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Die Jahre 515 bis 520 »
Frühling 516 »
02: Machtlos
- Gewalt
- Hassverbrechen
- Hassverbrechen
Er hätte misstrauisch werden sollen. Es wäre besser gewesen. Er hätte besser, anders reagieren können. Dann wäre das alles nicht passiert.
Dann würde Lian sich nicht am Boden wieder finden, sein Körper würde nicht vor Schmerz vibrieren und sich winden.
Die Masse an Menschen, die heran getreten, ihm den Weg vom Markt zurück zur Akademie versperrt hätte, war doch auffällig gewesen.
Lian röchelte, die junge Frau war zierlich gewesen, doch ihre schweren Arbeitsstiefel und ihr Hass, Ekel, hatten den Tritt schmerzhaft fest werden lassen. Er krümmte sich, rollte sich eng zusammen und versuchte sich zu schützen, schrie auf, als die tobende, hämische Masse an Menschen, an Gesichtern von kaltem Metall begleitet wurde. Es waren nur fünf. Vier Männer und eine Frau, keiner von ihnen sonderlich reich, auch nicht arm. Aber zornig.
"Bitte... Nicht! ", Lian riss den arm hoch, schützte sein Gesicht vor der Klinge, sie rutschte am Knochen ab, hinterließ eiskalten Schmerz und rotes Blut.
"Hure!", schrien sie, ein höllisch, schriller Chorus, vor allem die Frau kreischte und gebärdete sich wie eine Furie. "Schneidet ihm seinen jämmerlichen Schwanz ab!"
Die Männer schienen der Idee nicht abgeneigt, sie packten den zierlichen Elfenmann, einer hielt mit Leichtigkeit die um sich schlagenden Arme fest, zwei andere die Beine.
Messer blitzten, funkelten grausam, man riss und zerriss die kostbaren Stoffe von Lian Kleidung, weiße Haarsträhnen und goldene knöpfe flogen, die Frau lachte wieder auf, kreischend wie eine Harpyie, packte ihr Messer und den langen Zopf, trennte ihn durch und legte ihn sich wie einen Schal um den Hals.
"Seht, seht, ich bin eine Hure!", ihre Begleiter lachten, während Lian sich nicht einmal mehr wagte zu rühren, bekam kaum Luft, schmeckte Blut und Salz auf der Zunge. Er wollte fort. Sterben.
Hilfe...
"Oh ja, das glaube ich."
Shanae hatte sich rasch aus den Schatten der Seitengasse gelöst und die Frau von hinten gepackt.
"Und mit deinem billigen Geltungsdrang brauchst du die hübschen Haare nicht, um dich wie eine aufzuführen."
Ein gezielter Tritt in die Kniekehlen und die Frau landete unter Schmerzensschreien auf dem Boden. Ihre Begleiter waren einen Moment lang starr vor Überraschung, dann aber kam Bewegung in sie.
Die Kerle, welche den Mann gehalten hatten, ließen ihn auf der Stelle los. Einer dieser beiden schloss sich den anderen beiden an, die sich Shanae in einer Weise näherten, die wohl bedrohlich wirken sollte, aus der sie aber auch Vorsicht lesen konnte. Der letzte drehte sich um und setzte zur Flucht an, doch mit Genugtuung konnte Shanae sehen, wie er geradewegs Lawrence in die Arme lief, welcher ihn rasch außer Gefecht gesetzt hatte.
Grinsend zog die Wachfrau ihr Schwert, Flammenherz, welches seinem Namen sogleich gerecht wurde und in hellem, magischem Feuer erstrahlte, die eindeutige Angst in den Gesichtern ihrer Widersacher beleuchtete.
"Falls noch jemand von euch etwas abgeschnitten haben möchte, bin ich gerne zu Diensten - und werde die Schnitte sofort ausbrennen, ohne eine Kupfermünze mehr zu verlangen."
Die anderen Wachen würden in wenigen Momenten da sein. Bis dahin galt es nur, diese Leute in Schach zu halten und einzuschüchtern. Etwas, was Shanae zugegebenermaßen genoss und bei derartigem Gesindel nicht bereute.
Als die Frau vor ihr unter lautem Stöhnen versuchte, sich aufzurichten, wurde sie mit einem Tritt zurück auf den Boden befördert und angeknurrt:
"Komm leiser ... 'Hure'!"
Das brachte Shanae einen etwas säuerlichen Blick von Lawrence ein, doch sie quittierte diesen mit einem koketten Lächeln.
Man sollte die schönen Seiten eines Berufs nutzen, solange es sie gab.
Ächzend rollte Lian sich auf die Seite, zog die Beine an. Er legte den Arm um seinen Oberkörper, hielt seine Kleidung an Ort und Stelle und versuchte zugleich seinen Schmerz zu lindern.
Misstrauisch beobachtete der Kristallelf die beiden Neuankömmlinge, spuckte dann Blut aus.
Es dauerte glücklicherweise nur wenige Augenblicke, bis auch einige der anderen Wachen eingetroffen waren und Lawrence nicht mehr befürchten musste, dass Shanae es zu weit trieb. Sie ließ sich nicht bändigen, nicht von ihm und nicht von Anderen, und obwohl sie sich Befehlen nie widersetzte, ging die ehemalige Söldnerin im Regelfall weitaus gröber vor, als es notwendig war. Verlässlich war sie, doch er sorgte sich darum, dass sie die Selbstkontrolle verlieren könnte.
Seufzend wandte der dunkelblonde Wachmann sich ab und widmete sich dem Opfer, einem zartgliedrigen Elfenmann, der zwar verletzt war, dessen Leben aber anscheinend nicht dadurch gefährdet wurde.
Langsam streckt Lawrence die Hand aus, bot stumm an, ihm aufzuhelfen.
Mit zusammen gekniffenen Augen starrte Lian die Hand des Mannes an, erhob sich dann ohne die Hilfe anzunehmen. Er bemühte sich, trotz allem seinen Stolz zu bewahren.
Als kurze, raue Haarspitzen seinen Hals kitzelte, er durch sie fuhr und nicht das erwartete Gewicht spürte, erstarrte der Kristallelf.
