#1

09. Keyas Nacht in Eastbell

in Frühling 516 05.09.2015 21:18
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Lawrence war die Begegnung mit den beiden Frauen am vergangenen Abend nicht mehr aus dem Kopf gegangen.
Es war nicht richtig gewesen, die Gaststätte einfach zu verlassen, doch er hatte den vorwurfsvollen Blick in den Augen des Fräuleins Yonara nicht ertragen können. Gerade weil er ihr innerlich zustimmte.
Und da es zu sehr an ihm genagt hatte, hatte er sich morgens, obwohl es keine Verpflichtung für ihn gab, zu seinem Arbeitsplatz begeben und nach den Aufzeichnungen gesucht, die ihm von damals geblieben waren, sowie einigen weiteren, die ihm als nützlich erschienen. Nach einer Phase des Blätterns, Lesens und Grübelns, hatte er sich schließlich mitsamt der Unterlagen auf den Weg zu der Adresse gemacht, die er noch gut in Erinnerung hatte.
Das Haus war noch immer prachtvoll, aber der Garten um einiges verwilderter als Lawrence ihn in Erinnerung hatte. Es mussten mehrere Monate gewesen sein, in denen sich niemand um ihn gekümmert hatte ... Monate, in denen ein Haus leer gestanden hatte, das einer Bedürftigen hätte Unterkunft gewähren können.
Befangen klopfte Lawrence an die Tür.

Keya saß noch immer dort, wo sie sich hatte fallen lassen. Sie hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Nur ihr Brustkorb senkte sich hinauf und hinab. Ließ Luft in ihre Lungen strömen. Und nur ihre Lider hatten sich geschlossen und waren wieder nach oben gehuscht. Ihr Körper arbeitete. Nur Keyas Kopf fühlte sich leer an. Sie starrte ins Leere.
Plötzlich klopfte es an der Eingangstür vor der sie noch immer saß. Wollte sie jetzt Besuch empfangen? Und wer konnte es überhaupt sein?
Sie schoss urplötzlich auf die Beine. Adastreia! Es konnte nur ihre Freundin Adastreia sein.
Völlig übermütig riss sie die Tür auf.
Ihre Augen wurden groß, als sie die Person vor sich sah, die davor stand.
"Was macht Ihr denn hier?", fragte sie diesen Mercer.
Ihr Hals war so trocken, dass ihre Stimme ganz krächzend klang.
"Euch habe ich nun wirklich nicht erwartet!" Diesmal klang sie sauer und fast schon distanziert.

Lawrence hatte nicht damit gerechnet, erwünscht zu sein.
Im Gegenteil, es hätte ihn verwundert.
"Es tut mir leid, Euch so unangekündigt zu besuchen", antwortete er ruhig und höflich. In seinem Handwerk war er wütendere Menschen gewöhnt als dieses Mädchen.
"Ich habe über Eure Worte gestern Abend nachgedacht und habe mich noch einmal darüber informiert, wo diese Frau, nach der Ihr sucht, sich aufhalten könnte."
Er hob die Akten leicht an.
"Komme ich ungelegen?"

Keya senkte den Blick. Wollte sie noch wissen, wer diese Frau war?
Sie dachte noch einmal darüber nach wie es wäre einfach zu verschwinden und nie wieder zu kommen. Das Buch das sie geöffnet hatte, einfach wieder zuzuschlagen. Die Geschichte die sie verfolgte einfach abzuschließen.
Ihr war es im Wald gut gegangen. Sie war zufrieden gewesen. Hatte sich an die Dinge angepasst. Sich darauf eingestellt, dass sie das Wetter, das Verhalten der Tiere, oder den Ort an dem sie Nahrung fand, nicht selber bestimmen konnte. Sich auf das Verhalten von anderen Elfen oder Menschen einzustellen, war etwas anderes.
Sie hatte sich keine Fragen mehr gestellt, über ihr Leben bei Theodmon. All diese Dinge waren in ihrer Zeit im Wald gut in ihr drin vergraben gewesen.
Doch nun kam alles wieder herauf. All die grässlichen Erinnerungen an den Mörder ihrer Eltern. Wie schrecklich er ihr gegenüber eingestellt gewesen war, als sie noch ein Kind war. Und wie schlimm er sie behandelt hatte, als sie ihre Jugend hier verbracht hatte.
Sie schaute in Mercers braune Augen. Wie freundlich sie wirkten. Gestern hatte sie dies gar nicht richtig erkennen können, jetzt sprang es ihr sofort ins Auge. Dieser Mann wollte anscheinend gerade wirklich nichts Böses.
Und wenn sie diese Frau tatsächlich finden würden? Vielleicht war es tatsächlich ein Versuch wert. Vielleicht würde sie dann anders über Theodmon denken und ein ganz neues Leben beginnen können.
Wenn es nicht funktionieren würde, konnte sie noch immer zurück und würde möglicherweise etwas weniger unwissend sein.
Ihr wurde klar, dass sie nichts zu verlieren hatte.
"Wollt Ihr eintreten und wir besprechen das im Haus?"

"Wenn Euch das Recht ist, gerne", antwortete Lawrence und ließ sich von der jungen Frau in die Küche führen, setzte sich dort mit ihr an den Tisch.
Es war ein recht gemütlicher Aufenthaltsraum, war er auch seit so langer Zeit nicht mehr benutzt worden. Der Staub in den Ecken war deutlich sichtbar, doch er schmälerte nicht die Wirkung der Kacheln in warmen Farbtönen und das dunkle Holz der Möbel. Mit ein bisschen Fantasie konnte Lawrence sich sogar ein warmes, helles Feuer im Ofen vorstellen.
Aber seine Meinung zu der Inneneinrichtung dieses Hauses spielte jetzt keine Rolle.
Der Wachmann räusperte sich und kramte in seinen Notizen.
"Ich muss Euch leider sagen, dass sie nicht mehr in der Stadt ist, zumindest offiziell nicht."
Lawrence zog ein Blatt hervor und fasste den Inhalt knapp zusammen:
"Allerdings war sie gleich nachdem sie das Haus ihres Mannes verlassen hatte, eine Zeit lang in einem Gasthaus am Rande des Hafenviertels eingemietet. Der Wirt warf sie hinaus, als sie ihre Miete nicht zahlen konnte und sie kehrte niemals zurück. Allerdings ..."
Er strich mit dem Zeigefinger über die obersten Zeilen eines weiteren, beschriebenen Blatts.
"... kam nach einigen Tagen eine gewisse Janice Joseph zum Wirt und beglich ihre Schulden.
Anscheinend ist sie eine Edelfrau, die ... die sich ins Armenviertel zurückgezogen hat."

Keya schaute diesem Mercer nicht direkt ins Gesicht. Seitdem sie sich gesetzt hatten und während sie ihm zu hörte, hielt sie den Kopf gesenkt und nestelte an ihrem Gewand herum.
Sie war sich noch immer nicht ganz sicher, ob sie den Mann mögen, oder nicht mögen sollte.
Vielleicht hatte er auch einfach bloß seinen Job gemacht.
Hin-und Hergerissen, sah sie ihm nach seinem letzten Satz wieder ins Gesicht.
"Inwiefern könnte diese Frau mir helfen Elesil Fredor zu finden?"

Erneut räusperte Lawrence sich.
"Lady Joseph ist bekannt dafür, jungen Frauen Zuflucht zu gewähren und ihnen dabei zu helfen Arbeit zu finden."
Nicht alle dieser Frauen gerieten danach in angesehene Berufe. Viele fanden sich im Hafenviertel wieder, als Schankmaiden in den weniger gesitteten Gasthäusern oder gar als Arbeiterinnen in Bordellen. Aber es gab auch viele Ausnahmen und Lawrence hoffte inständig, dass hier eine vorlag.
Doch selbst wenn dem nicht so war, war es ihm lieber, dem Fräulein Yonara zu helfen, als es mit der Suche alleine zu lassen.
Das war das einzige, wodurch er Verantwortung übernehmen konnte.
"Es ist möglich, dass auch Lady Fredor eine Zeit lang bei ihr war."

In Keya erwachte ein Feuer der Hoffnung. Oder vielmehr ein kleines Licht.
Möglicherweise gab es doch einen Weg alles über sich selbst in Erfahrung zu bringen.
Erneut erfasste sie ein heftiger Adrenalin-Stoß.
"Lady Joseph sagtet Ihr heißt diese Frau?", sie erhob sich ruckartig von ihrem Stuhl und wollte gerade in den Flur eilen, um dort ihre Stiefel an die Füße zu ziehen.
Dann hielt sie einen Moment inne und wendete sich Mercer wieder zu. "Wisst Ihr wo diese Person zurzeit lebt? Ich würde gerne noch heute zu ihr fahren."

"Ja", antwortete Lawrence und erhob sich. "Ja, ich weiß, wo sie wohnt, aber ..."
Er hielt einen Moment inne und betrachtete die Elfe, trotz aller Lebhaftigkeit so zierlich und vermutlich viel zu gutgläubig.
"... es ist eine gefährliche Gegend für eine junge Frau ohne Begleitung."
Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere, während er vorsichtig nach den richtigen Worten suchte.
Er wollte es nicht verantworten, sie alleine dorthin gehen zu lassen. Doch gleichzeitig war er sicher, dass sie ihn nicht dabei haben wollte.
"Wenn es Euch nicht stört, würde ich Euch gerne begleiten", sagte er langsam, fügte dann schneller hinzu: "Aber wenn Euch das nicht recht ist, kann ich auch eine andere Wache darum bitten. Auch eine Frau, wenn Euch das lieber wäre."

Keya blickte diesen Mann verwirrt an. Sie hatte das Gefühl nicht mehr schlau aus ihm zu werden. Bis vor kurzem, hatte sie ihn für herzlos gehalten. Für gefühlskalt. Doch jetzt war ihr, als wollte er ihr tatsächlich helfen.
Vielleicht hatte ihr erster Eindruck doch gestimmt? Oder vielleicht war auch ihr zweiter Eindruck der Richtige gewesen?
Hin- und Hergerissen starrte Keya ihn an. Ihr Mund war leicht geöffnet und sie versuchte immer wieder eine Antwort anzusetzen. Im ersten Moment war diese positiv, im Nächsten wollte sie ihn aus dem Haus schmeißen.
Sie hätte wohl kein Problem damit, sich in einer gefährlichen Gegend zurecht zu finden. Sich hinter Häuserecken zu verstecken, oder sich gar gegen Stärkere zu verteidigen. Nachdem sie einmal erfolgreich vor einem Bären geflüchtet war, ohne dass dieser auch nur den Hauch einer Chance gehabt hätte sie zu schnappen, fürchtete sie sich nicht vor der Stärke irgendeines Bösewichtes. Wer sollte einem Wildfang schon etwas anhaben können?
Doch dieser Mercer interessierte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte.
"Naja...wenn Ihr die Adresse kennt und auch den gesamten Umstand des Falles, solltet wohl auch Ihr mich begleiten." Sie lächelte zaghaft. Aber das Lächeln war nicht so wahr, wie es möglicherweise wirkte.
Sie wollte herausfinden, welcher Mercer er nun tatsächlich war. Der kalte Mann von gestern Abend, oder der nette Helfer von heute.

