06. Im Archiv
Adastreia hatte immer schon gewusst, welche Bedeutung Kleidung hatte.
Sie mochte nicht das entscheidende Mittel dafür sein, dass man ein Ziel erreichte, wohl aber bahnte sie Wege in die entsprechende Richtung.
Trug man die richtigen Kleider, wurde man selbst von denen zuvorkommend behandelt, die nicht wussten, wer man war, man wurde gehört, weil sie ihren Kopf nicht zur Seite drehten, man erhielt Respekt, ohne ihn sich zuvor mühselig erarbeiten zu müssen.
Aus diesem Grund hatte Adastreia sich heute ihrer Herkunft weitaus angemessener gekleidet, sich in ein Gewand aus grüner Seide mit feinen Goldstickereien gehüllt und passenden Schmuck angelegt. Zweifelsohne war dies auch der Grund, warum sie und Keya sich diesmal nicht in der Schlange hatten einreihen müssen, sondern rasch von einem einzelnen Beamten auf überaus höfliche und freundliche Weise nach ihrem Begehr gefragt worden waren.
Adastreia hatte rasch ihr Anliegen geschildert und man hatte den beiden Frauen nach nur kurzer Zeit den Weg ins Archiv im Keller gewiesen.
Und nun standen sie dort, im nur von wenigen Lampen erhellten Eingangsbereich vor einem schmalen Tresen. Der dahinter sitzende Archivar, ein gepflegter, ältlicher Herr von kräftiger Natur schaute zu ihnen auf, sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war. Wach und blau waren seine Augen, die hinter einer schmalen Brille hervorblickten und seine Stimme klang tief und ruhig, als er nicht ohne einen Hauch trockener Belustigung bemerkte:
"Meine Güte, ich glaubte schon, dass es keine Ladys mehr auf der Welt gibt, so lange wie es her ist, dass mich eine hier besucht hat.
Was kann ich für Euch tun?"
"Wir suchen nach zwei Personen", erwiderte Adastreia, ohne das Lächeln auch nur im Ansatz zu erwidern. "Einen Mann namens Orome. Und eine Frau, deren Vornamen wir nicht kennen, deren Nachname aber Fredor ist."
"Das ist nicht viel, bedenkt man, wie viele Menschen hier aufgelistet sind", antwortete der Archivar schmunzelnd und erhob sich. "Aber ich werde sehen, was ich finde."
Mit diesen Worten griff er nach einer Lampe und verschwand zwischen den deckenhohen Regalen, gefüllt mit Ordnern, Schubladen und Büchern.
Keya betrachtete den großen Raum. Überall Bücher und Unterlagen. Riesige Regale, voll davon.
Ihre Augen schweiften umher und wiederrum fühlte sie sich etwas unwohl in denselben Klamotten herumzulaufen wie gestern. Adastreia sah umwerfend aus. Ihre Kleider waren wunderschön und Keya konnte sie wie so oft nur bewundern.
Der Mann mit der lustigen Brille auf der Nase kehrte zurück. Über Keyas Lippen huschte erneut ein Lächeln. Ihr war der Archivar sofort sympathisch gewesen, während Adastreia wenig Begeisterung für den Kerl vorwies.
"Dann werde ich Euch diese zwei Akten nun in die Hand geben. Ich darf Euch bitten diese zu lesen und sie mir danach wieder zu geben", er schmunzelte leicht. "Schenken kann ich die Euch leider nicht."
Keya grinste und Adastreia nahm die Ordner entgegen.
Sie drückte ihr einen in die Hand und widmete sich dem anderen.
Der Archivar zog sich derweil an seinen Schreibtisch zurück.
Keya blickt hinab auf den Ordner in ihren Händen. Da stand der Name der Frau.
Elesil Fredor.
Keyas Hand zitterte leicht, als sie die erste Seite aufschlug. Es war eine Kopie ihrer Geburtsurkunde. Sie war genauso wie sie eine Stadtelfe gewesen. Geboren war sie im Jahre 1435. Allerdings in einer anderen Stadt, die wohl in der Nähe von Brightgale sein musste.
Besonders viele Antworten würde diese Akte Keya vielleicht nicht geben, aber vielleicht würde sie herausfinden, wie sie mit Theodmon gelebt hatte.
Sie blätterte die nächste Seite auf und zuckte leicht zusammen. War das Keya selbst? Oder war es tatsächlich Elesil.