Der Schock, nur knapp einem grausamen Schicksal entkommen zu sein setzte abrupt ein, schlug ihm die Knie fort.
"Sie wollten mich töten... "
Lawrence gelang es, den Mann abzufangen, bevor er zu Boden fiel.
"Ja", erwiderte er ruhig und leise.
"Das wollten sie.
Aber wir haben sie und sie werden dafür bestraft werden."
Das war sicher keine große Hilfe, aber was sollte Lawrence schon sonst sagen?
Es gab nicht viele Mittel, um so eine Situation aufzuhellen.
"Möchtet Ihr nach Hause?
Oder zu einem Heiler?"
"Nach Hause. Zur Akademie", murmelte Lian leise schlang die Arme um sich. Er zitterte heftig. Nathaniel hatte Recht...
Lawrence nickte und gab Shanae ein Handzeichen, damit sie Bescheid wusste.
Dann führte er den Mann fort.
Er nahm nicht die Hauptstraße, um zur Akademie zu gelangen, denn er bezweifelte, dass die vielen, neugierigen Augen eine Wohltat sein würden. Wann immer trotzdem Menschen in der Nähe waren, schützte er den Mann vor ihren Blicken, was dank seines großen und kräftigen Körperbaus glücklicherweise keine Schwierigkeit darstellte.
"Warum wird das einfach zugelassen?", hauchte Lian, sah den Wachmann kalt an. "Ich bin nicht das erste Opfer. Zwei sind schon gestorben!"
"Ich weiß", erwiderte Lawrence ruhig. Die Anschuldigung traf ihn ein wenig, doch er wollte es sich nicht anmerken lassen.
Es beruhigte ihn außerdem, Zorn zu sehen, denn es war leichter, damit umzugehen als mit Apathie oder zermürbendem Kummer.
"Und wir suchen nach den Mördern."
"Anscheinend nicht mit dem passendem Pflichtbewusstsein", zischte Lian giftig zurück und trat hastig in einen Türeingang, verbarg seine zerrissene, blutige Kleidung als ein Paar vorbei schlenderte, lachend. Glücklich.
Lawrence platzierte sich so, dass die Vorbeigehenden keinen Blick auf den Mann erhaschen konnten.
"Wir sind nicht genug, um in jeder Gasse zur gleichen Zeit platziert zu sein."
Verächtlich schnaubte Lian und huschte dann weiter. Er zitterte, war es trotz Frühling doch recht kühl.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie die Akademie erreichten. Zwischendurch spielte Lawrence mit dem Gedanken, dem Mann seinen Mantel anzubieten, doch er war sicher, dass er es ablehnen würde. Und womöglich war Mitleid zeigen in diesem Moment auch keine Lösung. Also wanderte er schweigend weiter, bis sie schließlich das Wohngebäude der Akademie erreicht hatten.
"Kann ich noch etwas für Euch tun?"
Kalter Zorn brannte neben Furcht in den blauen Augen des Elfen, Furcht um jemanden.
"Findet endlich diese Mörder! ", fauchte Lian, ehe er dem Wachmann abrupt die Tür vor der Nase zu knallte, sein schief geschnittenes Haar kitzelte ungewohnt.
Rasch war der Kristallelf in sein Zimmer geflüchtet, hatte die Tür hinter sich donnernd zu geworfen und stützte sich dann schwer auf seinen Schreibtisch. Ihm wurde schwindelig, er blutete, hatte die Wunde an seinem Unterarm noch nicht behandelt. Und... Warum wurde ihm so...
Mit einem dumpfen laut war Lian ohnmächtig zusammen gesackt.
Seufzend trat Nathaniel aus dem Unterrichtsraum, die Unterlagen fest unter seinen Arm geklemmt.
Es war eine anstrengende Stunde gewesen, auch deshalb, weil immer wieder betont worden war, wie wichtig der Inhalt für die im Herbst anstehenden Prüfungen sein würde. Gegen Ende des Winters hatte Nathaniel vieles nicht mitbekommen, da er sich im Lazarett angesteckt und danach vier Wochen lang mit Fieber das Bett gehütet hatte. Danach hatte er sein Bestes gegeben, die Lücken zu füllen, doch er war damit noch immer nicht vollständig fertig und das machte ihm Sorgen.
Im Wohnungstrakt angekommen, entschied er sich dafür, in einen anderen Gang einzubiegen als den, in welchem sein eigenes Zimmer lag. So sehr es ihm auch widerstrebte, seinem Freund, Liebhaber, ehemaligen Geschäftspartner, Haustier oder wie auch immer Lian zu bezeichnen war, wenn es darum ging, in welcher Beziehung er zu ihm stand, eine Rolle in seiner Bildung zukommen zu lassen, so wusste Nathaniel auch, wie viel der Elfenprinz in seinem Leben gelernt hatte, wie viele Bücher er gelesen hatte, wie viel Wissen angehäuft. Wenn es jemanden gab, der ihm etwas erklären konnte oder erzählen, wo die wichtigen Informationen zu sammeln waren, dann war es Lian. Und Nathaniel müsste nicht einmal seine Hose herunterziehen oder Hände und Zunge spielen lassen, um diesen Gefallen zu erhalten. Nein, ein Lächeln und ein unschuldiger Kuss auf die Wange würden ausreichen, vermutlich sogar mehr als genug sein. Obwohl er auch das andere ohne zu zögern tun würde.
Bevor Nathaniel das Zimmer betrat, blickte er sich misstrauisch nach allen Seiten um, entdeckte jedoch niemanden. Dann schlüpfte er in Lians Zimmer, vergaß wie so oft, vorher anzuklopfen.
Ein katzenhaftes Lächeln auf den Lippen und in der Bereitschaft, ein paar zuckersüße Willkommensworte von sich zu geben, schaute er in das Zimmer - und erstarrte. Seine blaugrünen Augen weiteten sich, die Unterlagen, welche er so sorgfältig zusammengelegt und gehalten hatte, fielen ihm raschelnd aus den Händen und wild durcheinander verteilten sich die in feiner Handschrift doppelseitig beschriebenen Blätter zu Boden.
