tränen geschluckt hatte.
"Was war es eigentlich? Was hat dir diese Flausen in den Kopf gesetzt, mein Freund?"
Elliot trank einen weiteren Schluck goldenen Gifts, ölte seine Zahnräder, von Zorn und Verzweiflung angetrieben. Sie mussten sich weiter bewegen, sie durften nicht stehen bleiben, denn dann würde die Maske in Stücke zerbrechen und Indivia würde sehen, was dahinter lag.
"Sind sie von alleine gekommen oder habe ich dabei geholfen?" Er ließ Indivias Schulter los und hob stattdessen sein Kinn, zwang das hübsche Gesicht dazu, sich seinem zuzuwenden. Elliot traf kaum auf Widerstand, als er ihn küsste, mit der Zunge seine Lippen überfiel und spaltete, vermutlich hätte er den ganzen Mund so schänden können, hätte er es versucht. Doch er löste sich und ließ stattdessen weiter die giftigen Worte auf den jungen Barden niederrieseln. "War es das? Dachtest du, ich würde anfangen, dich zu lieben, wenn du dich nur schön küssen lässt und die Beine für mich spreizt? Hast du wirklich geglaubt, dass du mir etwas geben könntest, was ich von niemandem sonst haben kann?"
Nun erhob er sich wieder, schüttete den restlichen Inhalt seines Glases die Kehle hinab, um nicht ins Straucheln zu kommen, nicht zu verzweifeln, nicht selbst die Spitzen dieser Worte zu spüren. Seine Lippen verzogen sich aufs Neue zu einem Lächeln, kühler und gleichmütiger als zuvor. Er bereitete seinen letzten Schuss vor, spannte den Bogen mit dem Pfeil, den er ganz in Gift getaucht hatte.
"Wenn ich ehrlich sein soll, mein Freund... dann muss ich gestehen, dass es mir egal ist, ob du bleibst oder verschwindest."
Indivia hatte die Augen zusammen gekniffen, sich in die Lehne des Stuhls gekrallt und einfach diese... Vergewaltigung seines eigenen Mundes zu gelassen, als würde alles dann enden.
Was es auch tat, doch auf eine Weise, wie der Barde es nie gehofft, befürchtet hatte. Für einen winzigen Moment kehrte das Leben in seine Augen zurück, einzig zu dem Zweck einen noch qualvolleren Tod durch Elliots giftige Worte zu sterben.
Der Stuhl kippte um, knallte laut auf, prallte ab. Indivias Glocken kreischten schrill den Schmerz ihres Meisters heraus, als Indivia flüchtete. Noch nie in seinem ganzen Leben war er so schnell gerannt, so lange, bis die Luft in seinen Lungen pures Feuer war, er von innen heraus verbrannte und dennoch an seinem gebrochenen Herz erfror.
Es gab nur einen Pfad dem Indivia folgte. Dem der Willkür, dem Trieb so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Elliot zu setzen.
So kam es, dass er Minuten, Stunden, Tage? Später an einer Hauswand lehnte, würgend erbrach was doch nicht in seinem Magen war.
Nachdem Indivia aus dem Salon gestürmt war, verstrichen keine zehn Sekunden, ehe Elliot kraftlos zurück auf seinen Stuhl sank. Seine Finger zitterten zu sehr und waren zu schwach, um das Glas länger zu halten, es rutschte aus seiner Hand, fiel zu Boden. Und sobald es aufprallte und in tausende winziger Scherben zersprang, fiel auch die Maske des Lords auseinander.
Er wollte schreien, brüllen, doch Schmerz und Tränen drückten so stark auf seine Brust, dass er kaum atmen konnte. Er weinte, schluchzte und erhob sich schließlich wankend. Irgendwo hatte er noch die Geistesgegenwart, Tharaniel in Gedanken zu befehlen, ihn für den Rest des Tages alleine zu lassen und nicht mit ihm zu sprechen - denn er wusste genau, dass er das höhnische Grinsen, die spöttischen Worte nicht ertragen könnte, dass sie ihn töten würden, wie er gerade Indivia hingerichtet hatte. Er taumelte in Richtung der Vitrine, griff nach der Flasche und machte sich daran, den Inhalt gurgelnd zu verschlingen.
Wenn Emilia einige Zeit später von ihrem Spaziergang zurückkehren würde, fände sie ihn in einer Ecke des Salons hockend wieder, in süßem Delirium und seinem eigenen Erbrochenen.
Der Befehl seines Herrn war überraschend, doch sobald Tharaniel bemerkte, dass das ach so kostbare Goldkehlchen geflüchtet war, erwachte sein Jagdtrieb. Der Schattentänzer jagte sofort los, aus dem Anwesen heraus, systematisch die Straßen, Gassen und Hinterhöfe durchkämmend. Nun, da Indivia Freiwild war...da schadete es bestimmt nicht, sich zu holen was er wollte.
Er fand das Goldkehlchen nach Mitternacht, in einem verlassenen Hinterhof. Niemand konnte den ersten, schrillen Aufschrei hören.
Das Thema wurde geschlossen. |
Bitte geben Sie einen Grund für die Verwarnung an
Der Grund erscheint unter dem Beitrag.Bei einer weiteren Verwarnung wird das Mitglied automatisch gesperrt.
Besucher
0 Mitglieder und 33 Gäste sind Online Wir begrüßen unser neuestes Mitglied: White Raspberry |
Forum Statistiken
Das Forum hat 613
Themen
und
36501
Beiträge.
Heute waren 0 Mitglieder Online: |
Forum Software ©Xobor.de | Forum erstellen |