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04: Ankunft in Brightgale

in Frühling 516 10.02.2015 00:42
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Wie klein ihre Welt doch immer gewesen war, hatte Adastreia erst im Alter von hundertneunundachtzig Jahren bemerkt, als sie während einer kurzen Erfrischungspause aus der Kutsche gestiegen war und zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer erblickt hatte. Der große See von Feriath, der zuvor für sie immer die gewaltigste, beeindruckendste Ansammlung von Wasser gewesen war, die es nur geben konnte, schrumpfte zu einer unbedeutenden Pfütze, verglich man ihn mit dieser blaugrünen, im Licht der Sonne schimmernden Fläche, auf deren Oberfläche sich silbrige Wellen kräuselten.
Mehrere Minuten hatte Adastreia dort gestanden, am Wegesrand im Schatten eines blühenden Kirschbaumes, die sanfte, salzige Brise in Haar und Gesicht, und gestarrt. Bäuerlicher hätte sie sich nur verhalten können, hätte ihr Mund dabei offen gestanden, doch das war ihr erst bewusst geworden, als der Kutscher den Zauber gebrochen und höflich gefragt hatte, ob die Lady genug gerastet hatte. In diesem Moment hatte sie bemerkt, dass sie die Einzige gewesen war, welche sich derart von der Natur hatte fesseln lassen, die Einzige, welche das Meer noch nie erblickt hatte, die nie zuvor gewagt hatte, weiter zu blicken als der ihr bestimmte Platz es erlaubte. Und so hatte sie sich gefasst und nach Weiterfahrt verlangt, obwohl sie gerne noch ein wenig länger wie eine Bäuerin gestarrt hätte.
Das war nun mehrere Stunden her und neben dem Meer war auch die Stadt in greifbare Nähe gerückt. Brightgale, so hieß der weißgemauerte Ort, an dem sie ihren letzten, lebenden Blutsverwandter erhoffte.
Orome.
Ihr Feenprinz.
Ihr unwissender Bruder.
Aus dem Fenster blickend sah Adastreia, dass die Kutsche sich in eine Schlange anderer Gefährte eingereiht hatte, welche nun eins nach dem anderen von Wachleuten angehalten wurden. Mal schienen nur wenige Worte gewechselt zu werden, mal wurden die Wägen genauer durchsucht. In jedem Fall aber schien es noch ein Weilchen zu dauern, bis sie Zutritt zu dem heißersehnten Ort erlangen würden.
Ich habe Jahre gewartet.
Wenige Stunden mehr werden nicht schmerzen.

Mit einer zarten Geste schob die Elfe sich eine weiße Haarsträhne aus dem Gesicht, fuhr sich dabei kurz über das goldene Juwel in ihrer Stirn und wandte sich ihrer jungen Begleiterin zu.
"Wie fühlt es sich an, nach so langer Zeit heimzukehren, Keya?"
In ihren goldenen Augen stand Wärme, doch Adastreia war nicht sicher, ob sie die dahinterliegende Melancholie ganz verstecken konnte. Denn sie wusste, wie sich eine Heimkehr nach langer Zeit anfühlte - doch nur, wenn es die Heimkehr in eine tote Heimat war, in der nur Knochen und Trümmer warteten.
Eine verstümmelte Heimat ohne die Gesichter der Vergangenheit.
Ob wohl auch Keyas Gesichter allesamt verblichen waren?

Keya hatte während der Rast in der Kutsche gesessen und nicht hinausgehen wollen. Sie genoss den Luxus sich einfach absetzen zu können, ohne irgendwelche Gefahren zu fürchten.
Es war seit elf Jahren nicht mehr so gewesen. Elf lange Jahre hatte sie im Wald gelebt. Sie war froh, dass sie den Kutscher und auch Adastreia überhaupt verstand. Denn sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie die Sprache überhaupt noch beherrschte. Sie verstand sich darauf mit Tieren zu kommunizieren, jedoch hatte sie in all der Zeit nicht einmal mehr mit einem Elfen gesprochen.
Und wenig geschlafen hatte sie ebenfalls. Man konnte in der Wildnis ständig ein Opfer von einer anderen Kreatur werden. Sei es ein Bär, oder ein Wolf. Man war dort wenn man schlief nie wirklich sicher und so hatte sie in jeder Nacht nur sehr schlecht geschlafen. So geschah es, dass sie direkt zu Beginn der Rast wieder einschlief. So wie sie es auch fast auf der ganzen Fahrt getan hatte.
"Lady Yonara?". Bei den sanften Worten des netten Kutschers, erschrak sich Keya so sehr, dass sie aus der gemütlichen Position, in der sie sich im Schlaf befördert hatte, aufsprang und sich kauernd auf den Boden warf. Erschrocken betrachtete der Kutscher sie.
Keya erhob sich und nuschelte, "Entschuldigt bitte".
Sie spürte wie die Röte ihr in die Wangen schoss. Auch dieses Gefühl hatte sie lange nicht mehr gespürt. Vor Tieren musste einem schließlich nichts peinlich sein.
Der Kutscher nickte nur verwirrt und verschwand wieder.
Alles was Keya zurzeit wollte, war in der zivilisierten Welt nicht aufzufallen. Und genau das war gerade passiert.
Sie ließ sich seufzend auf die hölzerne Bank fallen und schaute aus dem Fenster.
Vor ihm lag das riesige Meer, das sich bis zum Horizont herauf erstreckte. Unter einem Kirschbaum am Wegesrand erblickte sie ihre Gefährtin Adastreia. Sie bewegte sich nicht, stand nur da und blickte auf das Meer hinaus, während ihr langes weißes Haar im Wind wehte. Dieser Bann schien erst gebrochen zu sein, als der wahrscheinlich immer noch verwirrte Kutscher sie ansprach.