Der Anflug eines Lächelns huschte über Lawrence’ Gesicht.
"Dann werde ich es gerne tun."
Es war besser als alles andere, was er möglicherweise mit seinem freien Tag angestellt hätte. Wenigstens würde es sein Gewissen erleichtern, anstatt ihn von einem trübseligen Gedanken in den nächsten und schließlich zu einem schweren Tropfen getrieben zu werden.
Vielleicht war es egoistisch, aber es fühlte sich gut an, einem Mädchen zu helfen, nachdem er so viele im Stich gelassen hatte.
"Möchtet Ihr mit der Kutsche dorthin fahren oder lieber zu Fuß gehen?"

Keya, betrachtete die Gesichtszüge des Mannes. Hatten seine Mundwinkel sich gerade zu einem Lächeln verziehen wollen? Oder hatte sie es sich nur eingebildet? Sie starrte ihm einen Moment lang nur in die Augen. Wünschte sie könnte darin lesen, fand aber doch nicht das, was sie gesucht hatte. Noch immer war sie hin- und hergerissen, ob dieser Mann nun tatsächlich nett war, oder nicht.
Keya überlegte einen Moment, bevor sie zu einer Antwort ansetzte. War es sinnvoll mit Adastreias stilvoller Kutsche in das Armenviertel zu fahren? Wo dieser Mercer sie doch gerade noch davor gewarnt hatte es alleine zu betreten.
"Vielleicht sollten wir zu Fuß gehen!", sagte sie schließlich entschlossen. "Diese Kutsche da draußen ist nicht mein Eigentum. Führt Ihr mich zu Fuß hin?"

Fragt sie sich, ob sie mir trauen kann?
Dieser Gedanke schoss Lawrence durch den Kopf, als die junge Frau ihn ausgiebig musterte.
Es schmerzte ein wenig, doch eigentlich war es nicht verwunderlich.
Er kannte sie nicht, sie ihn nicht und obwohl er bei der Stadtwache arbeitete, war das keine Garantie. Der Frau, die sie suchte, hatte das jedenfalls herzlich wenig geholfen.
Trotzdem neigte er den Kopf und sagte so freundlich, wie es ihm möglich war, ohne aufdringlich zu werden:
"Gerne.
Es wird womöglich etwas länger dauern, aber es ist nicht außerordentlich weit."






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#2

RE: 09. Keyas Nacht in Eastbell

in Frühling 516 05.09.2015 21:19
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Ungefähr eine Dreiviertelstunde später hatten sie das Armenviertel erreicht. Die Dame hatte sich in einem der etwas besseren Teile niedergelassen, was in diesem Fall bedeutete, dass ihr Haus nicht einsturzgefährdet aussah und von Flut und Sturm im vergangenen Herbst nicht eingerissen worden war. Es war keine Gegend, in der Lawrence als einzelner Wachmann sich fürchten musste, doch es war unübersehbar, wie schmal und ausgemergelt die Gesichter der Leute waren, die an ihm und Fräulein Yonara vorüberschritten oder aus kleinen Fenstern in oberen Stockwerken der dicht aneinander gemauerten Häuser starrten, wie zerlumpt die Kleider, wie misstrauisch die Blicke. Und der Eintopf, von dem ein Händler an der Ecke kleine Portionen zum Kauf anbot, bevorzugte er es, keine verspeisen und in dem Unwissen über die genauen Zutaten weiterzuleben.
Lawrence brauchte keine königlichen Speisen, doch er war nicht länger im Krieg und musste nicht länger alles essen, was ihm zwischen die Zähne kam, nur um sein Überleben zu sichern.
In dem Versuch, die aufkeimende Erinnerung abzuschütteln, nickte er seiner jungen Begleiterin zu und deutete auf das Haus, welches ihr Ziel war.
"Die Lady Joseph lebt dort."

Keya hatte eine Gänsehaut, als sie und dieser mysteriöse Mercer das Armenviertel durchquerten.
Wie konnte es sein, dass die eine Seite der Stadt so gepflegt wirkte und es hier aussah, als wäre alles heruntergekommen.
Soweit das Auge reichte, ausgehungerte Gesichter, schmale Gestalten, die sich teilweise nur noch durch die Gegend schleppten.
Keya blickte sich immer wieder um und sah den Leuten hinterher. Fragte sich, wie man ihnen helfen konnte. Ob man ihnen mit einer Spende helfen würde?
Dieser Mercer riss sie plötzlich aus ihren Gedanken.
Keya nickte ihm als Antwort nur zu. Dann atmete sie tief ein und aus, nahm all ihren Mut zusammen, und klopfte an die hölzerne Tür.
"Moment", hörte sie eine Stimme rufen. Verwundert blickte sie kurz Mercer an. Dann öffnete sich die Tür und eine Frau höheren Alters öffnete. Zu welchem Volk sie gehörte, konnte Keya nicht ermitteln, jedoch wirkte sie etwas gebrechlich, hatte einige Falten im Gesicht, aber lächelte freundlich. Außerdem trug sie feine Kleidung, die nicht so Recht zu diesem Viertel passen wollte.
"Was kann ich für Euch tun?", fragte sie leise.
Keya konnte nicht anders als zurückzulächeln. Die Frau, die die Ehefrau ihres verstorbenen Ziehvaters aufgenommen hatte, war ihr auf irgendeine Weise sympathisch. "Seid Ihr Lady Joseph?"
Die Frau mit den weißen Locken und den hellen, blauen Augen, nickte leicht. "Ja, die bin ich wohl."
"Ich suche jemanden an den ich ein paar Fragen hätte. Könntet ihr mir da vielleicht etwas weiterhelfen?", fragte Keya zögerlich.
"Ach Kindchen. Kommt doch erstmal von der Straße herunter. Wollt ihr eintreten?", Lady Joseph öffnete die Tür als Einladung etwas weiter. Keya blickte die Frau etwas verwirrt an.
Eintreten in ein Haus einer wildfremden Person?
"Na gut", entgegnete sie schließlich zögernd.
Die Lady grinste nun breit. "Folgt mir, Kinderchen."
Keya und Mercer betraten das Haus und Lady Joseph führte sie durch eine kleine, knirschende Diele. Sie war dunkel und trist. Kein Sonnenstrahl würde in sie einfallen.
"Hättet ihr gerne eine kleine Tasse Tee?", fragte die Lady, als sie Keya und Mercer in einen Raum geführt hatte, in dem es plötzlich wieder komplett anders wirkte. Im Gegensatz zur Diele, war der Raum vollständig bunt. Bunte, teuer wirkende Portraits hingen an den Wänden. Ein bunter Teppich bedeckte den Dielenboden und die Möbel strahlten etwas Warmes aus.
Da fielen Keya Mercers Worte ein, als dieser ihr erzählt hatte, dass die Frau gar nicht so arm war, wie die Leute in ihrem Umfeld.
"Nein, danke", sagte Keya lächelnd. "Das ist ein wirklich schönes Zimmer!"
Die Lady nickte und ließ sich in einen braunen Ohrensessel fallen, der mit lila Kissen ausgestattet war. Keya und Mercer nahmen auf zwei bequemen Korbstühlen Platz.
"Wohnt Ihr alleine in diesem großen Haus, Lady Joseph?", fragte Keya übermütig und ergänzte schließlich, als es ihr selber auffiel: ,"Ich meine natürlich nur, wenn Ihr uns Aufschluss darüber geben wollt."
"Ach wisst ihr", setzte Lady Joseph an. "Ich wurde schon lange nicht mehr besucht und es gab schon lange niemanden mehr, mit dem ich reden konnte. Von daher beantworte ich Eure Frage gerne. Ich wohne seit etwa drei Jahren ganz alleine hier. Mein Mann ist vor drei Jahren verstorben."
"Oh", machte Keya erschrocken. "Das tut mir wirklich leid!"
"Ach das muss es doch nicht, Kindchen. Seine Zeit war gekommen. Hätte er weitergelebt, wäre es ihm schlechter gegangen. Er war sehr krank, müsst ihr wissen."
Keya nickte leicht. "Ich verstehe. Dennoch seid Ihr seitdem bestimmt sehr einsam."
"Ach naja. Was heißt einsam", nun lächelte die Lady verschmitzt, oder fast schon frech. "Ihr müsst wissen, dass ich eine Frau bin, die Anderen gerne hilft.
Mein Mann und ich nahmen damals sehr oft Bedürftige in unser Haus auf, die in Not geraten waren. Wir hatten mehrere Gästezimmer. Und auch heute nehme ich noch junge Frauen auf, die eine Arbeit brauchen. Braucht Ihr eine Arbeit?"
Keya zögerte. Es war eine Frage gewesen, mit der sie nicht gerechnet hatte. Brauchte sie das möglicherweise wirklich?
Erschrocken und leicht verunsichert blickte sie zu Mercer, dann sah sie wieder in die hellen Augen der Lady, die jetzt irgendwie dunkler wirkten. Zu was wollte diese Frau Keya machen?
"Nein, danke", sagte Keya etwas zu laut. Es bereitete ihr ein mulmiges Gefühl, dass die Lady sie nun ausführlich musterte.
Dann sagte diese: "Schade, ich hätte ein gutes Angebot für Euch gehabt."
Keya lächelte höflich. Dann entsann sie sich, warum sie wirklich zu Besuch gekommen war.
"Ich suche eine Lady Elesil Fredor. Könnt Ihr mir vielleicht sagen, ob Ihr sie kennt? Oder ob sie womöglich auch bei Euch gewohnt hat?"
Die Gesichtszüge der Lady Joseph, veränderten sich schlagartig.
"Oh ja, das hat sie! Ich habe sie in einem Gasthaus getroffen in dem sie arbeitete. Ich habe ihr meine Unterkunft zu Verfügung gestellt. Kurze Zeit später, ist sie einfach abgehauen und ich weiß bis heute nicht aus welchem Grund." Lady Josephs Blick ruhte auf dem Boden vor Mercers Füßen. Sie wirkte etwas verärgert, doch auch eine Spur Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit.
"Wisst Ihr vielleicht wohin sie geflüchtet ist?" Keya sah ihr mitleidig in die Augen, die immer noch etwas dunkler wirkten als bei der freudigen Begrüßung.
"Ja, das hat sie mir tatsächlich gesagt. Sie schrieb mir ich solle sie in Eastbell besuchen kommen. Doch ich schrieb ihr zurück, dass ich zu alt bin um regelmäßig dort hinzufahren. Sie ist trotzdem geblieben. Ach, die kleine Elesil. Sie hatte so ein Pech." Wieder ließ sie den Blick auf dem Boden ruhen. Plötzlich sah sie auf und Keya genauer ins Gesicht. Musterte sie wieder aufs Genauste.
Keya lief einer kalter Schauer über den Rücken. Irgendetwas stimmte hier nicht.
"Wer seid eigentlich?", fragte die Frau plötzlich in einem feindseligeren Ton als vorher. "Wer seid Ihr, dass ihr all diese Informationen über Elesil sammelt. Ihr seht ihr sehr ähnlich."
"Mein Name ist Keya...", antwortete Keya zögernd.
Nun sah man den Zorn vollständig im Gesichte der Frau. Sie erhob sich blitzschnell aus ihrem Sessel und baute sich in voller Größe vor Keya auf.
Erstarrt blickte Keya sie aus großen Augen an.
"Keya Yonara? Die Ziehtochter ihres verstorbenen Ehemannes? Ihr verlasst jetzt besser mein Haus. Bevor ich mich vergesse!" Die Frau schrie Keya nun fast ins Gesicht.
Keya jedoch war so erstarrt, dass sie sich nicht bewegte. Elesil hatte dieser Frau von ihr erzählt? Und das war anscheinend nicht mal etwas Gutes gewesen...