Doch das war Nathaniel in diesem Moment egal, er stürzte auf die halb auf dem Schreibtisch liegende Gestalt zu, stolperte dabei und fiel so hart auf seine Knie, dass er schmerzlich das Gesicht verzog.
Nein. Nein, nein, nein, nein, nein ... nicht Lian. Nicht ... bitte nicht Lian!
Panisch rappelte er sich auf, beugte sich über den Mann, fragte noch während er die Hände ausstreckte, um nach dem Puls zu suchen:
"Hörst du mich?
Lian!
Hörst du mich!?"
Seine Stimme klang selbst in den eigenen Ohren zu hoch, zu schrill. Die Angst war so groß, dass er sich nicht einmal darum sorgte, ob jemand ihn hören konnte.
Wie groß war also auch die Erleichterung, als Nathaniel feststellte, dass Lian noch lebte und trotz Schnittwunde und unschöner Blessuren nicht in Gefahr zu sein schien. Das nahm ihm nicht die Sorge, beantwortete auch nicht die Fragen, die sich ihm aufdrängten, doch es reichte ihm, um sich zu konzentrieren und damit zu beginnen, leise Heilzauber zu sprechen.
"Du hattest recht", Lian klang rau, müde. Er sah leicht nach oben, zu Nathaniels Gesicht, spürte dessen leichten Heilzauber leicht über seine Haut kribbeln. Er setzte sich langsam auf, griff aus Reflex nach seinem dicken, langen Zopf. Und fühlte nur leere Luft.
"Ich dachte nie, dass sie mich auf offener Straße oder am helllichten Tag angreifen würden."
"Schsch", machte Nathaniel sanft und legte seine Hand auf Lians. "Kein Wort darüber. Nicht jetzt."
Ich kann das noch nicht hören.
Ich muss mich noch zusammenreißen.
Es war ihm gelungen, die Blutung rasch zu stoppen, also griff Nathaniel nun nach seiner kleinen Arzttasche und legte einen Verband an. Dann hievte er Lian ins Bett, setzte sich schweigend neben ihm.
Lian schloss müde die Augen, lehnte sich leicht an Nathaniel. Den Kopf auf dessen Schulter gebettet, seufzte der Kristallelf leise.
"Diese Schlampe hat mir meinen Zopf abgeschnitten ", beschwerte er sich scherzhaft und lächelte halb. "Und was führt dich so früh hier her? Ich mein, ich freue mich.“
"Solange sie dir nichts Wichtiges abgeschnitten haben ..."
Nathaniels Nägel kräuselten sich bei der Vorstellung, was alles hätte geschehen können, was alles geschehen sein mochte. Doch er wagte noch nicht, danach zu fragen.
Langsam streckte er den Arm aus, legte ihn sanft um Lians Schulter. Dabei strich er in der Bewegung durch die in traurigen, unsauber und ungleichmäßig abgetrennten Spitzen endenden Reste seiner Haarpracht. Es würde Jahre dauern, bis die weißen Strähnen wieder ihre alte Form erreicht hätten und Nathaniel vermisste es jetzt schon, die Finger der Länge nach hindurch zu kämmen.
"Ich wollte einen Blick auf deine Bücher werfen.
Stattdessen musste ich wieder ohne Lohn arbeiten.
Ich hatte gehofft, das nach dem Lazarett nicht mehr zu erleben."
Der sanfte Tonfall und das leichte, ungleichmäßige Beben in seiner Stimme straften Nathaniels Worte Lügen.
Zu tief saß der Schreck noch, als dass er seine übliche Gleichmut zur Schau tragen konnte.
"Beinahe wäre es so gekommen. ", murmelte der Kristallelf leise und schloss die Augen. Er war sicher, konnte sich entspannen. Nichts war passiert. Nichts Schlimmes. Lian atmete zittrig aus, spürte wie ein Teil des Schocks endlich nachließ. "Zwei wachen sind eingeschritten."
Mit einer müden Handbewegung in Richtung der Bücherregale murmelte er noch.
"Lass dich nicht von einer Bücherlawine überrollen."
Nathaniels Magen schnürte sich zusammen, reflexartig zog er Lian enger an sich.
Diese kleinen Bastarde ...
"Das werde ich nicht. Keine Sorge."
Er lächelte schmal. "Bücher konnten mir noch nie etwas anhaben."
Und wo werden die Wachen beim nächsten Mal sein? Sie interessieren sich doch nicht im Mindesten für Männer wie ihn.
Sanft küsste er Lians Stirn, sein warmes Juwel, das in diesem Moment trüb und glanzlos war.
"Möchtest du solange ein bisschen schlafen?"
Es darf kein nächstes Mal geben.
Stumm nickte Lian, hatte unter dem sanften Kuss auf sein Juwel die Augen geschlossen. Nachdenklich spielte er mit einer von Nathaniels Haarsträhnen.
"Ich hatte Angst, sie könnten auf die Idee kommen, das Juwel aus meinem Kopf zu brechen."
Nathaniel legte einen Finger auf den goldenen Stein, fuhr sacht darüber.
"Was wäre dann geschehen?"
Er ahnte die Antwort auf diese Frage bereits und versuchte, mit plötzlich bitterem Geschmack auf der Zunge, das Bild auszublenden, welches sich ihm unweigerlich aufdrängte. Lian, wie er mit leblosen Augen und klaffender Stirnwunde in irgendeiner stinkenden Seitengasse lag, der zarte Körper gebrochen, bis jemand ihn finden würde.
"Man könnte mir bis ins Hirn sehen, während ich elendig verblute", murmelte Lian leise. Er hielt Nathaniels Hand in der eigenen fest. "Faszinierend. Und morbide."
"Nicht wirklich."
Sanft drückte Nathaniel Lians Hand.
"Ich habe schon genug Einblick in dein Hirn."
Er wusste nicht viel über Lians Vergangenheit, kannte sein genaues Alter nicht, wusste nicht, wie er die letzten Jahrzehnte, vielleicht sogar Jahrhunderte, verbracht hatte.
