#1

Nächte im Käfig

in Kurzgeschichten 09.12.2014 14:30
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Es war die dritte Nacht, die der Engel alleine in seiner Zelle verbrachte.
In der ersten Nacht hatte er noch geschrien und gezappelt, war den schwarzen Gitterstäben so nahe gekommen, wie es möglich gewesen war, ehe sie seine Haut verbrannt hatten.
In der zweiten Nacht hatte er gefleht und gebettelt, nach seiner Mutter gerufen, bittere Tränen vergossen.
Nun saß er nur noch zusammengesunken da, das Gesicht in seinen Knien vergraben. Silbrige Locken hatten sich um die hellen Arme gelegt, die Flügel waren um seinen zarten, bloßen Leib geschlungen. Ketten hielten seine Gelenke, fesselten ihn in die hinterste Ecke seines Käfigs.
Stille beherrschte den Moment, die Schreie und das Klirren von Klingen, der Lärm von Kanonenkugeln von Draußen, all die Laute, welche am Tage nie zu verdrängen waren, waren nun verklungen. Dunkelheit hatte sich schwer und dicht über den Ort gelegt, die Schrecken des Tages zur Ruhe gebettet und ihre eigenen mit sich gebracht, welche sich lauernd unter ihrem Mantel verbargen.

Der Engel schaute nicht auf, als leise Stimmen die Stille durchbrachen.
Seine Peiniger waren wohl zurückgekehrt, doch er hatte nicht länger die Kraft und den Willen, sich ihnen zur Wehr zu setzen.
Stattdessen lauschte er ihren Worten, die er kannte, ohne ihre Bedeutung zu begreifen.
„… nicht so weiter machen! Er wird uns noch verrecken“, hörte er eine unruhige, hohe Stimme sagen.
„Unsinn. Seine Art ist von kräftigerer Natur, als es den Anschein hat.“
Schritte.
Schatten vor der Zelle des Engels.
Er rührte sich nicht, wartete einfach darauf, dass sie wieder von neuem beginnen würden.
„Wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln, nicht wahr?“, fuhr die zweite Stimme fort. Dunkel war sie, tief und ruhig. Er erkannte sie ebenso wenig wie die erste. „Aber eins kann ich dir sagen, das hier ist ein Krieger. Und er wird für uns kämpfen.“
Metall klirrte, der Engel hörte die die Tür quietschen, konnte ein leichtes Zittern dabei nicht unterdrücken. Doch ansonsten regte er sich nicht, glich einer willenlosen Puppe.
Vielleicht, so hoffte er, würden sie verschwinden, wenn er kein Zeichen von sich gäbe.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, warm und schwer.
„Wie geht es dir?“, fragte die dunkle Stimme.
Der Engel schwieg, gab kein Zeichen von sich, überhaupt etwas wahrzunehmen. Nur das leichte Beben durchlief weiter seinen Körper.
Erst als sich zwei Hände um sein Gesicht legten, es sanft anhoben, schlug er seine goldenen Augen auf und schaute in das Gesicht eines Menschen.
Er konnte Strähnen dunklen Haars sehen, die in ein helles Gesicht fielen, volle Lippen, deren Winkel entspannt waren, und mandelförmige Augen, schwärzer als die tiefste Nacht und undurchdringlicher als dichtester Nebel, die seinen Blick ruhig erwiderten.
„Wie geht es dir?“, fragte der Mensch erneut. Seine dunkle Stimme klang sanft und geduldig, wie die einer Person, die versuchte, ein verängstigtes Tier zu beruhigen. Oder aber wie die eines Raubtiers, welches seine Beute in Sicherheit wiegte.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte der Engel. Er wusste nicht, was der Mensch von ihm hören wollte, was er ihm antworten sollte. Sein Leib war geschunden, seine Flügel verwundet, sein Geist verwirrt und sein Herz in Aufruhr.
Warm streichelten die Finger seine Wangen, die Lippen vor ihm bewegten sich.
„Weißt du, wer du bist?“
Der Engel zögerte.
Er wusste es, es war eingraviert in seine Gedanken. Doch erinnern konnte er sich an nichts. Wenn er zurückdachte, war da nichts als dieser endlose Nebel, ein Schleier über seinem Geist, der jegliche Erinnerungen verhüllte, nur diese eine Gewissheit ließ.