Stirnrunzelnd musterte Lawrence die alte Dame, ehe er der jungen Elfe vorsichtig zunickte und sich erhob.
"Ich glaube nicht, Mylady, dass Fräulein Yonara etwas getan hat, um Euren Zorn derart auf sich zu ziehen", sprach er die alte Dame an.
"Aber natürlich werden wir Eurem Wunsch nachkommen."
Er reichte seiner Begleiterin, die noch immer starr und offenbar völlig fassungslos im Sessel saß, die Hand, half ihr auf.
Derweil hagelten wüste, laut gekeifte Beschimpfungen auf die beiden herab.
"So ist es recht, verschwindet beide von hier und kommt nie zurück!
Leute wie euch, ein Dieb oder Schläger oder was du bist und so ein Flittchen will ich nicht in meiner Stube sehen!
Gesindel wie ihr, die anständige Leute um ihren rechtmäßigen Eigentum betrügen, seit es doch, die unsere Stadt kaputt machen!"
Lawrence war es gewohnt, selbst beschimpft zu werden, doch diese Anschuldigungen gegen die junge Frau neben ihm, ließen ihn wütend werden. Er kannte sie nicht gut, wusste nicht, was genau die Alte meinte und wie viel Wahrheit daran war. Doch abgesehen davon, dass er an all seinen Menschenkenntnissen zweifeln müsste, wenn sie korrekt waren, so brachten diese Aufregung und die Beleidigungen ihn beinahe zum Kochen, besonders wenn er bedachte, wie heuchlerisch sie doch waren.
Es war unüberlegt, dumm vielleicht sogar, doch er drehte sich abrupt zu Lady Joseph um und sagte mit ruhiger, tiefer, unbewegter Stimme:
"Mylady, es überrascht mich wenig, solche Worte aus Eurem Munde zu hören.
Schließlich seid Ihr unter uns diejenige mit der tiefsten Einsicht in Betrüger und Flittchen."
Er konnte sehen, wie jegliche Beherrschung und Farbe aus dem Gesicht der Alten wich und sie ihn ungläubig anstarrte.
Dann verzog sich ihr Gesicht zu einer wutverzerrten Maske und sie griff nach einer nahestehenden Vase, schleuderte sie mit beachtlicher Kraft in die Richtung der beiden.
"VERSCHWINDET!"
Es gelang Lawrence, Fräulein Yonara zur Seite zu ziehen, doch er selbst spürte an der Schläfe einen plötzlichen, dumpfen Schmerz.
Scharf zog er den Atem ein, spürte etwas Warmes an seinem Gesicht, wankte, sah Sterne vor seinem Gesicht tanzen. Doch es gelang ihm trotz all dem, sich mit Keya nach draußen zu schleppen.
Dort lehnte er sich stöhnend an die nächste Wand, fasste sich an die Schläfe und musterte das Blut, welches aus der frischen Platzwunde auf seine Finger getropft war.
"Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte er schließlich.

Keya war völlig verängstigt. Sie wirbelte herum und sah diesen Mercer mit einer Platzwunde am Kopf, an der Hauswand gelehnt stehen.
"Um Himmels Willen", rief sie laut aus. In ihrem Kopf spielten die Gedanken, wie sie Mercer helfen konnten ein wildes Ballspiel.
Ihre Augen huschten flink über die Erde. Bei jedem Gegenstand den sie entdeckte, wägte sie ab, ob er ihr bei ihrem Vorhaben helfen konnte.
Sie erblickte einen flachen Kiesel etwas von ihnen entfernt. So weit entfernt, dass sie etwa drei große Schritte von diesem Mercer weghuschen musste. Sie hob ihn auf und rannte zu Mercer zurück. Kam ihm ganz nah und sagte: "Ihr müsst mir versprechen still zu halten, ja? Ich muss Euch die Platzwunde verbinden."
Sie drückte ihm blitzschnell den Kiesel gegen die Wunde. Zog sich eines der blauen Bänder vom Ärmel, wickelte es mit einer hohen Geschwindigkeit um Mercers Kopf, sodass er nicht schnell genug realisieren konnte, was sie da eigentlich machte, und vollendete den improvisierten Druckverband mit einer Schleife.
"Ihr habt eine Platzwunde, lasst den Stein bloß wo er ist. Ich habe Euch einen Druckverband gewickelt." Sie sah in seine braunen Augen. Noch immer war ihr Gesicht ganz nah vor seinem und ihr lief ein leichter Schauer den Rücken herunter. Nach all dem was er gerade für sie getan hatte, konnte er doch kein böser Mensch sein. Hatte sich Keya im ersten Augenblick als sie ihn kennen lernte, wohl doch nicht getäuscht.
"Wir sollten schnellstmöglich das Armenviertel verlassen", noch immer starrte sie in seine Augen. "Vielleicht solltet Ihr mit dieser Wunde auch einen Arzt aufsuchen." Sie machte einen kleinen Schritt zurück und wollte mit ihm zusammen loslaufen. Dann jedoch wendete sie sich ihm nochmal zu. "Ich danke Euch, dass ihr mich begleitet habt. Und es tut mir so unendlich leid, dass diese Suche in diesem Desaster geendet hat."
Dann musste sie leicht schmunzeln. "Diese blaue Schleife steht Euch übrigens wunderbar."

Lawrence ließ alles über sich ergehen - hauptsächlich, weil er zu benommen war, um sich zu wehren.
Doch abgesehen davon gestaltete es sich auch als weit weniger unangenehm als erwartet.
Die Hände der jungen Frau waren sanft und geschickt, es brannte nur ganz kurz, als sie den Druckverband anlegte.
So ein liebes Mädchen ... hoffentlich hat sie auch eine liebende Familie.
"Danke", sagte er leise, als sie fertig war. "Aber du musst dir keine Sorgen machen - ich habe schon schlimmeres erlebt."
Dann legte sich ein schiefes Lächeln auf seine Lippen.
"Allerdings muss ich zugeben ... ich habe nicht damit gerechnet, jemals von einer alten Frau in die Flucht geschlagen zu werden."

Das Lächeln des Mannes war ansteckend. Auch auf Keyas Gesicht breitete sich eines aus.
Dann schmunzelte sie wieder leicht. "Ich habe auch keine Erfahrung mit Vasen als Wurfgeschossen. Angriffe von Tieren sind wenigstens angenehmer zu verdauen. Die meinen es nicht persönlich."
Sie brach ihre Erzählung ab. Hatte sie möglicherweise zu viel von ihrer eigenen Geschichte preisgegeben. Sie schluckte den Gedanken herunter.
"Womit wir beim Thema wären. Elesil Fredor scheint mich nicht sonderlich zu mögen. Es sei denn sie interpretiert fliegende Vasen als Liebesbeweise. Ich will weiter nach ihr suchen. Nur weil sie mich nicht mag, heißt es nicht, dass ich noch immer einige Fragen an sie habe. Vielleicht sogar mehr als vorher...", sie zögerte noch einen Moment und starrte abschätzend auf ihren improvisierten Druckverband um Mercers Kopf. "Es geht Euch wirklich gut?"

Lawrence blinzelte und schaute sie an, antwortete dann, ein wenig zu schnell.
"Ja. Ja, mir geht es gut. Ich werde später auch den Heiler aufsuchen, es gibt einen in der Kaserne."
Ein wenig benommen war er noch und auch der dumpfe Kopfschmerz war nicht verschwunden, ansonsten fühlte er sich allerdings gut. Erstaunlich gut eigentlich, wenn er es recht bedachte.
"Kann ich Euch irgendwie weiter bei der Suche helfen?"

Auf Keyas Gesicht breitete sich unverzüglich und plötzlich ein breites Lächeln aus. Sie zog es sofort peinlich berührt zurück.
Sie wollte nicht, dass er direkt wusste wie sympathisch sie ihn eigentlich fand. Kennen tat sie ihn schließlich nicht und einschätzen konnte sie ihn ebenfalls nicht voll und ganz. Aus ernsten Augen sah sie ihm ins Gesicht. Auch noch während des darauffolgenden Satzes versuchte sie sich ernst zu halten, merkte aber, wie ganz langsam, während des Redens das breite Lächeln zurück kam.
"Wenn Ihr mir bei der Suche beistehen mögt, würde ich vorschlagen wir gehen erst zur Kutsche zurück, die noch vor meinem Haus befindet. Mit dieser könnten wir uns auf den Weg nach Eastbell machen und Elesil suchen."
Einen Moment lang zögerte Keya dann. Kritsch betrachtete sie nun wieder ihren improvisierten Druckverband. "Allerdings mache ich mir immer noch etwas Sorgen wegen Eures Kopfes. Ihr solltet es wohl erst in der Kaserne untersuchen lassen, bevor wir unsere Suche fortsetzen."

Lawrence kam nicht umhin, von dem Mienenspiel auf dem Gesicht der jungen Frau fasziniert zu sein. Erst ein Lächeln, unbefangen und offen, dann rasch und hastig durch einen würdigen Blick ausgetauscht, sodass sich der Wachmann an einen Heranwachsenden erinnert fühlte, der sich dabei ertappte, laut ein Kinderlied zu summen. Und dann kehrte das Lächeln wieder zurück und Lawrence musste es einfach erwidern. Schmal und zart lag es auf seinen Lippen, würde ihr wohl nichtssagend und belanglos erscheinen, denn wie konnte sie auch ahnen, dass dieses Lächeln den sanften, vorsichtigen Versuch darstellte, aus seier üblichen, regungslosen Maske hervorzudringen?
"Nun gut", seufzte er als Antwort auf ihren Vorschlag, doch er klang dabei weder wirklich entnervt, noch verärgert, war auch keins von beiden. Auf seltsame Weise berührte es ihn, dass diese junge Dame, die ihn seit weniger als einen Tag kannte, und bei der er anfangs sicher keinen guten Eindruck hinterlassen hatte, sich um sein Wohlbefinden kümmerte.
Irgendwo in seinem Inneren sehnte er sich wohl nach dieser Sorge, diesem Mitgefühl, danach, dass er für irgendjemanden einen Wert hatte. Gleichzeitig war Lawrence jedoch auch bewusst, dass es unvernünftig war, dieses zu erhoffen. Er war ein Dummkopf, der sich von Mädchen bezirzen lassen, sie vielleicht sogar für kurze Zeit zu sich locken, doch niemals bei sich halten konnte.
Das war ein Schicksal, welches er längst hätte hinnehmen sollen, so schwer es auch zu akzeptieren war.
Mit diesen Gedanken im Hinterkopf, machte er sich samt dem Fräulein Yonara auf den Weg zur Kaserne.