Doch er kannte ihn.
Gut sogar.
Besser als alle anderen Menschen, manchmal vielleicht sogar besser als sich selbst.
"Ja. Das hast du", Lian lächelte und küsste sacht den Handballen Nathaniels. Dann lächelte er wieder, ließ sich langsam auf der Matratze nieder. Er schloss die Augen und versuchte nicht an blitzende Messer zu denken, an harpyienhaftes Lachen.
"Schlaf gut", wisperte Nathaniel in das spitze Ohr und strich sanft durch das geschändete Haar. "Ich bin bei dir."
Zumindest, bis Lian im Reich der Träume war, würde er es bleiben.
"Danke", flüsterte der Elf leise, rollte sich zusammen. Sein Schlaf würde kein ruhiger und kein erholsamer werden. Stattdessen voller stummem Wimmern, Augenrollen und des hin und her Werfens werden.
Ein wenig bereute Nathaniel nun, dass er sich nie darum bemüht hatte, die Grundlagen der Schwarzen Magie zu erlernen. Selbst wenn es auf unnatürliche Weise geschehen würde, würde es ihn doch ungemein erleichtern, Lian ein wenig Ruhe, einen tiefen Schlaf und ungestörten Schlaf zu schenken, frei von Alpträumen und Nachtmahren. Eine mögliche Ergänzung wäre das immer noch, sobald er damit begonnen hatte, richtiger Arbeit nachzugehen.
Ruhig erhob der junge Mann sich und näherte sich Lians Bücherregal. Der Prinz hatte mit seiner Warnung, der Inhalt könnte ihn überrollen, nicht gescherzt. Die Bibliothek der Akademie mochte alles andere überschatten, doch es hatte Nathaniel schon immer beinahe verwundert, dass es überhaupt gelungen war, diese schiere Masse hier unterzubringen. Zudem übertraf die Qualität einiger Einbände, alles, was er jemals in einem Lehrraum, der Bücherei oder in den Häusern wohlhabender Herren vorgefunden hatte. Hochwertiges Leder, viel Vergoldung und auch Edelsteine ließen sich hier vorfinden.
Es blieb nur zu hoffen, dass der Inhalt hielt, was die Hülle versprach.
Seufzend griff Nathaniel nach einem Buch, welches ihm dem Titel nach am ehesten Antworten geben würde, ließ sich an Lians Schreibtisch nieder und begann, zu lesen.
Unter den verzierten, dicken Büchern, wahren Wälzern, ging das kleinere, schlichtere Heftchen beinahe unter. Gebunden in bläuliches Leder und einer metallenen Schnalle mit einer Vertiefung, wie von einem Stempel oder Schmuckstück.
Hätte Nathaniel das kleine Heft genommen, hätte den Armreif mit dem Edelstein in die Nähe des Metalls gehalten...dann wären die pergamentenen Seiten aufgesprungen, hätten sich geduldig umblättern lassen.
Ordentliche, beinahe schon stolze Buchstaben prangten manchmal schief, manchmal schräg auf den Seiten und zeigten die Forschungsergebnisse von Lian Tevelan.
Frustriert legte Nathaniel irgendwann das bereits dritte Buch beiseite, dessen Seiten nichts anderes taten, als in blumigen Worten von Dingen zu erzählen, welche er schon lange wusste und die eigentlich den Grundlagen angehörten, wenn sie nicht gerade in völlige Irrelevanz abschweiften. Nichts, was ihm dabei weiterhelfen würde, Erkenntnisse für die Prüfung zu erlangen und noch weniger, was ihn von den quälenden Gedanken über Lian und das, was ihm widerfahren war, ihm hätte widerfahren können, ablenkte. Wenn der Elfenmann wieder wach war, würde er sich beschweren, dass solcher Schund überhaupt den Weg in sein Bücherregal gefunden hatte.
Große Erwartungen hatte er also nicht, als er auf der unruhigen Suche nach etwas aufschlussreicheren an ein bestimmtes Heft stieß und auch die Tatsache, dass er somit versehentlich den Sicherheitsmechanismus deaktiviert hatte, entlockte ihm erst einmal nicht mehr als eine erhobene Braue und ein Stirnrunzeln.
Trotzdem griff er nach dem Papier.
Für einen Kristallelfen und vor allem für einen König war der Schreiber des Heftes sehr selbstzynisch, seine Worte triefen manchmal nur von Gift, während er von Dingen sprach, die wohl nur ein Heiler verstand.
Erst waren es nur leichtere Heilzauber gewesen, doch dann änderte sich der Ton des Autors, wurde verzweifelter.
Die Schwierigkeit der Zauber nahm immer mehr zu, höchste blaue Magie und dennoch schien das nicht genug zu sein. Der letzte Eintrag war abrupt abgebrochen, den angefangenen Satz ewig unvollendet.
Nachdenklich schaute Nathaniel von seiner Lektüre auf.
Lian Televan ... der Vater vielleicht oder Großvater seines Lians? Er würde ihn danach fragen, vermutlich konnte er ihm erklären, warum er seine Ergebnisse niedergeschrieben hatte, als versuchte er, etwas zu verhindern, was längst vom Schicksal bestimmt war.
Die Schrift war allerdings nicht nur aufgrund dieser giftigen Worte interessant, sondern auch wegen des Inhalts ... welcher Nathaniel dennoch nicht näher an die Antworten brachte, welche er suchte. Wahrscheinlich musste er darauf warten, dass Lian wieder erwachte, aber seine Konzentration war mittlerweile zu gering, als dass er hier weiterhin hätte lesen können. Und der schlafende, offenbar von schlimmen Alpträumen umnachtete und manchmal leise wimmernde Prinz half dabei nicht gerade. Sorge war kein guter Gefährte beim Lernen und diese anderen Gefühle, welches Nathaniel immer zu verdrängen versucht hatte, das schlechte Gewissen, Schuld, Scham waren es erst recht nicht.