„Ich bin ein Engel“, erwiderte er leise, aber ohne den geringsten Hauch von Zweifel. „Ein Kind der Lumina.“
Der Mensch lachte leise.
„Ja“, stimmte er zu. „Ja, das bist du.“
Die Hände legten sich um die Schultern des Engels.
„Aber sag mir: Weißt du auch, weshalb deine Mutter dich verstieß?“
Verletzt und verwirrt richteten sich die bernsteinfarbenen Engelsaugen auf den Menschen.
„Sie … sie hat mich nicht verstoßen …“
Doch seine Stimme klang nicht länger sicher.
„Und warum bist du dann hier?“, fragte der Mensch sanft. Noch immer liebkosten seine Hände die zarte, verletzliche Haut des lichten Wesens. „Wie fielst du vom Himmel, wenn deine Mutter dich nicht stieß? Warum holte sie dich nicht zurück, als du Schmerz und Demütigung erleiden musstest?“
Der Engel zuckte zusammen und stieß einen gequälten, erstickten Schrei aus, vergrub den Kopf wieder ganz in den Knien, bedeckte die Ohren, krallte die Hände in sein Haar.
Doch der Zweifel blieb.
Er hatte keine Gewissheit, keine Erinnerung an das Geschehene oder das nicht Geschehene. Er wusste nicht, ob er als Bote hier war oder als Verirrter oder als verstoßenes Kind. Er kannte seine Aufgabe nicht, seinen Sinn, seine Bestimmung.
Der Mensch blieb einen Moment lang still vor ihm sitzen. Dann aber wanderten seine Hände wieder an das Gesicht des Engels, hoben es sanft an und ihre Lippen trafen sich.
Und für einen kurzen Moment spürte der Engel wahre Wärme, pulsierendes Leben unter der Haut des Menschen.
Etwas erwachte in ihm.
Als der Mensch sich wieder löste, waren die Ketten des Engels gelöst.
„Ich werde nun gehen.
Ich werde dich nicht zwingen, an unserer Seite zu sein, wenn wir die Ketten der Götter zerschlagen.
Wenn Luminas Fesseln dir Halt geben, dann lass sie nicht los.“
Der Engel sah, wie die Gestalt sich langsam entfernte und zu der anderen gesellte. Die Tür seiner Zelle schlug keiner der beiden zu.
Nur einen Moment lang zauderte er.
Dann erhob er sich schwankend und folgte den Menschen.
„Wartet …“, hauchte er und sah, wie sie stehenblieben und sich umdrehten.
Er wollte auf sie zu rennen, doch er stolperte dabei, schlug mit den Knien hart auf den Boden, kroch jedoch unbeirrt weiter, angetrieben von seiner Verzweiflung.
„Nehmt mich mit. Bitte!“
Er bekam den Saum eines Gewandes zu fassen.
Der Mensch darin wich zurück, doch der Engel klammerte sich fest.
„Ich will nicht alleine hier bleiben …“
Es gab keinen Ort, an den er gehen konnte.
Die Wärme und das Licht seiner Mutter erreichten ihn hier nicht.
Nur dieser eine Moment, diese flüchtige Berührung hatten ihn etwas Besseres spüren lassen.
„Bitte, ich tue alles, was ihr verlangt …“
Der Engel zog sich an dem Menschen hoch, konnte sehen, wie weit dessen Augen aufgerissen waren, konnte den schnellen Herzschlag spüren.
Und dann küsste er seine Lippen, spürte Leben, das in ihn floss, sich in seinen Adern ausbreitete, ihn mit Wärme erfüllte.
Die schmerzerfüllten Schreie, das leise Röcheln und der wehrhafte, aber immer schwächer werdende Griff, nahm er kaum war. Erst als der Mensch leblos zu Boden fiel, ließ der Engel los.
Ein seliges Lächeln zierte seine Lippen.
Der andere Mensch, der in seiner Zelle gewesen war, der die dunkle und sanfte Stimme hatte, beobachtete ihn schweigend. Dann aber lachte er.
„Du hast die richtige Entscheidung getroffen.“
Er trat näher, schlang die Arme um den Engel und zog ihn mit sich, als er weiter davonschritt.

Nur kurz blieben die Augen an dem winzigen, blutroten Fleck hängen, der sich am Ansatz der blütenweißen Flügel gebildet hatte.
Und nur kurz lächelte er wissend und selbstzufrieden.






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