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#3

RE: 09. Keyas Nacht in Eastbell

in Frühling 516 05.09.2015 21:19
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

"Ich muss doch sehr bitten!"
Adastreia rümpfte die Nase, ihre Unterlippe bebte leicht.
Was fiel diesem lächerlichen Narren ein, dass er so einfach auf sie zu ging und ganz unverfroren nach Arbeit fragte, ohne sie mit einem einigermaßen korrekten Titel anzusprechen!
"Erstens: Habt bitte den Anstand, mich 'Mylady' oder 'werte Dame' zu nennen!
'Gnäd'ge Frau' ist doch keineswegs eine angemessene Weise, eine Frau wie mich zu begrüßen!"
Der hochgewachsene, grauhaarige Mann mit sehniger Statur öffnete den Mund, doch Adastreia schnitt jedes eventuelle Wort ab, ehe es auch nur auf seiner Zunge liegen konnte. Mit kühlem Blick und schneidender Stimme fuhr sie fort:
"Und zweitens: Ich bin ein Gast in diesem Haus, auf dieser Bank sitze ich lediglich, weil meine liebe Freundin, die so gütig war, mir hier ein Bett zu bieten, noch nicht wieder heim ist! Also obliegt es keineswegs mir, Euch Arbeit zu geben."
"Verzeiht, gnä ... Mylady", beeilte der Mann sich mit hochrotem Kopf zu sagen. "Ich hörte nur, hier ist ’ne reiche Elfenfr… Elfendame eingezogen, und da dachte ich mir, vielleicht braucht die ’nen Gärtner. Wusste ja nich, dass Ihr das nich seid..."
Wut glomm in Adastreias Augen auf, spiegelte sich in ihrem Kristall wieder und sie machte sich gefasst, diesem schlechterzogenen Dienstboten die Lektion seines Lebens zu erteilen, ihn dafür zu schelten, sich nicht genauer informiert zu haben und dann auch noch eine ganze Reihe unterschiedlichster Völker wegen ihrer spitzen Ohren in eine Kategorie einzuordnen.
Doch sich langsam nähernde Fußtritte hinderten sie daran.

Mit Lawrence erreichte Keya Theodmons ehemaliges Zuhause.
Von weitem schon, erkannte sie ihre Freundin Adastreia auf einer Bank vor dem Haus sitzen. Ein unbefangenes, breites Grinsen legte sich auf Keyas Lippen. Ohne darüber nachzudenken, stürmte sie los. Lief die letzten Meter bis zu Adastreia und breitete hell lachend die Arme aus. Sie legte sie um Adastreias Schultern und ließ kurz darauf wieder von ihr ab.
Noch immer grinste sie, als sie sagte: "Hast du deinen Bruder ausfindig machen können?"

Verwirrt und ein wenig überfordert von der plötzlichen, stürmischen Begrüßung, war sie doch gerade noch im Begriff gewesen, dem Gärtner eine Standpauke zu halten, legte Adastreia die Arme um ihre Freundin, unfähig, sofort zu antworten.
"Ja", sagte sie schließlich, spürte den Zorn verglühen, "das habe ich."
Sie blickte auf in die lichten, blauen Augen, lächelte.
"Er lebt wirklich in dieser Stadt ..."
Sie strich noch einmal kurz über Keyas Oberarm, hielt dann plötzlich inne, als ihr etwas auffiel.
Zwei Dinge eigentlich:
Das eine war, dass sie sich noch gar nicht richtig um ihre Weggefährtin und deren eigene Suche gekümmert hatte, in ihrer Aufregung einfach eilig von den Archiven aufgebrochen und zu Orome geeilt war.
Das andere war der Soldat, Mercer, der nur wenige Schritte von ihnen entfernt stand.
Sie beschloss, sich vorerst nach Keya zu erkundigen, blickte ihr tief in die Augen und fragte sanft:
"Und wie geht es dir, meine Liebe?"
Sie schaute kurz erneut zu dem Krieger auf, als wolle sie sichergehen, dass er dazwischen nicht verschwunden sei, und fragte dann etwas strenger:
"Habt Ihr uns etwas mitzuteilen?"

Keyas Grinsen blieb bestehen. "Das freut mich so sehr für dich, Adastreia! Habt ihr euch gut verstanden?"
Dann wurde ihren Züge wieder etwas ernster. Die Suche war eindeutig gar nicht so gelaufen wie sie sich das vorgestellt hatte.
"Ich habe Theodmons Ehefrau noch nicht gefunden. Sie ist nicht in Brightgale. Ich war gerade bei einer Frau, die sie in den letzten Tagen in denen sie hier gelebt hat, bei sich im Haus untergebracht hatte. Wir haben mit ihr gesprochen. Sie hat mit einer Vase nach uns geworfen. Das heißt doch sicher, dass diese Elesil Fredor mich nicht mag..." Die Worte sprudelten nur so aus Keyas Mund. Sie war so aufgeregt, dass die Worte sich fast überschlugen, während Keya sie hastig aussprach. Noch nie war sie auf eine solche Person getroffen. Auf eine, die ihr ihre Abneigung so offen demonstrierte.
Keya antwortete schließlich auch auf Adastreias letzte Frage die eigentlich an diesen Mercer gerichtet war. "Er hat mir geholfen. Und nun möchte er mir helfen Elesil in Eastbell ausfindig zu machen!"

Adastreias schmale Brauen zogen sich eng zusammen.
"Wie bitte!?"
Besorgt und erregt strich sie über Keyas Wange.
"Ist dir nichts geschehen? Wer war diese Frau? Muss sie dafür nicht bestraft werden!?"
In diesem Moment fiel ihr ein, dass es noch einen Kandidaten für eine solche Strafe gab.
"Mach dir keine Gedanken, meine Liebe", sagte sie und lächelte ihre Freundin an.
"Ich werde dafür sorgen, dass alles seine Richtigkeit hat."

Keya lächelte beschwichtigend.
"Es ist alles in Ordnung", sie nahm Adastreias Hand von ihrer Wange und drückte sie beschwichtigend. "Ihr Name ist Janice Joseph. Sie ist eine wohlhabende Frau, die sich merkwürdigerweise ins Armenviertel zurückgezogen hat."
Über Adastreias letzte Aussage wunderte sich Keya etwas. "Was hast du vor?", fragte sie, während sie noch immer Adastreias Hand in ihrer hielt.

"Ich werde Beschwerdebriefe aufsetzen", antwortete Adastreia süßlich. "Ein solches Verhalten kann und darf in einer ordentlichen Stadt nicht geduldet werden - insbesondere nicht von einer Frau, die es aufgrund ihrer Geburt eigentlich besser wissen sollte. Aber auch dieser junge Flegel, welcher dich gestern im Rathaus so unziemlich behandelt hat, soll nicht ungestraft bleiben!"
Sie wusste schon genau, wie sie einen solchen Brief zu schreiben hatte. Höflich, aber nicht ohne eine gewisse Strenge würde sie den Behörden melden, was geschehen war und in aller Form die Wiedergutmachung verlangen, welche Keya zustand. Dabei würde sie auch nicht davor zurückscheuen, auf ihren Stand hinzuweisen, schließlich sollten sie alle wissen, mit wem sie es zu tun hatten.
In zerstreute Gedanken über den exakten Wortlaut ihrer Schriften, wandte sich Adastreia der Eingangstür zu, wartete darauf, dass ihre Freundin aufschließen würde.
Plötzlich aber fiel ihr noch etwas ein und sie drehte den Kopf dem Wachmann zu, der noch immer stumm in der Nähe stand.
"Ich hoffe doch, dass ich erwarten kann, dass Ihr Eure Pflichten weiterhin vorbildlich erfüllen werdet."
Mehr als ein knappes "Natürlich" erntete sie dafür nicht, doch ihr Geist war ohnehin schon wieder an ganz anderen Orten unterwegs.

Keya stockte und beobachtete wie ihre Freundin zur Eingangstür von Theodmons Haus trat.
Im selben Moment fragte sie sich, was wohl passieren würde, wenn die Beschwerde bei den beiden betroffenen Personen ankommen würde. Jedoch wusste sie nicht, was damit zusammenhing. Dazu war sie zu lange nicht in zivilisierter Umgebung gewesen, hatte sich zu lange von Theodmon als dümmliche Hausfrau erziehen lassen, die keinen Weitblick besaß und nicht wusste, was in der normalen Gesellschaft vor sich ging.
Mit einer Art kindlichem Übermut und federleichten Schritten drängelte sie sich vor Adastreia an die Tür.
Das was zurzeit passierte, war für Keya zwar eine schwierige Situation, aber sie hatte es satt dafür zu trauern. Es entsprach auch garnicht ihrem Charakter ständig wegen etwas Tränen zu vergießen.
"Ich schließe dir die Tür auf", ihre helle Stimme glich fast einer Melodie, als sie Adastreia kurz angrinste und die Haustür mit dem goldenen Schlüssel entriegelte. "Wir werden heute Abend sicher wieder eintreffen. Ist es vielleicht in Ordnung, wenn wir deine Kutsche ausborgen um nach Eastbell zu gelangen?"

"Aber natürlich, meine Liebe", antwortete die weißhaarige Lady abwesend und Lawrence war nicht sicher, ob sie überhaupt zugehört hatte. Kurz verschwanden die beiden Damen im Haus, dann kehrte Fräulein Yonara alleine zurück.
Es beruhigte den Wachmann ein wenig, dass ihre Freundin sie nicht begleiten würde. Er hegte keine unehrenhaften Absichten, doch er musste zugeben, dass ihm die Gesellschaft der jungen Frau ungemein zusagte und auch, dass er gleiches nicht von der Edelfrau behaupten konnte, die ihn behandelte, wie es zugegebenermaßen die meisten Edelfrauen taten.

Keya hatte Adastreia nur kurz hinein begleitet. Sie schien etwas abwesend zu sein, während die beiden Papier und Stift heraus suchten.
Als sie alles gefunden hatten, verabschiedete sich Keya von ihr und kam nach draußen, wo Mercer noch stand und auf sie wartete.
"Dann lasst uns losfahren", grinste sie breit und spürte Tatendrang, der sich nun in ihr ausbreitete.

Als Keya dem Kutscher mitgeteilt hatte, wohin sie wollten und nicht übersehen hatte, dass dieser etwas verwundert dreinblickte als sie ihm den Namen des Ziels genannt hatte, klapperten kurze Zeit später erneut die Hufe der Pferde über die Wege und eine angenehme, entspannte Fahrt begann.
Eine Fahrt in der Keya erneut die Augen zu fielen. Noch immer hatte sie viel Schlaf nachzuholen, den sie in den letzten Jahren im Wald versäumt hatte.