Er würde sich nicht besser fühlen, wenn er ginge, doch zumindest hoffte er, einen klaren Gedanken fassen zu können. Besonnenheit war der Schlüssel. Also griff Nathaniel nach einem Blatt Papier und einem Federkiel, tauchte diesen in ein Tintenfässchen und schrieb in sauberer, kleiner Schrift eine Notiz:
Ich muss nachdenken.
Bleib, wo du bist.
Ich werde dir später Essen bringen.
Dann verließ er das Zimmer.
Die Erinnerungen, Alpträume waren nicht gütig. Sie fraßen mit scharfen Zähnen an Lians Geist, er erwachte stumm. Starr vor Schreck und klebrig. Fahrig tastete er über klamme Laken, fürchtete statt Angstschweiß Blut an den Händen kleben zu haben.
Auch in seinem eigenen Zimmer war Nathaniel nicht mit seiner Arbeit vorangekommen. Beim erneuten Durchlesen seiner Aufzeichnungen waren seine Gedanken immer wieder abgeschweift und der Aufsatz, den er innerhalb der nächsten drei Tage zu vervollständigen hatte, war nur um klägliche zwei Sätze gewachsen.
So hatte er also, als die Sonne untergegangen war, den Weg zu den Speisesälen eingeschlagen und zwei Portionen Weißbrot, gebratenes Schweinefleisch und Radieschen gekauft. Lians Gaumen vermutlich alles andere als angemessen, doch der Mann sollte sich nicht beklagen. Nathaniel musste schließlich auf seine eigene Börse achten und der Prinz sollte sich glücklich schätzen, von ihm versorgt zu werden.
Einige Umwege durch das Wohngebäude nahm der junge Mann in Kauf, damit niemand bemerken konnte, zu welchem Zimmer er wirklich auf dem Weg war. Allerdings schienen die meisten Einwohner momentan mit ihrem Abendessen beschäftigt zu sein und Lian wohnte in einem recht abgelegenen Winkel des Komplexes. Hier traf man selten jemanden an. Trotzdem schaute Nathaniel sich misstrauisch und ausgiebig um, sobald sein Ziel in Sichtweite kam, und huschte dann, das Tablett auf einer Hand balancierend durch die Zimmertüre.
Als die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, hatte Lian gerade die Kraft gefunden, aufzustehen, sich zu waschen. Nun stand er vor dem Spiegel, in eine leichte, weiße Robe gehüllt, die Finger in den traurigen Überresten seines ebenfalls weißen Haares vergraben. Er wollte verschwinden, mit der Wand verschmelzen, zu einem Geist werden. Wenn dann auch die lauernde Furcht wich.
Lian ließ den Kamm sinken, sah über die Schulter zurück zu Nathaniel und nickte ihm ruhig als Begrüßung zu.
"Du siehst schrecklich aus", bemerkte Nathaniel und stellte das Tablett auf den Schreibtisch.
Es wäre eine Lüge gewesen, etwas anderes zu behaupten, und er wusste, dass seine trockene Ehrlichkeit Lian wahrscheinlich zumindest ein Lächeln entlocken würde.
"Ich habe Abendessen mitgebracht.
Ich hoffe, Hoheit weiß es zu würdigen."
Lian verdrehte die Augen und lachte heiser auf. Er wandte sich vom Spiegel ab, trat zu dem Schreibtisch.
"Es wird dich wundern, aber ich hab mehr als ein Jahrhundert unter gemeinem Volk verbracht."
Ein Anflug von schwachem Humor kratzte in seiner rauen Stimme mit.
"Bei dir wundert mich gar nichts", erwiderte Nathaniel und stieß ein kurzes Lachen aus. "Wirklich nichts."
Er schob Lians Teller näher in seine Richtung.
"Hast du noch Wein hier? Oder würdest du den an ein solches Mahl für Pöbel nicht verschwenden wollen und eher erwarten, dass ich Wasser herbeizaubere?"
Lian wandte sich ab, zog einen der Wandteppiche zur Seite und offenbarte ein Weinregal, dass zwar nicht vollgefüllt, aber dessen Bestand nicht schlecht war. Er tippte über die wachsverzierten Korken, suchte einen Bestimmten.
"Schweinefleisch und Radieschen?", der Kristallelf summte leise und zog dann eine Flasche aus dunkelrotem Glas aus dem Regal, ließ den Wandteppich zurück an seinen Platz fallen. "Bitte sehr."
"Danke."
Nathaniel lächelte.
"Ich glaube, dass du ihn auch brauchen kannst.
Nach dem Essen."
Um nicht zu fürsorglich und sanft zu klingen, fügte er noch hinzu:
"Wir wollen schließlich nicht, dass du sofort umfällst."
"Ich habe immer noch das Gefühl, dass meine Knie so sehr zittern, dass selbst ein Kind mich umhauen könnte", knurrte Lian leise, starrte sein Essen in Grund und Boden, als wäre es Schuld an allem.
"Ich kenne das Gefühl", antwortete Nathaniel.
Weiter holte er nicht aus.
So lange war es ihm gelungen, stark zu bleiben, so lange hatte er die unliebsamen Erinnerungen an seine eigene Schwäche und Hilflosigkeit beiseitegeschoben. Das letzte, was ihn nun weiterbringen würde, wäre ein Ausflug in die eigene Vergangenheit, sich all das wieder vor Augen zu führen, was er nur hatte vergessen wollen.
Damit wäre weder ihm geholfen, noch Lian.
"Und dich wird auch in Zukunft jedes Kind umhauen können, wenn du nichts isst."
"Falls es dir entgangen ist, mich kann auch so jedes Kind umhauen."
Lian griff nach seinem Teller und ließ sich an der Tischkante nieder, spießte das Fleisch auf, als wolle er es nochmal töten. Aber wenigstens aß er.
"Ich bin nicht gerade stabil gebaut."
"Das ist mir nicht entgangen, Prinzlein."
Im Schneidersitz ließ Nathaniel sich auf dem Boden nieder und machte sich über seine eigene Portion her.
Ich nicht, ob ich dich überhaupt jemals angesprochen hätte, wenn das nicht so wäre.