Mehrere Stunden später, kurz nachdem Keya wieder eingeschlafen und unter normalen Umständen wieder zu sich gekommen war, befand sich die Stadt direkt vor ihnen. Sie erkannte es an der Umgebung, die sie aus dem Kutschenfenster erblickte.
In diesem Moment wendete sich Adastreia mit einer Frage an Keya, mit der sie nicht gerechnet hatte.
"Wie fühlt es sich an, nach so langer Zeit heimzukehren, Keya?", ihre goldenen Augen schauten sie in voller Wärme strahlend an. Doch es lag noch etwas anderes in ihnen, dass Keya nicht vollständig deuten konnte.
"Puuh...", zögerte Keya und war sich nicht ganz sicher, ob so zu reagieren zu den Manieren der Anderen passte.
Sie dachte an Theodmon. Er war der einzige Elf, den sie in ihrer gesamten Jugend gekannt hatte. Ein angewiderter Ausdruck schlich sich in ihre blauen, katzenhaften Augen. Dieser widerliche Kerl. Mit einer Lüge war sie aufgewachsen. Zusammen mit einem Mörder hatte sie unter einem Dach gelebt. Sie schüttelte den unangenehmen mit einer leichten Kopfbewegung ab und ein breites Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
"Ich freue mich darüber mein Kindheitshaus zu erben". Sie kicherte leise. "Es ist ein wirklich sehr schönes, großes Haus."
Dann lauschte sie einem Moment dem Geklapper der Pferdehufe auf dem Asphalt bis sie Adastreia lächelnd fragte, "Und meinst du, du weißt wo wir deinen Bruder suchen müssen?"

Adastreia lachte leise.
Manchmal erinnerte Keya sie an ein kleines, verirrtes Kätzchen.
"Ich freue mich, das Haus mit eigenen Augen zu sehen."
Die nächste Frage stimmte sie jedoch nachdenklich und auch ein sorgenvoll.
Kurz wandte sie den Blick ab und schaute nach draußen, wo die Reihe der Fahrzeuge vor ihnen schon deutlich geschrumpft war.
Irgendwie hatte sie gehofft, Orome schon hier vor den Toren zu sehen, so unwahrscheinlich das auch sein mochte.
Schließlich wusste sie nicht einmal, ob er wirklich noch lebte ...
Trotzdem lag ein mildes Lächeln auf Adastreias Lippen, als sie Keya wieder anschaute.
"Nein, ich weiß nicht, wo ich nach ihm suchen muss.
Aber ich werde mich herumfragen und wenn es sein muss, jeden Stein umdrehen."
Die Zeit dafür hatte sie und die Gewissheit brauchte sie.

Keya lächelte. Sie spürte, dass Adastreia eine kleine Aufmunterung brauchte. Sie legte die Hand auf ihre Schulter. "Wir finden ihn!", lachte sie breit. "Falls dir einer der Steine zu schwer ist, helfe ich dir ihn umzudrehen!"
In diesem Moment fuhr die Kutsche durch die Tore der Stadt Brightgale. Keya kannte die Stadt. Sofort lief ihr ein Schauer über den Rücken.
Sie schüttelte ihn ab, in dem sie erneut kaum merklich den Kopf schüttelte.
Sie versuchte sich wieder auf das Gespräch mit Adastreia zu konzentrieren. In Bruchteilen von Sekunden erlangte sie ihre unbeschwerte Laune wieder und sagte, "Weißt du schon wo genau du hier unterkommst?"