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#4

RE: 09. Keyas Nacht in Eastbell

in Frühling 516 05.09.2015 21:20
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

"Brrt", hörte Keya den Kutscher laut sagen, als die Kutsche mit einem Ruck zum Stehen kam.
Sie riss erschrocken die Augen auf. Es hatte sich nicht viel verändert, außer dass die Sonne etwas tiefer stand als vorher. Es musste in etwa später Nachmittag sein.
"Mylady", der Kutscher öffnete eine der Türen. "Wir haben Eastbell soeben erreicht und stehen nun vor dem Rathaus des Ortes."
"Vielen Dank", murmelte Keya nur als Antwort. Sie war noch immer nicht ganz sicher, wie sie die Höflichkeitsformen beherrschte. Kaufte man ihr ab, dass sie höflich war? Oder verwendete sie die Floskeln möglicherweise falsch.
"Kommt Ihr mit mir ins Rathaus um Elesil ausfindig zu machen?", fragte sie nun Mercer, der mit ihr in der Kutsche saß.

"Wie es Euch beliebt", erwiderte Lawrence und stieg aus der Kutsche, reichte der jungen Frau die Hand, um auch ihr hinaus zu helfen. "Wenn Ihr sie lieber alleine sehen wollt, werde ich hier warten."
Er ließ den Blick um sich schweifen.
Ein hübscher Ort war Eastbell. Die Straße war sauber und gepflegt, die Gesichter der Menschen schienen weniger mürrisch als es in der Stadt meist der Fall war, kein Haus schien Schäden aufzuweisen. Vermutlich kamen tagtäglich viele Reisende vorbei und vermutlich verdienten die Dorfbewohner recht gut daran.
Trotzdem war diese frohe Atmosphäre etwas, das Lawrence lächerlich, geradezu aufgesetzt empfand, er erwartete beinahe, dass jemand sich das Gesicht als Maske vom Kopf riss und ein Ungetüm entblößte oder dass die Wände eines nahestehenden Backsteinhauses bei der kleinsten Berührung zu Sand zerfallen würden.
Vielleicht war er aber auch nur paranoid.

"Ehrlich gesagt", setzte Keya zögernd an. Sie war sich nicht sicher, ob sie das Ganze vielleicht zu hoch einstufte, schließlich kannte sie den Mann gar nicht richtig und dennoch war es ihr, als wäre diese Situation vertraut. "...würde ich mich sehr freuen, wenn Ihr mich begleitet." Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen, während sie aussprach was sie dachte.
Sie schaute sich einen Moment lang um. Irgendetwas an dieser Umgebung gefiel ihr nicht. Irgendetwas hier war falsch und fehl am Platz. Als hätten all diese Menschen etwas zu verbergen.
Sie betrachtete die kleinen Geschäfte um sie herum. Dort waren eine Modeboutique, ein Einkaufsmarkt und einige kleine Restaurants. Nichts wies auf ein ungewöhnliches Vorgehen in dieser Stadt hin und dennoch fühlte Keya sich merkwürdig in dieser Umgebung.
"Nun gut", sagte sie leise. "Sollen wir reingehen?", sie wandte sich dem Rathaus zu. Musterte auch dieses, doch auch hier konnte sie nichts feststellen, was in irgendeiner Weise ungewöhnlich war.

Lawrence neigte den Kopf.
"Gerne."
Er ging wenige Schritte auf das Gebäude zu, hielt kurz inne schaute nach oben, um kurz den Uhrenturm zu bewundern - eine ziemlicher Luxus in einem kleinen Dorf - und gleichzeitig zu hoffen, dass seine ungute Vorahnung sich nicht in der Weise bestätigen würde, dass er einem von dort üben springenden Verzweifelten ausweichen müsste. Dieses Ereignis traf dann glücklicherweise nicht ein, wenngleich seine Gefühle nicht verschwanden.
Als Lawrence aber seine Augen wieder vom Himmel fort auf eine niedrigere Ebene richtete, glaubte er, durch das Fenster eines nahestehenden Restaurants etwas Bekanntes zu sehen. Ganz eingenommen davon hielt er nicht mehr auf das Rathaus, sondern auf das kleine Lokal zu und schaute hinein, sah eine schlanke, braunhaarige Frau, welche anscheinend damit beschäftigt war, die Bestellungen der Gäste aufzunehmen.
"Ist sie das?"

"Was?", Keya hatte zunächst nicht mitbekommen, dass Mercer sich ein Stück weit von ihr fort bewegt hatte.
Noch immer suchte sie das, was ihr so ein mulmiges Gefühl bereitete. Als sie nun zu Mercer schritt und ebenfalls durch das Fenster schaute, begriff sie wovon er sprach.
Keya erkannte Elesil Fredor sofort und wie so oft packte sie der Tatendrang. Sie antwortete Mercer nicht sondern schritt einfach durch die Tür.
"Kann ich Euch einen Tisch anbieten?", sprach sie ein schnauzbärtiger, dicker Mann an, der auffällig nach Fleisch und Zwiebeln roch.
Keya reagierte auch nicht auf diesen Mann, sondern drängte sich an ihm vorbei, steuerte direkt auf Elesil Fredor zu, die gerade an einem Tisch stand und anscheinend Bestellungen aufnahm.
"Entschuldigung?", sprach sie sie mit lauter, bestimmter Stimme an.
"Einen Moment", murmelte Elesil und ließ ihren Stift über das Papier sausen, welches sie in der Hand hatte.
"Ich habe keine Zeit", sagte Keya. "Ich muss sofort mit Euch reden."
Elesil wirbelte herum und Keya war, als würde sie in das Gesicht ihrer Zwillingsschwester schauen. Dieselbe Augenfarbe, dieselbe weiße Haut, ähnliche Gesichtszüge, sogar dieselbe Körpergröße verband die beiden Elfenfrauen.
Das einzige was an dieser Frau anders aussah, waren ihre glatten Haare, während die von Keya sich wie eine Löwenmähe zusammen krausten.
"Seht Ihr nicht, dass ich zu arbeiten habe?", Elesil Fredor klang aufgebracht.
"Ihr seid Elesil hab ich Recht?", Keya sah sie ganz ernst an.
"Super erkannt", entgegnete Elesil frech grinsend. Dann wollte sie sich an Keya vorbei drängen, doch sie stellte sich ihr noch einmal in den Weg.
"Ich habe einige Fragen an Euch", setzte sie noch einmal an.
"Wer seid Ihr überhaupt?!", Elesil klang jetzt einfach nur noch stocksauer.
"Keya", entgegnete sie leise und schaute ihr in die Augen. Ihre Züge veränderten sich. Wurden härter und ernster. Ihre Augen waren kalt.
"Keya Yonara?", fragte sie leise. Doch ihre Worte klangen eisig. Es war nicht nur Wut, die diese Frau mit ihrem Namen verband, sondern noch viel mehr.
"Die die mich aus meinem Heim geschmissen hat?", noch immer sprach Elesil ganz leise.
"Ich...das ist ein Missverständnis", stotterte Keya. Sie betrachtete völlig schockiert wie sauer diese Frau auf sie zu sein schien.
"Die Frau die als Kind ihre eigene Familie umgebracht hat? Die Frau die Theodmons Leben zerstört hat? Er hat alles für dich gegeben und du hast es mit Füßen getreten und bist weggelaufen? Dieses Mädchen bist du?" Während Elesil all diese fälschlichen Behauptungen aussprach und sie auch noch duzte, wurde sie immer lauter. Die Emotionen die in ihrer Stimme lagen, trieben Keya die Tränen in die Augen.
"Das hat er dir erzählt?", sagte Keya leise, fast tonlos. Eine Träne löste sich und kullerte über ihre Wange.
"Du bist eine Mörderin! Eine Familienzerstörerin! Ein krankes, wertloses Mädchen, dass nichts verdient hat, außer auf sich allein gestellt zu sein! Und du willst mir Fragen stellen?"
Keya konnte die Tränen nun nicht mehr halten. Sie flossen in Strömen über ihre Wangen. Sie hatte damit gerechnet, dass Elesil nicht gut auf zu sprechen war, aber solche Anschuldigungen hatte sie nicht erwartet.
"Vielleicht solltest du dich mal fragen, wer von uns beiden wirklich der Böse war", sprach Keya noch immer mit tonloser Stimme, jedoch sah sie, dass auch ihre Worte ankamen.
Elesil schwieg einen Moment, dann schrie sie wieder drauf los. Beschimpfte Keya als Mörderin und als Wahnsinnige. Doch all das bekam Keya nicht mehr mit, sie war schon aus dem Resteraunt gestürmt. Vorbei an Mercer, vorbei an dem Mann mit dem Schnauzer, vorbei an allen Gästen des Restaurants, vorbei an Fußgängern, die sich darüber beschwerten, dass sie sie versehentlich anrempelte.
Noch immer verschleierten Keya Tränen die Sicht. Doch die vielen Bäume am Horizont wiesen unverkennbar auf ihre wahre Heimat hin.
Dies war ihr Ziel und als sie tief in den angrenzenden Wald hinein gelaufen war, brach sie an einem Baumstamm gelehnt einfach zusammen. Ließ all die Tränen und Gefühle aus sich herausschießen und beschloss innerlich nie mehr in diese Welt zurück zu kehren. Niemand würde ihr glauben. Niemand würde ihr glauben, dass sie unschuldig war und Theodmon der eigentliche Täter war. Jeder würde sie als krank einstufen und sie wollte nicht sehen, wie möglicherweise selbst Adastreia so von ihr dachte.
Also kugelte sie sich zusammen, beruhigte sich nach einiger Zeit etwas, genoss den Geruch und die Geräusche der vertrauten Umgebung und versuchte sich einfach damit abzufinden, dass sie nicht zurückgehen konnte. Eine lange Zeit saß sie einfach nur so da. Fühlte sich leer und wusste nicht weiter.

"Fräulein Yonara?"
Lawrence lief durch den Wald, hielt die Augen nach der jungen Elfe offen, doch aus Erfahrung wusste er, wie schwierig es sein konnte, jemanden im dichten Gehölz zu finden. Er konnte nur hoffen, dass sie sich nicht weiter vor ihm verstecken würde.
"Wo seid Ihr?"
Er hätte schneller sein müssen, sie aufhalten sollen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sich nicht schützend zu der jungen Frau zu stellen. Vielleicht hätte es verhindert, dass sie losgerannt war.
Jetzt jedenfalls musste er sie finden, denn er konnte nicht verantworten, dass sie alleine und schutzlos durch den Wald irrte, nachdem er versprochen hatte, ihr zu helfen.
"Bitte antwortet mir."

Als Keya Mercers Stimme vernahm, wusste sie sofort wo er sich gerade aufhielt.
Beim Jagen hatte sie gelernt, wie genau man zuordnen konnte, welche Laute aus welcher Richtung kamen.
Sie biss sich auf die Lippe und schwieg. Wieso suchte er sie? Jetzt nachdem sie es geflohen war und nachdem sie sich sicher war, dass sie keiner vermissen würde.
Sie setzte sich etwas auf, als sie hörte wie er an ihr vorbei lief. Er hatte sie wohl nicht gesehen und sie war sich sicher, dass er das auch nicht tun würde, wenn sie ihm eine kurze Antwort gab.
"Ihr könnt zurück nach Brightgale fahren", rief sie und beobachtete durch die dünnen Äste des Gebüschs vor ihr, wie Mercer wie angewurzelt stehen blieb. "Ich werde nicht mehr mit zurückkommen. Ich möchte nicht, dass jemand mich so todunglücklich sieht. Lady Fredor sagt nicht die Wahrheit über mich, aber wer würde mir das schon glauben?"