Es war diese Schwäche, diese Bedürftigkeit gewesen, die ihn angezogen hatte, wie Honig eine Wespe lockte. Daran laben hatte er sich wollen, sie gnadenlos ausnutzen, Lian auspressen, bis da nichts mehr gewesen wäre, das zu nehmen sich gelohnt hätte. Und dann hätte er ihn zurückgelassen, alleine und ausgelaugt, kraftlos und erfüllt von ungestilltem, unstillbaren Hunger.
Während er so versunken darüber nachdachte, verschluckte er sich an einem Stück Fleisch, rang nach Luft und griff hustend und würgend nach seinem Weinglas. Tränen standen bereits in seinen Augen, als es ihm endlich gelang, den unliebsamen Brocken richtig zu Schlucken und mit lieblichem Wein herunter zu spülen. Lian warf er dabei ein entschuldigendes, entwarnendes Lächeln zu.
Doch innerlich war mit den beiden Erkenntnissen beschäftigt, die er soeben erlangt hatte.
Die eine bestand darin, dass er sich für seine früheren Intentionen schämte. Er hatte schon oft Scham empfunden, ja sogar Ekel vor dem, was er getan, womit er sein Geld verdient hatte. Doch niemals hatte er seine Beweggründe, seine Vorgehensweise in Frage gestellt. Es waren die Anderen gewesen, die zu ihm gekommen waren, die sich ihren niedersten Trieben hingegeben, die ihr Menschsein für diese Zeit aufgegeben hatten - Nathaniel hatte das ausgenutzt, hatte immer gewusst, dass sie nichts anderes verdient hatten. Sie waren Objekte gewesen, wie er ein Objekt für sie gewesen war.
Und lange Zeit hatte er auch Lian auf diese Weise betrachtet. Nun konnte er es nicht mehr. Nun erfüllte ihn ein Gefühl von Schuld, wenn er sich nur daran erinnerte, dass es vor nicht allzu langer Zeit so gewesen war.
Die zweite Erkenntnis lag darin, dass Lian nicht schwach war. Sein Körper war zart und zerbrechlich, erinnerte beinahe an eine Puppe aus Porzellan, seine Magie hatte Nathaniel niemals anders als harmlos und sanft erlebt. Und doch saß dieser gefallene Elfenprinz nun hier, verzehrte sein Abendessen, trank Wein und verbarg den Zorn nicht, der unter der Oberfläche schwelte. Es war auf eine Weise beneidenswert, derer er sich wahrscheinlich nicht einmal bewusst war.
Nathaniel aber war sich im Klaren darüber, dass er selbst anders reagiert hätte. Er wusste nicht, ob er, würde er selbst jemals auf diese Weise zum Opfer gemacht werden, überleben würde. Es würde ihm alle Kraft rauben, vielleicht sogar den Willen, weiter zu leben. Er hatte bereits erlebt, wie es war, hilflos zu sein, einer anderen Person vollkommen ausgeliefert, und war es auch nur ein kurzer Moment gewesen, so hatte es gereicht, um ihn ins Wanken zu bringen, so sehr, dass der nächste Schlag ihn in den Abgrund gestoßen hatte, aus dem er nur knapp und weder aus eigenem Antrieb, noch aus eigener Kraft entkommen war.
Ihm fehlte diese innere Kraft, die Lian zu eigen sein musste, dass er an dem Erlebten nicht zerbrochen war. Die ihn stark machte.
Stärker als mich.
"Was hast du?", Lian leckte sich die Lippe und lächelte kurz, während dennoch Sorge in seinen Augen stand. Er stellte seinen halbleeren Teller ab und wollte sich zu Nathaniel begeben, ihm auf den Rücken klopfen. Als dieser sich dann jedoch wieder gefangen hatte, blieb er neben dem anderen auf den Boden sitzen. Der Kristallelf konnte nicht anders, er musste einfach lächeln. "Überlebt?"
Ein kleiner, sinnloser Scherz am Rande, er konnte nicht anders, Lians Lächeln wurde breiter, strahlender. Fröhlich und ausgeglichen.
"Nicht ersticken, das wäre schade..."
Nathaniel setzte das beste seiner unbeschwerten Lächeln auf.
"Nicht wahr?"
Du könntest ohne mich leben.
Du könntest es, Lian.
"Bist du satt?"
Er streckte die Hand aus, strich sacht durch das ungleichmäßig geschnittene Haar des Anderen, das traurig und unansehnlich herab fiel.
"Wenn du mir eine Schere oder ein Messer gibst, kann ich dir damit helfen.
Zumindest falls du keine Angst hast, dass ich dir etwas antue."
"Natürlich...", Lian wandte sich ab und kramte in einer Schublade, holte eine Schere raus und reichte sie Nathaniel, lächelte. "Ich habe keine Angst, dass du mir etwas antust."
"So viel Vertrauen in eine dahergelaufene Hure."
Lächelnd stellte Nathaniel den Stuhl zurecht und drückte Lian sanft in den Sitz, stellte sich mit der Schere hinter ihn.
"Dabei könnte ich dich einfach meucheln und dein Geld mit mir nehmen."
Vorsichtig kämmte er mit den Fingern durch das Haar, nahm nach einem kurzen Moment des Überlegens aber doch lieber einen Kamm zur Hand. Schließlich wollte er seine Arbeit ordentlich verrichten, wenn Lians schönes Haar schon wegmusste.
"Willst du wirklich nur mein Geld?"
Lian saß aufrecht auf dem Stuhl, hielt still, die Hände ruhig auf seinen Schoß gelegt. Er lächelte Nathaniels Spiegelbild im Fensterglas zu und beobachtete achtsam, was dieser mit seinem Haar anstellte. "Das hättest du dir schon lange nehmen können."
"Das stimmt."
Nathaniel legte den Kamm beiseite und griff nun nach der Schere.
Vorsichtig nahm er eine viel zu lange Haarsträhne zwischen Mittel- und Zeigefinger, trennte das Ende ab.
"Aber vielleicht habe ich meine Meinung ja geändert."
"Ich habe ziemlich lange geschlafen und du weißt wo alles gelagert ist", mit geschlossenen Augen versuchte Lian auszublenden, dass er gerade noch mehr von seinem geliebten Haar verlor. "Wenn wir nachsehen, wird nicht in Stück fehlen, wetten?"