"Ich danke dir."
Interessiert beobachtete Adastreia die an ihr vorüberziehenden Gebäude.
Sie hatte davon gehört, dass es vor einigen Monaten zu einem heftigen Sturm und einer verheerenden Flutwelle gekommen war, doch entlang der Hauptstraße hatte sich die Zerstörung entweder in Grenzen gehalten oder aber der Wiederaufbau war schnell erfolgt.
"Auch das weiß ich noch nicht", erwiderte die Kristallelfe auf die Frage ruhig. "Ich denke, dass ich mir ein Gasthaus anschauen werde. Dort könnte ich mich auch nach meinem Bruder umhören."

Keya kämpfte mit ihren Gefühlen. Je weiter sie in die Stadt fuhren, desto mulmiger wurde ihr zu Mute.
Auf der anderen Seite jedoch, wollte sie nicht, dass jemand merkte, wie fehl am Platz sie sich fühlte. Alles hätte sie in diesem Moment dafür getan, wieder in die Natur zu kommen und sich eine kleine Höhle zu suchen. Allein sein, dem Rauschen des Windes lauschen und die Vögel zwitschern hören. War dieses kleine Abenteuer tatsächlich so wichtig? Nur wegen eines Vermögens von einem Mann, der sie jahrelang belogen hatte?
Sie besann sich darauf, dass Adastreia Hilfe brauchte. Vielleicht würde sie solange in Brightgale bleiben, bis diese ihren Bruder gefunden hatte. Dann würde sie heimlich verschwinden.
Während die Kutsche sich weiter durch die Stadt hindurchschlängelte, kam Keya wieder zu sich. Sie versuchte die Sehnsucht nach der Natur hinweg zu schieben und lächelte wieder in Adastreias Richtung. Sie war sich sicher, dass man ihr nicht ansehen konnte, wie traurig sie eigentlich war.
"Wenn du ein Dach über dem Kopf brauchst, kannst du zunächst auch in Theo...öhm ich meine in meinem Haus unterkommen."

"Das würde ich sehr gerne, wenn es dir keine Umstände bereitet."
Adastreia schaute das Mädchen freundlich an.
Doch dass die Atmosphäre in der Kutsche sich merklich geändert hatte, spürte sie dennoch.
Was Keya so bedrückte, wusste sie nicht, auch nicht, wie schlimm oder tiefgreifend es war. Doch sie spürte, dass ihr etwas zusetzte oder sie wenigstens nachdenklich machte.
Sie beschloss, nicht nachzuhaken. Nicht nur, weil sich so etwas nicht gehörte, sondern auch, weil sie nicht das Gemüt ihrer jungen Freundin trüben wollte.
Stattdessen schenkte Adastreia ihr ein sanftes Lächeln und griff nach ihrer Hand, drückte sie sanft.
"Es ist schwer, nach so langer Zeit zurückzukehren, nicht wahr?"

"Ach was!", grinste Keya. "Das tut es ganz sicher nicht."
Nach Adastreias zweiter Frage, wurde Keya merklich unruhig. Sie rutschte auf der Bank hin und her. Dann war sie sich sicher, dass sie nicht in Tränen ausbrechen würde.
Sie versuchte sich an einem Lächeln und es gelang ihr. Zumindest hoffte sie das.
"Ja", antwortete sie kurz und knapp. "Aber ich freue mich wirklich auf mein altes Haus. Es hat übrigens mehrere Schlafräume. Falls Theodmon es nicht umgebaut hat. Er ist der Mann bei dem ich aufgewachsen bin."
Sie lächelte noch immer, auch wenn die Erinnerung an Theodmon unweigerlich an ihr nagte.

Am liebsten hätte Adastreia ihre Freundin einfach in die Arme geschlossen.
So sehr Keya auch versuchen mochte, es zu verbergen, es war offensichtlich, dass etwas ihr zu schaffen machte.
"Das werden wir sicher gleich sehen."
Die Häuser, welche an ihnen vorüber zogen waren bereits merklich ansehnlicher geworden. Adastreia ging nicht davon aus, dass es noch lange dauern würde, bis das Ziel erreicht war.
"Ich freue mich schon darauf, endlich wieder in einem richtigen Bett zu schlafen.
Diese Reise war wirklich lang."
Aufmunternd zwinkerte sie Keya zu, kam aber nicht umhin, sich zu fragen, was diese junge Frau hinter sich hatte.
Als Adastreia ihr das erste Mal begegnet war, an jenem stürmischen und regnerischen Abend, als kein Kutscher mehr hatte fahren wollen, in einem kleinen Gasthaus am Wegesrand, da hatte sie nichts mit ihr anzufangen gewusst. Zerzaust hatte sie gewirkt, wild, wie ein Tier, das sich in eine Menschensiedlung verirrt hatte.
Doch das Unwetter dauerte mehrere Tage, während denen keine Weiterreise möglich war, andere Gäste hatte es kaum gegeben, und so waren die beiden Elfen schließlich ins Gespräch gekommen. Und es war ein gutes Gespräch gewesen.
Adastreia war überrascht gewesen, wie viel Freude in dieser jungen Frau steckte und hatte es schnell zu schätzen gelernt. Doch es war etwas anderes gewesen, das sie am Ende dazu geführt hatte, Keya in ihre Kutsche einzuladen, um die Reise gemeinsam zu beenden.
Anfangs hatte Adastreia es nicht bemerkt doch später, in flüchtigen, aber stets wiederkehrenden Momenten, hatte sie es bemerkt: die Fragilität, die verletzte Seele, welche hinter den blauen Augen hervorschimmerte. Und sobald ihr das bewusst geworden war, hatte sich ihre Einstellung zu Keya geändert, hatte sie begonnen, in ihr eine Frau zu sehen, die ihr selbst nicht unähnlich war, ein jüngeres Ich vielleicht oder wenigstens etwas, das sie hätte sein können.
Ob es ein Mann war, der ihr das angetan hat?
Dieser Theodmon vielleicht?