Es beruhigte Lawrence ungemein, die junge Frau gefunden zu haben oder sich nun wenigstens in ihrer Nähe zu befinden. Er konnte zwar aus ihrer Stimme heraushören, dass sie wohl in einem der Büsche saß, sie aber nicht entdecken. Dennoch war es gut, sie zu hören, zu wissen, dass er mit ihr reden konnte, ihr helfen.
Alles war besser als eine Suche, die durch den Wald führte.
"Ich glaube dir", antwortete Lawrence also, als er auf der Lichtung stehen blieb.

Keya horchte auf.
Sie erhob sich und war mit einem Schwung wieder auf den Beinen.
Langsam und mit Bedacht, um sich nicht an den Ästen zu verletzen, kletterte sie durch das Gebüsch und trat einige Schritte auf Mercer zu.
Die Arme verschränkt und der Blick auf die Erde gerichtet, blieb sie vor ihm stehen.
"Theodmon hat meine Famile ermordet, als ich noch ein Kind war. Er hat mich bei sich aufgenommen, um mich später heiraten zu können", sie sah in Mercers Gesicht und versuchte zu ergründen, was er über sie dachte. "Ich war solange nicht in Brightgale, weil ich vor all dem flüchten wollte. Weil ich vor Theodmon flüchten wollte. Glaubst du mir auch das?"

Lawrence hatte nicht mit einer solchen Antwort gerechnet. Nicht damit, dass hinter diesem so naiv anmutenden Mädchen, das gerade scheu aus dem Geäst getreten war, eine solche Geschichte steckte.
Er schaute lange in die blauen Augen der Elfe, jung und unschuldig, offen, trotz des Leids, welches sie erfahren haben mussten. Er beneidete sie ein wenig darum, diesen Blick behalten zu haben, hatte er selbst ihn doch schon lange verloren.
Sein Mund und seine Kehle waren trocken, als er sich räusperte und fest antwortete:
"Ja. Auch das."
Er presste die Lippen zusammen, fügte dann hinzu:
"Und es tut mir leid, dass Ihr so etwas erleben musstet."

Lange regte sich Keya nicht. Sie hatte den Blick erneut etwas gesenkt, starrte zu Boden und überlegte was sie tun sollte. Die Begegnung mit Elesil brannte auf ihrer Seele, hatte ihr einen Stich ins Herz versetzt.
Theodmon hatte Keya ihr ganzes Leben lang belogen, betrogen und ausgenutzt und schließlich wurde auch noch sie selbst dafür bestraft.
"Danke", murmelte sie schließlich leise. "Ich weiß nur nicht, was ich jetzt mit mir anfangen soll."
Sie atmete tief durch und versuchte ihre Anspannung beim Ausatmen entweichen zu lassen.
Dann versuchte sie sich an einem Lächeln in Mercers Richtung. "Es ist schön zu wissen, dass Ihr mir glaubt", sie zögerte. "Es wäre nur schön, wenn ich irgendwie beweisen könnte, dass Theodmon derjenige war, der ein Psychopath war und nicht ich. Aber leider besitze ich überhaupt nichts mehr von meinen alten...", sie stockte mitten im Satz. Ihr fiel das Buch ein in dem sie damals den Zettel gefunden hatte, auf dem Theodmon berichtet hatte ihre Familie getötet zu haben. Möglicherweise war dieses Buch noch auf dem Dachboden zu finden.
"Wir müssen nach Brightgale zurück", sie blickte direkt in Mercers Augen.
Als sie bemerkte das es bereits dämmerte, fügte sie hinzu: "Wir sollten uns aus dem Wald begeben. Im Wald geht es bei der Dämmerung schneller als man denkt, bis man seine eigene Hand vor Augen nicht mehr sehen kann."

"Das stimmt allerdings", antwortete Lawrence, erleichtert, dass es so wenig Überzeugungsarbeit bedurft hatte, um die junge Frau zu beruhigen. "Ich kann gut darauf verzichten, eine Nachtwanderung durch den Wald zu unternehmen."
Das hatte er zu oft tun müssen. Und wenn er eines nicht wollte, dann war es, an diese Zeit der Todesangst und Entbehrung erinnert zu werden.
Sie erreichten den Waldrand, als die Sonne gerade hinter dem Horizont verschwand, die umliegenden Wiesen und Felder in rotes Licht tauchte. Man konnte einige menschliche Umrisse sehen, die in einiger Entfernung den Weg Richtung Eastbell beschritten, Bauern vermutlich, auf dem Heimweg nach einem Tag langer Arbeit. Die Vögel zwitscherten laut, ein letztes Aufbegehren, bevor sie sich zur Ruhe legen würden.
Und in der Ferne konnte Lawrence einen Grashügel ausmachen, der sich markant aus der Landschaft hervorhob.
Es war eine wunderschöne Szenerie, doch der Anblick weckte auch einen tiefsitzenden, bittersüßen Schmerz in dem Soldaten aufleben.
Ohne den Blick abzuwenden, hob er die Hand, legte die Finger sanft, andächtig an seinen Ohrring und fragte sich, wie viele Jahre es nun her war, dass er ihn angelegt hatte.
Zehn Jahre? Elf? Zwölf?
Die Zahlen verschwammen in seiner Erinnerung, wie auch all die Momente mit den Jahren von verschwommenen Bildern abgelöst worden waren, so sehr er sich auch daran festklammerte.

Als Keya und Mercer das Ende des Waldes erreichten, staunte sie über die wunderschöne Landschaft.
Sie bestaunte den Sonnenuntergang, der gerade in den letzten Zügen lag.
Sah, wie die Sonne schon fast verschwunden war und nur noch ein kleiner orangener Kreis am Horizont hervorlugte.
"Wow sieht das toll aus", sie wollte sich gerade an Mercer wenden, als sie bemerkte, dass er einige Schritte hinter ihr stehen geblieben war. Die Hand hatte er an seinen Ohrring gelegt und nach und nach sah es so aus, als würde er ihn immer fester drücken.
Sie lief zu ihm zurück. "Ist alles in Ordnung mit Euch?", fragte sie und blickte besorgt in sein Gesicht.
Er sah aus, als wenn er an etwas anderes dachte. Als wenn er sie gar nicht richtig hören konnte.

Blinzelnd wandte Lawrence den Kopf und schaute wieder in das Gesicht der Elfe.
Einen Augenblick lang hatte er tatsächlich vergessen, dass sie bei ihm war, dass sie der Grund war, weshalb er nun hier stand und sich von alten Erinnerungen fortreißen lassen konnte.
"Ja", antwortete er langsam, während sein Blick wieder in die Ferne zu dem Hügel glitt, auf dem keine Gestalt stand, welche auf ihn wartete. Wie sollte sie auch? Schließlich gab es in dieser Welt niemanden mehr, der auf ihn wartete. "Ich habe mich nur an etwas erinnert ..."

Keya folgte Mercers Blick mit ihrem, der sie zu dem Grashügel führte, der direkt vor ihnen lag.
Sie fragte sich, an was er sich erinnerte. Aber aufdringlich sein oder neugierig wirken, wollte sie auch nicht. Die Lippen zu einem geraden Strich verzogen nickte sie langsam.
"Das Gefühl von Erinnerungen, die an bestimmten Plätzen aktiviert werden, kenne ich. Sehr gut sogar!" Sie sah ihm wieder in die Augen. "Wenn Ihr jemanden zum Reden braucht...Ich höre Euch zu. Oder wir gehen weiter und ich versuche Euch etwas abzulenken." Sie versuchte sich an einem Lächeln.

Lawrence zwang sich zu einem Lächeln.
"Ihr habt ein gutes Herz, Fräulein Yonara.
Aber Ihr müsst Euch keine Sorgen um mich machen."
Trotzdem wanderte sein Blick von ihrem Gesicht wieder in die Ferne. Schließlich seufzte er und erklärte gedankenverloren:
"Ich musste nur an meine Frau denken. Sie lebt nun schon sehr lange nicht mehr."
Und mit ihr war so Vieles gestorben.
Seine Jugend, sein Glaube, seine Hoffnung.

Er hatte seine Frau verloren?
Keya wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte jemanden zu verlieren, der einem so viel bedeutet hatte und den man so geliebt hatte. War sie zwar noch sehr klein gewesen, als ihre Familie gestorben war, aber an den Schmerz konnte sie sich erinnern.
Sie wusste noch, wie ihr der Verlust ihrer Eltern ein schmerzhaftes Loch in die Seele gebrannt hatte. Wie sie Tage und Nächte lang dagelegen hatte und die Tränen vor Sehnsucht nur so über ihre Wangen gelaufen waren.
"Das tut mir so leid", sagte sie mit sorgenvollem Gesicht. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seinen Arm und schaute ihm in die Augen. "Ich weiß, dass es kaum etwas gibt, um diesem Schmerz entgegen zu wirken. Egal wie lange der Tod von derjenigen Person her ist, es ist immer schwer damit umzugehen. Es tut mir wirklich sehr Leid, was Euch passiert ist!"

Ihre sanfte Berührung an Lawrence' Arm war warm und zärtlich wie die Strahlen, welche die schwindende Sonne zunehmend verwehrte. Er war kein Mann, der Mitgefühl erwartete oder auch nur zu erhoffen wagte. Umso mehr bewegte es ihn, eine solche Geste von dieser jungen Frau, die er ja kaum kannte, die ihn kaum kannte, zu erfahren.
Er wusste nur nicht so recht, wie er darauf reagieren sollte. Einen merkwürdigen Moment lang zog er sogar in Erwägung, Fräulein Yonara mehr von seinem Innenleben zu offenbaren. Seine Schuldgefühle, die Tatsache, dass er sich selbst in der Verantwortung für Linneas Tod sah. Das Wissen darum, dass sie gestorben war, weil sie sein Kind in sich getragen hatte. Dass er seine Pflicht als Soldat über seine Pflicht als Ehemann gestellt und sie allein gelassen hatte.
Aber diesem Selbsthass, diesen Empfindungen, die sich seit Jahren durch die Windungen seines Gehirns und durch sein grausames immerfort weiterschlagendes Herz fraßen, wollte Lawrence das Mädchen nicht aussetzen.
"Danke", antwortete er also schlicht. Etwas unbehaglich schweigend starrte er dann wieder in die Ferne, murmelte dabei:
"Ich bereue, damals nicht bei ihr gewesen zu sein."

Keya lächelte. Diesen Ansatz kannte sie nur zu gut. Sie konnte sich zwar kaum an ihre Eltern erinnern, wusste aber dass es ungemein schön gewesen war, ihre ersten drei Jahre bei ihnen zu verbringen.
Sie hätte niemals auf diese halb verblassten Erinnerungen verzichten wollen die sie mit ihnen teilte. Die sich manchmal in ihre Gedanken oder Träume schlichen, oder auftauchten wenn es ihr nicht gut ging und ihre Welt daraufhin wieder etwas erhellten.
Noch einmal strich sie sanft über Mercers Arm, dann ließ sie von ihm ab und sagte: "Ich denke, dass das genau das ist worauf sie sich konzentrieren sollten. Ihr werdet sie nicht vergessen können, wenn sie ein Teil Eures Lebens war. Und das müsst ihr ja auch nicht. Die Zeit dir Ihr mit ihr hattet muss nicht in Vergessenheit geraten."
Sie versuchte aufmunternd zu lächeln, war sich aber nicht sicher, ob das was sie gesagt hatte ihm wirklich weiterhalf.
Die Elfe hätte Mercer nur zu gern den Schmerz genommen, denn sie wusste nur zu gut, wie nah dieser auch nach Jahren noch sein konnte.
Aber sie wusste ganz genau, wie wenig sie in dieser Situation wirklich helfen konnte.