Keya starrte das Bild eine Weile an. Die Frau hatte blaue Augen und ebenfalls braune Haare. Diese besaßen nicht dieselben wilden Locken wie Keyas Haare, aber dennoch lag eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen den beiden. Was Keya jedoch am Meisten erschrak, war der goldene Schmuck um ihren Hals. Es war Keyas Kette. Theodmon hatte sie ihr geschenkt, als sie gerade erwachsen geworden war. Sie hatte die Kette bei ihrer Flucht unter ihrem Kopfkissen versteckt. Sie wollte einen Teil von sich loswerden. Den Teil, der davon überzeugt war, dass Theodmon nur das Beste für sie wollte. Dieser Teil war eng mit dieser Kette verbunden gewesen. Die Kette die nun auf diesem Bild um den Hals einer anderen Frau gebunden war.
Sie schlug die nächste Seite auf. Die Überschrift lautete "Ein Bund der Ehe mit Theodmon Fredor. Hochzeitsdatum: 36. Ventis 513".
Keya schluckte hörbar. Sie waren also tatsächlich verheiratet gewesen.
Auch Elesils Einzug in Theodmons Haus war in der Akte datiert. Ebenfalls auf den Herbst 513. Sie hatten die ganze Zeit zusammen unter einem Dach gelebt. Ein liebendes Ehepaar? Oder eines, das sich wegen jeder Kleinigkeit stritt?
Frustriert schnaufte Keya leise und gab sich selbst die Antwort. Theodmon war ein Mörder! Das konnte keine glückliche Ehe gewesen sein.
Der nächste Satz bereitete Keya eine leichte Gänsehaut. "Tod des Ehepartners und Zwangsauszug aus seinem Haus Winter 515".
Es war also im Winter passiert. Dieser Herr Mercer hatte sie bei der Kälte auf die Straße gesetzt. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und spürte ein seltsames Gefühl in ihrem Bauch. War es Enttäuschung? Weil sie zu viel in die Begegnung mit Mercer hineininterpretiert hatte? Nun schüttelte sie etwas merklicher den Kopf um den Gedanken abzuschütteln. Sie kannte diese Elesil nicht. Aber man setzte eine Frau im Winter nicht vor die Tür.
Keya blätterte noch eine Seite weiter.
Ein Wohnhaus war verzeichnet. Dort musste sie also leben. Ein breites Grinsen breitete sich auf Keyas Lippen aus. Sie war also noch in der Stadt?
Die Adresse war hier ganz in der Nähe. Ungeduldig wippte sie auf beiden Füßen umher. Nun noch die letzte Seite der Akte begutachten, dann konnte sie mit Adastreia gehen und sie könnten sie gemeinsam besuchen. Keya konnte sie mit ihren Fragen bombardieren. So viele Fragen brannten ihr auf dem Herzen.
Mit einem Umblättern war ihre gesamte Euphorie jedoch erloschen.
"Elesil Fredor verschwand im Frühling 516 aus Brighgale. Keine weiteren Verzeichnungen über ihren Aufenthaltsort".
Bei aller Entschlossenheit und Zuversicht, die Adastreia an den Tag gelegt hatte, als sie am Morgen aus dem Haus getreten war, nun kamen doch Zweifel auf.
Was, wenn es ein Irrtum war, wenn es sich niemals um ihren Bruder gehandelt hatte, wenn es nur ein Mann gleichen Namens war?
Was, wenn er sich nicht mehr in der Stadt befand ... oder schlimmer, was, wenn sie trotz allem zu spät gekommen war?
Ihre Knie erschienen Adastreia mit einem Mal gefährlich weich und sie setzte sich auf einen nahestehenden Stuhl, ließ zu, dass ihr die vorderen Strähnen ins Gesicht fielen, sollte sie die Kontrolle über ihre Mimik verlieren. Erst als sie sicher war, dass dies nicht der Fall war, schlug sie den ledernen Einband auf und betrachtete die erste Seite.
Der angegebene Geburtsname bestärkte zugleich Hoffnungen und Zweifel, denn er gab ihr keine befriedigende Auskunft.
Orome ... einfach nur Orome, dachte sie. Er könnte ein Lian wie ihr Bruder sein, zu erhaben für einen Nachnamen oder ein einfacher Dienstbote, ein Bauer sogar, zu primitiv dafür.
Doch jeder Punkt, der hinzukam, schien mehr und mehr ihren Bruder zu zeichnen, so sehr ein Teil von ihr auch versuchte, eine Gegenantwort zu finden, sie vor Enttäuschungen zu wappnen.