"Da hast du wohl nicht Unrecht."
Ein paar weitere Haarfetzen fielen nacheinander zu Boden.
"Du hast wirklich Glück, an mich geraten zu sein, weißt du das?"
Nathaniel strich sanft über Lians Nacken, ehe er eine dort hervorstehende Strähne sauber abtrennte.
"Oder vielleicht auch nicht.
Wer weiß, ob das hier sonst geschehen wäre?"
"Ja. Ich habe wirklich großes Glück gehabt", bestätigte Lian sanft und griff nach hinten, drückte leicht Nathaniels Hand, ehe er ihn wieder werken ließ. "Danke."
Nathaniel seufzte.
"So nobel es auch von dir ist, mir nicht die Schuld für deine missliche Lage zu geben ..."
Ein schnippendes Geräusch zerteilte die Luft und einige weitere weiße Strähnen segelten abwärts.
"... so wenig ändert es daran, dass du in Schwierigkeiten steckst.
Und ich möchte nicht abwarten, was als nächstes passiert."
Lian verzog das Gesicht und sah zu seinen Händen hinab. Er krallte sie in den Stoff seiner Kleidung, bohrte halbmondförmige Löcher hinein um zu unterdrücken, wie hysterisch er sich eigentlich fühlte.
"Danke dass du mich daran auch erinnerst..."
Ein letztes Mal ließ Nathaniel die Schere zuschnappen, ehe er sie beiseitelegte und durch Lians streichelte, das nun auf eine gleichmäßige Länge gebracht war. Er hatte sich oft genug selbst die Haare geschnitten, um eine zumindest annehmbare Arbeit zu verrichten.
"Bitteschön."
Anstatt sich abzuwenden, beugte Nathaniel sich von hinten leicht über seinen Liebhaber und legte die Arme schützend um ihn, tastete nach seinen Händen, bot ihm stumm an, sich in diese zu krallen, wenn es ihm denn helfen würde.
Lian nahm seine Hände, hielt sich an Nathaniel fest und schloss die Augen, legte den Kopf zurück an dessen Brust. Er wollte nicht hoffen, wollte einfach nur noch Leben. Warum musste das so kommen?
"Es tut weh, nicht wahr?", fragte Nathaniel leise.
Sanft strich er mit den Daumen über Lians Hände, drückte ihn eng an sich, barg den Kopf unter seinem Kinn.
Er war niemals gut darin gewesen, jemandem Trost zu verschaffen, der über eine Nacht des Vergnügens hinausging und Nathaniel war sicher, dass dies das letzte war, womit Lian jetzt geholfen wäre.
Er war selbst nicht weniger hilflos.
"Danke", murmelte der Kristallelf leise und entspannte sich sacht. Er sog jedes bisschen Wärme, Nähe gierig auf. Sanft brummte er.
Nathaniel war vielleicht etwas ungeschickt, aber er machte es richtig. Nicht zu viel und nicht zu wenig.
"Du würdest dasselbe tun", erwiderte Nathaniel und vergrub die Nase in seinem Haar.
Er wusste nicht, wie lange er dort gestanden hatte und sich bemüht, Lian stumm Trost zu spenden, als er sich schließlich löste und sich auf das Bett setzte.
"Ich muss mit dir über etwas Wichtiges sprechen", sagte er langsam. "Und ich möchte dir dabei in die Augen schauen."
Lian horchte auf, drehte dann den Stuhl um und sah Nathaniel ruhig an, ein Bein über das andere geschlagen um zu verbergen wie gerne er jetzt geflüchtet wäre.
"Wie du willst."
"Keine Sorge", sagte Nathaniel beschwichtigend, denn er ahnte, wie unwohl Lian bei diesen Worten zu Mute sein musste. "Ich habe wirklich kein Geld genommen und ich plane nicht, dich zu ermorden.
Im Gegenteil ..."
Er schaute sein Gegenüber ernst an.
"... ich habe eine Idee, die dich schützen könnte.
Aber ..."
Er lächelte matt.
"... ich bin auch sicher, dass du sie nicht im Geringsten mögen wirst."
Jetzt hob Lian eine Augenbraue und verschränkte die Arme. Es fühlte sich komisch an, so ohne langen, seidigen Zopf. Was hatte Nathaniel denn jetzt ausgefressen?
Wieso sollte er diese Idee nicht mögen?
"Weißt du ... Gerüchte halten sich selten lange.
Sie lassen sich schnell nicht mehr ausschmücken, werden dann zu langweilig, um sie noch weiter aufrecht zu erhalten.
Am besten bekämpft man ein Gerücht, indem man es durch ein anderes ersetzt, eines, welches das andere scheinbar widerlegt."
Nathaniel merkte selbst, wie er um den heißen Brei herum sprach und ärgerte sich darüber, war es doch gar nicht seine Art. Aber wie sollte er es Lian begreiflich machen? Wie sollte er ihm schmackhaft machen, nach dieser Rettung zu greifen?
Seine Hände verkrampften sich leicht, er musste schlucken, doch er wandte sich nicht von Lian ab und als er zu sprechen begann, war seine Stimme ruhig und deutlich, abgeklärt wie eh und je:
"Ich möchte, dass du heiratest, Lian.
Am besten irgendein süßes Mädchen, das nicht deinem Stand entspricht, dem du nicht viel geben musst, damit es glücklich ist, und die nicht genug über einen Mann weiß, um zu wissen, was sie von ihm will.
Umwerbe sie, mach kein Geheimnis daraus, zeig der Welt, wie du ihr Blumen schenkst und sie ausführst.
Man wird es sehen.
Vielleicht wird man die alte Nachrede vergessen, vielleicht sie widerlegt sehen, vielleicht auch einfach nur enttäuscht sein, sie nicht weiter nähren zu können.
Aber man wird sich ein anderes Opfer suchen müssen."
Erst kroch eisige Kälte durch seinen Körper, dann jedoch, oh, wie konnte er nur... Wurde das Eis in Lians Blut, zu purem Feuer, heiß, klebrig und tödlich.