"Ich werde sie nicht vergessen."
Nun lächelte Lawrence wieder ungekünstelt. Wenngleich nicht wirklich froh, sondern mit einem Hauch von Traurigkeit.
"Das könnte ich nicht und würde es auch nicht wollen."
Ein letztes Mal schaute er den Hügel in der Ferne an, wurde sich erst jetzt darüber bewusst, dass das rote Licht des Sonnenuntergangs schon dem fahlen des Mondes wich. Und das weckte ihn endgültig aus seiner melancholischen Trance.
"Wir sollten zurück ins Dorf gehen", sagte er an Keya gewandt. "Es ist schon beinahe Nacht."
Er hielt inne, rechnete etwas im Kopf nach, fluchte stumm und bemerkte dann langsam:
"Aber ich glaube nicht, dass wir es zurück nach Brightgale schaffen, bevor die Tore schließen."

Als er sie darauf hinwies, dass es bereits Nach war, traute sie ihren Augen nicht. Sie blickte sich um und bemerkte erst jetzt die Dunkelheit, die die beiden bereits umgab.
"Oh je...", murmelte sie schließlich. "Ihr habt Recht. Aber wo werden wir dann schlafen?"
Sie blickte zurück in den Wald, in dem es noch dunkler aussah als hier auf dieser Wiese. Jeder andere empfand dies vielleicht als besonders gruselig, auf sie dagegen wirkte der Wald bei Dunkelheit wie ein Schutzwall der um sie herum gezogen worden war.
Ob sie ihm anbieten sollte, zurück zu gehen und einfach im Wald zu übernachten? Nein, das ging nicht. Er würde sie wahrscheinlich doch wieder für verrückt erklären.
Sie wog alle Möglichkeiten ab, was würde ein ganz normaler zivilisierter Elf wohl vorschlagen?
In der Kutsche zu schlafen? Nein, das war auch nicht das Wahre. Man konnte jederzeit überfallen werden. Genauso blöd war wohl auch die Idee, bei jemandem zu klopfen und nach einer Unterkunft zu fragen. Niemand würde zwei Fremde mitten in der Nacht aufnehmen.
Da kam ihr eine Idee, die wohl auch normale Elfen vorgeschlagen hätten, die nicht einen Teil ihres Lebens im Wald verbracht hatten. Sie erinnerte sich an den ersten Abend mit Adastreia. Durch Zufall war sie an dem kleinen Gasthaus vorbeigekommen, in dem sie sie kennen gelernt hatte.
"Vielleicht sollten wir ein Wirtshaus in Eastbell suchen, in dem wir übernachten können." Ohne groß auf seine Antwort zu warten, stapfte sie Richtung Eastbeall.

Lawrence hatte gegen ihren Vorschlag wenig einzuwenden. Gar nichts eigentlich, denn schließlich stellte eine Übernachtung im Gasthaus nicht nur die anständigste, sondern wahrscheinlich auch bei weitem komfortabelste Lösung dar.
Also eilte er der jungen Elfe nach, die mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf das Dorf zuhielt.






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#5

RE: 09. Keyas Nacht in Eastbell

in Frühling 516 05.09.2015 21:20
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Angekommen in Eastbell stellte es sich für die beiden Besucher als ein Leichtes heraus, das Gasthaus zu finden, denn es war neben dem Restaurant, in welchem sich die katastrophale Begegnung mit Elesil Fredor ereignet hatte, das einzige, welches zu dieser späten Stunde - das Tageslicht war mittlerweile beinahe zur Gänze verschwunden - noch die Türe für Gäste geöffnet hatte.
Als Lawrence mit Fräulein Yonara eintrat, schlugen ihm gleich eine angenehme Wärme und der Duft von Bratkartoffeln entgegen. Letzteres erinnerte ihn daran, dass er seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte und sein Magen bemühte sich durch ein leises Grummeln darum, dass er es nicht wieder vergaß.
Doch wie es schien, würde er nicht mehr lange auf ein Abendessen warten müssen, denn kaum dass sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, erschien auch schon wie aus dem Nichts ein junger Mann vor ihnen, welcher jenes freundliche Lächeln trug, welches all jenen zu eigen war, die gerade eine gewinnbringende Gelegenheit erschnupperten.
"Was kann ich für Euch tun, werte Herrschaften?"
"Wir brauchen ein Abendessen", erwiderte Lawrence schmucklos, "und eine Bleibe für die Nacht."
"Ah, da habt Ihr aber Glück, mein Herr. Genau ein Zimmer ist noch frei, mit einem großen Doppelbett für Eure Frau und Euch."

Keya schluckte hörbar. Eure Frau, hatte er gesagt?
Was sollte man bloß darauf erwidern?
Noch nie hatte sie sich ein Bett mit jemandem geteilt.
Sie atmete tief ein. Wie würde eine zivilisierte höfliche Elfe reagieren, wenn jemand ihr so etwas sagte?
Starr heftete sie ihren Blick auf den Mann, der ihnen gerade ein Zimmer angeboten hatte.
Vielleicht wirkte sie in diesem Moment auch etwas zu versteift?
Sie ließ den angehaltenen Atmen leise durch ihren Mund ausweichen und setzte dann, nach gefühlten Minuten endlich zu einer Antwort an.
"Wi sinn nic vahairate", nuschelte sie leise. An dem Blick der beiden Männer um sie herum, bemerkte sie, dass sie beide nicht verstanden hatten. Verdammt! War es denn so schwer, nach so langer Zeit normal zu wirken?
Sie räusperte sich und setzte erneut an. "Entschuldigt. Wir sind nicht verheiratet, wollte ich natürlich sagen. Habt Ihr nicht auch getrennte Zimmer?"

"Es tut mir sehr leid, die Dame, aber alle anderen Zimmer sind bereits belegt. Es sind viele Gäste angereist, um übermorgen das Blütenfest zu erleben ..."
Es ärgerte Lawrence ein wenig, dass der Mann solch voreilige Schlüsse gezogen hatte, denn eindeutig fühlte sich seine junge Begleiterin damit unwohl. Also erwiderte er schnell, ehe es zu weiteren Verlegenheiten kommen konnte:
"Dann dieses Zimmer und zwei Mahlzeiten bitte. Ich habe anderswo noch eine Schlafmöglichkeit."
Und während der der Gasthofbesitzer sich noch einmal entschuldigte, die beiden aber dann gleich für die gute Wahl beglückwünschte, während er sie in den Speiseraum führte, erklärte Lawrence leise:
"Ich werde in der Kutsche schlafen. Dann könnt Ihr eine ruhige Nacht dort oben verbringen."

Keya schüttelte sofort den Kopf und sagte, "Nein, das kommt nicht in Frage! Ihr könnt doch nicht draußen in der Kälte schlafen!"
Sie hielt ihn am Arm fest und schaute ihm dann in die Augen.
Die junge Elfe wusste, wie kalt so eine Nacht außerhalb eines Schlafgemachs werden konnte. Sie hatte einige Nächte in Höhlen verbracht. Auch als der Schnee kalt und starr Bäume und Büsche bedeckte.
Und sie wusste ebenfalls, so warm Tage im Frühling auch sein mochten, in der Nacht die darauf folgte, kühlte die Temperatur stark ab.
"Wir könnten fragen, ob sie ein Klappbett reinstellen. Oder einen Ohrensessel. Ich hab schon oft in Ohrensesseln geschlafen."

"Heute Nacht musst du nicht in einem Ohrensessel schlafen", antwortete Lawrence ebenfalls kopfschüttelnd und bemerkte gar nicht, wie er ins "Du" verfiel. "Aber ich werde nachfragen, ob sich irgendetwas finden lässt."
Sie waren mittlerweile im Speisezimmer angelangt, das vor Gästen nur so überquellen schien. Einige von ihnen starrten sie schon an, was ihn in dieser Situation durchaus Unbehagen fühlen ließ, also fügte er schnell hinzu:
"Aber… lass uns erst etwas essen."
Sie wurden an einen der wenigen noch freien Tische geführt, der in einer Nische im hinten Teil des Raumes befand und Lawrence war erleichtert, sich setzen und den Blicken der Menschen entgehen zu können. Er war nicht schüchtern, hatte keine Angst davor, angesehen zu werden, aber der Gedanke, noch mehr Leute könnten ihn fälschlicherweise für Fräulein Yonaras Ehemann halten, gefiel ihm nicht.

Keya ließ sich etwas perplex auf den Stuhl gegenüber von Mercer fallen.
Irgendetwas schien ihm nicht geheuer zu sein, sie kam bloß nicht darauf, was es sein mochte. Jedoch wirkte er glatt etwas nervös.
Gedankenverloren durchblätterte Keya die Karte des kleinen Restaurants.
Nach dem Treffen mit Elesil war ihr jegliches Gefühl von Hunger, so wie der Appetit vergangen.
Sie sah zu Mercer, der sich etwas beruhigt zu haben schien.
Als der Kellner an ihren Tisch trat, bestellte sich Keya noch immer etwas gedankenverloren eine einfache Suppe.
Sie wusste, dass es schwer sein würde, selbst diese Suppe herunterzubekommen.
Als sie auf die Bestellung wartete, musste Keya an Adastreia denken. Wie sie wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass Elesil behauptete sie sei verrückt und habe ihre eigene Familie getötet.
Ob sie wohl genauso reagieren würde wie Mercer? Ob dieser wohl auch so reagiert hätte, wenn er wüsste, dass sie aus Angst elf Jahre lang im Wald gelebt hatte?
Sie seufzte leise und stützte dann den Kopf auf ihrer Hand ab.
"Ich habe wirklich Angst nach Brightgale zurückzukehren...", gestand sie Mercer schließlich leise.

"Wirklich?", fragte Lawrence sanft, nachdem der Kellner mit zwei Bestellungen in Richtung Küche verschwunden war. "Warum? Hast du Angst, jemand dort könnte dich beschuldigen?"
Er bezweifelte, dass irgendjemand das tun würde, auch wenn er es nicht völlig ausschloss. Es gab immer Exemplare der menschlichen Spezies, die sich nicht zu schade waren, die Münder zu zerreißen und mit den Fingern auf vermeintliche Schurken zu zeigen ... selbst wenn diese zum Zeitpunkt des Verbrechens noch Kinder gewesen waren.
Trotzdem war er überzeugt, dass die Mehrzahl in der Lage war, ihren gesunden Menschenverstand zu gebrauchen.