Volkszugehörigkeit: Kristallelb
Geburtsjahr: 323
Geburtsort: Anastra
Als im darauf folgenden Abschnitt eine kurze Beschreibung des Äußeren folgte, schien kein Zweifel mehr möglich zu sein. Plötzlich erinnerte Adastreia sich wieder an alles, selbst an die kleinen Details. Daran, wie fein seine Gesichtszüge gewesen waren, dass er immer ein Stück größer gewesen war, an seine Augen. Blau waren sie gewesen, dunkelblau wie die tiefste Nacht. Warum wurde ihr das erst jetzt wieder bewusst?
Fahrig blätterte sie weiter und erfuhr, dass er bereits vor vielen Jahrzehnten nach Brightgale gekommen war und an der Akademie als Lehrer und Forscher arbeitete. Weiterhin erfuhr sie, dass er letztere Tätigkeit vor etwa einem halben Jahr aufgegeben hatte. Adastreia konnte nur vermuten, was ihn dazu bewegt hatte. Mögliche Gründe gab es genug, zumal sie sich Orome nicht wirklich als Lehrer vorstellen konnte. Oder doch? Wie war Orome nun, so viele Jahre später. Wer war er?
Sie strich noch einmal mit dem Zeigefinger über die Zeilen, sog jedes Wort auf, hoffte hinter jedem, einen Hinweis zu finden. Doch trocken, sachlich, bürokratisch, wie die Sätze nun einmal geformt waren, stellte sich das als äußerst schwierig heraus.
Erst als sie umblätterte, erschien etwas, das sie stocken und erst einmal mehrere Augenblicke lang auf die Buchstaben, welche man mit schwarzer Tinte säuberlich und gut lesbar auf dem hellen Papier festgehalten hatte:
42. Ventis 516: Verlobung mit Niamh Hughes
Nur wenige Tage war das her. Nur wenige Tage, dass er sich in der Öffentlichkeit einer Frau versprochen hatte, nach all den Jahren alleine in der Stadt.
Wer mochte sie sein, diese Niamh Hughes? Sicher keine Kristallelfe, davon war Adastreia überzeugt. Eine andere Elfe vielleicht? Eine Iblianerin? Eine Prinzessin oder nur eine einfache Adlige? Aber mehr noch als um die Volkszugehörigkeit machte sie sich Gedanken um den Grund für diese Entscheidung.
Hat er sich nun doch entschieden, unsere Blutlinie fort zu führen? Nach so langer Zeit?
Hatte seine Reise etwas damit zu tun?
Oder ...?
Adastreia biss sich auf die Lippe. Der Gedanke war schmerzhaft, verärgerte sie. Der Gedanke, dass Lian aus Liebe heiraten wollte. Heiraten würde. Nachdem seine Schwester sich so hatte aufopfern müssen, nachdem sie Jahre lang an der Seite eines abscheulichen Barbaren augeharrt hatte, einzig der Familie und des Königreiches zuliebe.
Es gab so viele Fragen, die Adastreia nun stellen wollte, und am liebsten wäre sie gleich losgeeilt.
Doch sie riss sich zusammen, schlug in aller Ruhe Oromes Adresse nach und erhob sich dann, legte die Akte auf die Theke.
"Habt Ihr gefunden, wonach Ihr gesucht habt, Mylady?", fragte der Archivar und rückte seine Brille zurecht, als er von einer Akte aufsah, in die er gerade etwas eingetragen hatte. "Es war der einzige Mann mit dem Namen Orome, der hier verzeichnet ist."
Nun lächelte Adastreia doch matt.
"Ja, er ist es. Danke."
Dann wandte sie sich ihrer Freundin zu.
"Bist du noch beschäftigt, Keya?"
Ihre Stimme klang weniger gelassen als sonst. Ungeduld nagte an ihren Innereien und sie wusste, dass sie es nicht mehr lange ertragen konnte.
Sie hatte zu viele Jahrzehnte einsam auf ihren Feenprinzen gewartet und nie war er gekommen.
Nun würde sie ihn finden.
Keya sah auf. Die Frustration über das, was sie gerade gelesen hatte, hatte ihr die Tränen in die Augen gespült. Es waren keine Tränen des Kummers, sondern Tränen der Wut. Wut über diese Akte; Wut über den großen Raum, der mehr versprach als er halten konnte; Wut über Theodmon; Wut über Mercers Verhalten, gegenüber Elesil; Wut über diesen Archivar; Wut über das Amt und vor allem Wut über sich selber, wie sie versucht hatte Antworten auf Fragen zu finden, die in dieser Stadt wohl nie zuvor von jemandem gestellt worden waren.