Er hatte nicht geantwortet, nur gestarrt wie vom Schlag getroffen. Schock vielleicht, er erstickte an Feuer und Eis, Kummer und Zorn.
Abrupt erhob der Kristallelf sich, wandte sich ab und starrte auf seinen Schreibtisch, schenkte sein Weinglas erneut ein, bis zum Rand voll. Das würde nicht genug sein. Egal wie betrunken er sein würde, letztendlich fühlte man das Messer im Rücken immer.
"Irgendein süßes Mädchen", zischte Lian dunkel. Er biss sich auf die Zunge. So fest, dass er Blut mit dem Wein schmeckte.
Soll ich vielleicht noch irgendeine kleine Hure von der Gosse holen?!
Nathaniel zuckte mit den Schultern, eine gleichgültige Geste, um zu überschatten, wie angespannt er eigentlich war.
"Oder ein hässliches, wenn dir das lieber ist."
Schlecht, ganz schlecht.
Er wusste nicht genau, welche Reaktion er eigentlich erwartet hatte. Begeisterung sicher nicht.
Doch diesen Zorn ebenfalls nicht.
Nathaniel zog das Knie an, stützte sein Kinn darauf ab und öffnete schon den Mund, um zu sagen:
"Ich sagte doch, du würdest es nicht mögen."
Doch er schloss den Mund, bevor das erste I seinen Lippen entweichen konnte.
Es klang zu sehr nach einer Entschuldigung und er konnte nun keinen Rückzug wagen.
"Es würde gegen die Ethik meines Volkes verstoßen", knurrte Lian leise. Er ballte die Fäuste und starrt aus dem Fenster. Worauf war er eigentlich so wütend? "Ich bin nicht streng religiös, aber aus der Sicht meines Volkes bin ich schon verheiratet. Und da ich die Leiche meiner Frau nicht gefunden habe, gibt es auch nichts, was dagegen spricht."
"Hah."
Nathaniel schüttelte ungläubig den Kopf.
"Wenn Moral dir so wichtig ist, wie passe ich dann überhaupt in dein Weltbild?"
Ihr Adligen seid solche Heuchler ...
Seine Augen bohrten sich in Lians Rücken.
"Oder passt es etwa zur 'Ethik deines Volkes', deinen Schwanz in alle möglichen Huren zu stecken und einem anderen Mann deine Liebe zu erklären?"
"Nein. Passt du nicht."
Lian verschränkte die Arme vor der Brust. Er war ein Heuchler. Das wusste er. Aber wirklich viel von seiner Frau hatte er sowieso nicht gehalten. Also hob er stolz den Kopf und drehte sich um, taxierte Nataniel aus dunkelblauen Augen, nachdenklich und starr.
"Gut. Dann heuchle ich eine Ehe. Denn das bin ich doch, oder? Ein Heuchler."
Nathaniel biss die Zähne zusammen, um eine scharfe Antwort davon abzuhalten, ausgesprochen zu werden.
Es ging ihm nicht darum, sich mit Lian zu streiten.
Dafür war er nicht hergekommen.
Dafür hatte er diesen Vorschlag nicht unterbreitet.
Es diente Lians Schutz und solange er darauf einging, war alles in Ordnung.
Selbst wenn es bedeutete, dafür von ihm gehasst zu werden.
"Also wirst du es tun?"
Lian nickte nur dumpf. Er würde es tun müssen. Natürlich. Sonst...
"Ja. Ja, verdammt."
"Gut."
Einen ganzen Augenblick lang starrte Nathaniel nur schweigend den Boden an.
Er blickte auch nicht zu Lian auf, als er fragte:
"Hasst du mich jetzt?"
Er könnte es verstehen.
Er wollte es nicht, aber verstehen könnte er es.
Schließlich habe ich dich erst dorthin gebracht.
"Nein."
Der Kristallelf seufzte schwer und fuhr sich übers Gesicht, dann jedoch sah Lian auf und schüttelte den Kopf. "Nein, ich hasse dich nicht. Letztendlich hast du nur ausgesprochen, was getan werden muss."
Nathaniel nickte, schaute Lian wieder an.
"Glaub mir, am liebsten würde ich diese Leute mit meinen Eispfeilen aufspießen", erzählte er heiser.
"Aber das würde es nur schlimmer machen und Andere aufscheuchen."
Wieder machte er eine lange Pause.
"Kann ich noch mehr Wein haben?"
Lian sah auf die Flasche herab und dann zu Nathaniel. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, ihm den Wein zu verwehren, ihn spüren zu lassen, wie tief der Messerstich reichte. Doch dann entkorkte er die Flasche, schenkte elegant Nathaniel nach.
Dankbar nahm Nathaniel das Glas entgegen und leerte es mit einem Zug bis zur Hälfte. Er hatte den Eindruck, dass er einiges mehr brauchen würde, um den Abend zu überstehen.
Lian konnte sagen, was er wollte, doch Nathaniel merkte deutlich, dass er ihn verstimmt hatte, wusste aber auch nicht, was er tun konnte, um ihn zu beschwichtigen. Und genau genommen, war es das gute Recht des Prinzen, wütend auf ihn zu sein. Wer den eigenen Liebhaber nach einem solchen Ereignis auf diese Weise bedrängte, ihm derartige Worte an den Kopf warf, hatte es wahrscheinlich nicht besser verdient.
Bereust du es, Lian?
Bereust du mich?
"Du kannst die ganze Flasche haben...nur...", Lian überlegte, rollte die Worte auf der Zunge. Wie sollte er es formulieren? Dass er Zeit allein brauchte, um nachzudenken? Ja.
"Ich muss nachdenken ... planen."
Erneut nickte Nathaniel, leerte das Glas daraufhin.
"Ich werde dich nicht stören.
Du weißt, wo du mich findest, wenn es dich nach mir verlangt."
Er nahm die Weinflasche mit sich, als er das Zimmer verließ, und wusste nicht, ob er sich freuen oder verzweifeln sollte.
zuletzt bearbeitet 04.06.2015 16:21 |
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