Es dauerte nicht lange, bis die Bestellungen eintrafen und Keya gedankenverloren in der Suppe herumrührte.
Sie war sich nicht sicher, ob Mercer ihrem Gedankengang folgen konnte.
Dann blickte sie in sein Gesicht, legte den Löffel aus der Hand und spürte wie Tränen in ihren Augen glitzerten.
"Ich hab immer noch Angst, dass man Elesil mehr glaubt als mir. Diese Dinge die sie von Theodmon eingetrichtert bekommen hat, sind so schwere Vorwürfe. Man wird mich verbannen oder weg stoßen, wenn man es erfährt."
Keya schluckte hörbar. "Und das Schlimmste ist...er wird es sicher nicht nur Elesil erzählt haben", ihre Stimme brach nach den letzten Worten einfach weg.

Beschwichtigend legte Lawrence eine Hand auf ihre.
"Fräulein Yonara ... Keya", sagte er leise. "Ich bezweifle, dass irgendjemand mit gesundem Menschenverstand es glauben wird.
Ich glaube es nicht.
Deine Freundin glaubt es mit Sicherheit auch nicht.
Jeder, der diesen Lügen Glauben schenkt, muss darüber hinwegsehen, dass du damals ein Kind warst ... und deine Persönlichkeit völlig missachten."
Ihm kamen die Worte unbeholfen und plump vor, doch es waren die einzigen, die ihm in den Sinn kamen. Die einzigen, die der jungen Frau möglicherweise Trost spenden würden.

Keya zuckte leicht zusammen. Sie war überrascht wie wohlig es sich an fühlte von Mercer berührt zu werden. Sie spürte wie ihre Wangen sich leicht rot färbten. Wie das Blut etwas in ihnen brannte. Unbeholfen lächelte sie Mercer an.
"Möglicherweise habt Ihr Recht", entgegnete sie und klang dabei etwas zuversichtlicher. Es tat gut von Mercer getröstet zu werden. Dann fügte sie leise hinzu, "Ich werde versuchen der Rückkehr nach Brightgale etwas positiver gegenüber zu stehen. Es tut gut zu wissen, dass ihr mir glaubt!"
Wieder lächelte sie ein wahres ernstgemeintes Lächeln und hoffte heimlich, dass Mercer seine Hand nicht von ihrer weg ziehen und somit die Wärme die zwischen den beiden entstanden war, verschwinden lassen würde.

Nur kurz drückte Lawrence ihre Hand, sanft, beinahe zärtlich, ehe er sie wieder zurückzog.
"Ich bin sicher, dass die Dinge sich finden werden.
Und wenn ich dir dabei helfen kann, sag es mir."
Mit einem Blick auf ihre noch kaum angetasteten Teller fügte er hinzu:
"Aber lass uns erst essen, bevor es kalt wird."






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#6

RE: 09. Keyas Nacht in Eastbell

in Frühling 516 05.09.2015 21:20
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Wenige Zeit später standen sie schweigend in dem gemieteten Schlafzimmer, vor einem breiten Doppelbett.
Er bedaure, hatte der Besitzer des Gasthauses hatte gesagt, aber es sei nicht möglich, ein weiteres Möbelstück in den Raum zu bewegen.
Also stand Lawrence nun vor einem Dilemma, denn Keya schien partout nicht zulassen zu wollen, dass er draußen in der Kutsche schlief. Schlecht konnte er sich aber auch zu ihr ins Bett legen, schließlich war er ein Mann und sie eine Dame von Anstand.
"Ich werde auf dem Boden schlafen", seufzte der Wachmann, lächelte gezwungen und griff sich eine der zwei Decken.

Keya schüttelte leicht den Kopf. Sie war sich nicht sicher, ob es sich ziemte diesen Vorschlag zu machen, geschweige denn daran zu denken, aber das war ihr relativ egal. Was hatte Keya noch groß zu verlieren? Wenn herauskam was Elesil behauptete, würde sie sowieso einen schlechten Ruf haben. Abgesehen davon, mochte sie Mercer. Sie fand es nicht gut, wenn er unter der schlechten Organisation des Hotels leiden musste.
Sie räusperte sich leise und sagte dann: "Wenn es euch zu kalt wird..." und das wird es bestimmt, fügte sie in Gedanken hinzu, "möchte ich nur, dass Ihr wisst... ich habe kein Problem damit, wenn Ihr euch zu mir ins Bett begebt". Direkt nach den Worten, bereute sie sie gesagt zu haben. Es war zwar nichts als die Wahrheit, aber sie hatte Angst davor, dass Mercer dies als nicht richtig ansah. Sie huschte ins Bett und zog sich die Decke über die Beine, während sie nervös Mercers Antwort erwartete.

Lawrence hüllte die Decke um seinen Körper und ließ sich in einer Ecke nieder, lehnte sich an die Wand. Es war nicht die komfortabelste Schlafposition, aber auch bei weitem nicht die schlimmste. Jahre als Soldat und Söldner hatten ihn wenig wählerisch gemacht - er konnte in nahezu jeder Umgebung einigermaßen erholsamen Schlaf finden.
"Danke, das ist sehr liebenswürdig von dir", antwortete er sanft und schloss die Augen. "Ich werde es mir überlegen."
In Wahrheit hatte er nicht vor, sich zu ihr zu legen. Das wäre einfach ... falsch. Und es würde ihm somit sicher mehr Schlaf rauben, als eine Nacht auf harten Holzdielen. Er kannte eine Menge anderer Männer - und auch Frauen, wie Shanae - die diese Vorstellung mit Augenrollen quittiert hätten, aber er konnte nicht anders, als daran festzuhalten.
Er hatte zu viel gesehen, zu viel erlebt - zwischen bittersüßen Erinnerungen und Pflichten, mit deren Erfüllung er oft genug seine eigene Moral verletzte, war Lawrence’ Ehrgefühl etwas Gutes, etwas Reines, das er sich aufrecht erhalten wollte. Es war eine Empfindung, ein Ideal, geboren aus den Scherben des Traumes, welchen er vor vielen Jahren gemeinsam mit Linnea gesponnen hatte, den so viele, unzählige Menschen geteilt hatten, noch immer teilten.
Der Traum von einer besseren Welt.
Trotzdem lächelte Lawrence, als er sanft hinzufügte:
"Gute Nacht."
Keyas Einladung mochte er nicht angenommen haben, doch die Geste allein wärmte ihn ein wenig.

"Gute Nacht", erwiderte Keya, während sie sich in die weichen Kissen kuschelte. Sie ließ die Augen zunächst geöffnet.
Wieso? Wartete sie darauf, dass Mercer sich zu ihr legte.
Sie lächelte leicht, während sie schließlich doch die Augen schloss. Sie wusste nicht was sie daran so reizte, ihn neben sich zu spüren. Reizte es sie überhaupt?
Während sie grübelte, fiel sie langsam aber sicher in einen entspannten, tiefen Schlaf.






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#7

RE: 09. Keyas Nacht in Eastbell

in Frühling 516 05.09.2015 21:21
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Als sie am nächsten Morgen erwachte, hatte Mercer sich nicht neben sie gelegt.
Sie setzte sich langsam auf. Gähnte leise und sah sich schließlich im Zimmer um. Mercer saß noch immer angelehnt an der Wand auf dem Boden. Einen Moment lang beobachtete Keya ihn. Starrte ihn einfach an und bemerkte das Lächeln auf ihrem Gesicht nicht, dass sich nach und nach herangeschlichen hatte.

Nach einem ausgiebigen Frühstück, bei dem Mercer und Keya ruhig geredet hatten, -mehr als ruhig und zurückhaltend mit Mercer zu reden, traute sich Keya nicht- entschlossen die beiden nach Brightgale zurückzukehren. Und so saßen sie etwas später in der Kutsche.
Und während die Hufe der Pferde leise vor sich hin auf dem Asphalt klapperten, herrschte innerhalb der Kutsche Schweigen.
Keya grübelte noch immer darüber nach wie Adastreia reagieren würde, wenn sie von den falschen Behauptung erfuhr.
Sie starrte hinaus in die Landschaft, die langsam vorbeizog.
Würde sie ausrasten und Elesil glauben? Wahrscheinlich würde sie nicht wissen was sie glauben sollte.
Ob sie es vielleicht schon irgendwie erfahren hatte?
In diesem Moment fasste Keya einen Entschluss. Sie würde Adastreias Reaktion ganz genau beobachten und auf alles gefasst sein, was sie ihr an den Kopf werfen konnte.
Und so begann sie auf der gesamten Kutschfahrt zu überdenken, wie sie auf welche Reaktion eingehen konnte.

Nach einer Weile erreichten sie schließlich Keyas ehemaliges Zu Hause. Das Haus in dem sie aufgewachsen war. Sie öffnete die Kutschentür und trat hinaus. Herrlicher Sonnenschein wurde von einem wunderbaren blauen Himmel unterstrichen. Bienen summten leise durch die Gräser und die Vögel zwitscherten. Beschwingt von diesem wunderschönen Frühlingsmorgen, bewegte sich Keya auf den Eingang zu.

Adastreia hatte die ganze Nacht über kein Auge zugetan. Zunehmend unruhiger hatte sie auf Keyas Rückkehr gewartet, zunehmend unangenehmer war das Gefühl in ihrer Magengrube geworden, zunehmend schlimmer die Vorstellungen, was ihrer Freundin alles zugestoßen sein konnte, dass sie noch immer nicht heimgekehrt war.
Sorge hielt sie wach, Schuldgefühle, weil sie nicht mitgekommen und zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war.
Wie erleichtert war sie nun, da sie aus dem Fenster blickte und Keya erblickte, die auf das Haus zulief und anscheinend noch über alle Gliedmaßen verfügte.
Aber dass dieser Mercer noch bei ihr war und sie gerade zur Tür begleitete ... das konnte nur eines bedeuten. Zornig, mit orangeglühendem Kristall rauschte Adastreia die Treppe hinunter, bereitete schon eine Standpauke vor, die keiner der beiden jemals vergessen würde. Energisch riss sie die Türe auf, vor der schon die beiden Turteltäubchen standen und aus etwas überraschten Augen zu ihr aufschauten.
"Keya!", rief sie streng und ... und merkte, dass sie es nicht konnte. Sie war so ein unbedarftes Mädchen, so unschuldig, dass sie wahrscheinlich gar nicht wusste, worauf sie sich da eingelassen hatte, was es für Konsequenzen haben konnte.
Adastreias Stirnkristall nahm wieder einen Goldton an, etwas dunkler und matter als sonst, ihre Miene wurde sanfter und sie legte die Hände an Keyas Wangen, sagte leise und bekümmert:
"Du armes Kind.
Wie geht es dir?"
Den Soldaten taxierte sie mit einem giftigen Blick und zischte:
"Ihr werdet Verantwortung dafür übernehmen, so wahr ich hier stehe!"
Dann zog sie Keya mit sich ins Haus, schloss die Türe vor dem verwirrt aussehenden Mercer.

Erstarrt blickte Keya in Adastreias Augen. Sie wusste also nichts? Keya drückte sie fest an sich. So erleichtert war sie, ihre Freundin wieder an ihrer Seite zu wissen. "Mercer ist kein übler Kerl!", raunte sie Adastreia ins Ohr. Dann ließ sie von ihr ab und lächelte sie an.
Sie drehte sich in die Richtung von Mercer.
" Vielen Dank, dass Ihr mich begleitet habt!"






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