Als sie auch in Adastreias Stimme keine Freude hörte, breitete sich neben der Wut auch etwas Sorge, um ihre Freundin aus.
Keya nickte nur leicht, da sie Angst hatte, dass ihre Stimme brechen würde, hätte sie sie eingesetzt. Dann brachte sie die Akte zum Archivar und wand sich um, ohne sich zu verabschieden. Was hätte es genutzt?
Immer mehr wuchs der Beschluss in ihr, in den Wald zurückzukehren, nachdem sie Adastreia bei der Suche nach ihrem Bruder zur Seite gestanden hatte. Sie würde den Archivar also sowieso nicht wiedersehen. Ob sie höflich war oder nicht, interessierte sie demnach nicht ein kleines Bisschen.
Als Adastreia und Keya schweigend zum Ausgang des Amtes schritten, durchströmte Keya erneut die Wut. Sie hatte Elesil fragen wollen, ob Theodmon gut zu ihr gewesen war, oder ob er sie möglicherweise genauso schamlos ausgenutzt hatte, wie er es bei Keya getan hatte. Sie hatte alle Hausarbeiten erledigen müssen, während er gefaulenzt hatte.
Sie schüttelte den Gedanken ab und sagte dann leise zu Adastreia, :"Sie ist nicht mehr in der Stadt. Ich werde sie nicht in Brightgale finden. Wie ist deine Suche ausgefallen?"
"Hm?"
Adastreia war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass sie kaum mitbekommen hatte, wie sie sich an Keyas Seite hinaus begeben hatte. Nun war sie verwundert, beinahe verwirrt darüber, sich vor dem Eingang des Rathauses wiederzufinden, umgeben von Menschen, beschienen von der nach dem Aufenthalt im dunklen Archiv doch sehr hellen Sonne. Im ersten Augenblick begriff sie nicht einmal, was ihre Freundin von ihr wollte.
Schließlich aber nickte sie rasch, lächelte bemüht und erwiderte:
"Er ist hier.
Ich werde zu ihm fahren."
Mit diesen Worten schritt sie auf die Kutsche zu, welche sie hergebracht hatte, stockte jedoch, nachdem sie die Türe geöffnet hatte.
"Fahr schon einmal nach Hause, Keya", sagte Adastreia sanft und schob die junge Frau vorsichtig ins Innere.
"Ich werde meinen Bruder alleine aufsuchen.
Das ist etwas ... etwas, das ich alleine tun muss."
Und ohne auch nur eine weitere Silbe darüber zu verlieren, lief sie davon, suchte sich das nächstbeste Gefährt und nannte dem Fahrer die Adresse, die sie herausgefunden hatte.
Sie hatte bereits zu viel Zeit verloren.
Keya war völlig verunsichert und entsetzt über das was da gerade passiert war.
Sie sollte zurück fahren? Und was sollte sie in diesem schrecklichen Haus? So ganz alleine?
Sie hatte ihrer Freundin nicht einmal "Viel Glück"-wünschen können. Ihr nicht noch einmal in die Augen sehen können, als sie begriff, was Adastreia gemeint hatte.
Während der Fahrt spielte sie immer wieder durch, was passieren würde, wenn sie einfach verschwände. Wenn sie mitten in der Fahrt aus der Kutsche spränge und zurück in den Wald liefe. War es das, wofür Keya bestimmt war?
Ein ungebändigter Wildfang, der alleine in einer großen Stadt völlig verloren war?
Die Zeit verstrich und Keya wusste noch immer nichts mit sich anzufangen. Was hatte es für einen Sinn in Brightgale zu bleiben? Es machte keinen Sinn, wenn die Person der sie ihre Fragen nicht stellen wollte, tot war und die andere nicht auffindbar. Sollte sie aufgeben? Die Suche auf sich beruhen lassen und ihr altes Leben von vorne beginnen? Das Leben im Wald.
Plötzlich öffnete der Kutscher die Tür. Keya schrak aus ihren Gedanken.
"Wir sind da Mylady", der Kutscher hatte ein höfliches Lächeln auf dem Gesicht.
"Danke", murmelte Keya nur leise. Sie hatte diese Höflichkeitsform nicht verdient. War sie doch nichts anderes als ein Wildfang.
Sie stiefelte mit leicht gebückter Körperhaltung zur Eingangstür. Dann steckte sie lustlos den Schlüssel ins Schloss und ließ zu, dass sich dieser ganz langsam und quietschend drehte.
Dann trat sie ein, schloss sie hinter sich und ließ sich einfach zu Boden sinken. Eine Weile saß sie einfach so da und dachte an nichts mehr.
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