Ein bitterer Zug legte sich auf Adastreias Züge.
Es sind immer die Männer.
Und die Frauen, die zuschauen und keinen Finger rühren, zulassen, wie ihre eigenen Kinder verkauft werden…


Keya nickte nur langsam und rythmisch, während sie plötzlich beobachtete, wie die Züge Adastreias sich veränderten. Ganz deuten konnte sie dies jedoch nicht. Seit elf Jahren hatte sie kein Mienenspiel mehr analysiert. Das Einzige was sie analysieren konnte, war die Haltung eines Wolfes bevor er losstürmte um seine Beute umzubringen. Wenigstens tötete so ein Wolf aus einem verständlichen Nutzen heraus. Nämlich um zu überleben. Theodmon dagegen...
Wieder schüttelte sie den Gedanken ab. Sie beschloss nicht mehr an ihn zu denken.
Plötzlich hielt die Kutsche und als Keya den Blick hob, um aus dem Fenster zu schauen, erblickte sie das große, weißgemauerte Haus Theodmons.
"Da ist es", raunte sie bedächtig. "Adastreia... es hat sich absolut nicht verändert. Es sieht noch genauso aus, wie in meiner Kindheit und Jugend. Weißt du, ich war eine ganze Zeit lang weg. Elf Jahre lang um genau zu sein und dennoch hat es sich absolut nicht verändert."
Einen Moment lang zögerte sie. Dann grinste sie, denn sie spürte wie das Adrenalin durch ihren Körper schoss.
"Wettrennen zur Eingangstür?", kurz nachdem sie die Frage beendet hatte, öffnete der Kutscher höflich die Tür. Keya sprang einfach heraus, ohne ihm ins Gesicht zu schauen. Dieser Mann mochte sie ohnehin nicht. Sie lief so schnell sie konnte zur Eingangstür.

Adastreias Augen weiteten sich vor Überraschung, doch dann lachte sie erheitert und eilte hinter dem Mädchen her.
Das Wettrennen verlor sie dennoch deutlich, doch sie war weder verärgert darüber, noch überrascht.
Das letzte Wettrennen, an das sie sich bewusst erinnerte, musste sie in ihrer Kindheit abgehalten haben. Als die Erwachsenen nicht hingeschaut hatten, schließlich hatte man ihr eingebläut, dass körperliche Betätigung sich für eine Frau nicht geziemte, erst recht nicht, wenn sie von hohem Stand war. Und in Feriath, als Gattin eines Kriegsherrn, war es nicht besser geworden.
Den einen oder anderen Spaziergang hatte sie unternommen, doch die meiste Zeit hatte sie alleine mit ihrer Harfe oder mit Handarbeiten verbracht, wenn sie sich nicht gerade mit Künstlern ausgetauscht hatte. Keine unangenehmen Aktivitäten, aber sie waren immer von dem Warten überschattet worden.
Dem Warten darauf, dass ihr Gemahl von einem seiner vielen Feldzüge zurückkehrte oder sich zwischen all seinen Mätressen darauf besann, dass zu Hause noch die ihm angetraute Frau saß, die ihm noch keinen Erben geschenkt hatte.
Adastreia hatte sich schnell daran gewöhnt, dass ihm das zu den ungelegensten Zeiten wieder ins Gedächtnis springen würde und dass es ihre Aufgabe gewesen war, alles stehen und liegen zu lassen und seinen Wünschen Folge zu leisten. Was sonst hätte sie auch tun sollen? Sie, eine Prinzessin, deren Herkunft verleugnet, die in die Fremde verkauft worden war? Es hätte keinen Ort gegeben, an den sie hätte fliehen können. Obwohl sie sich im Nachhinein oft genug gewünscht hatte, nach Anastra zurückgekehrt und mit diesem Ort untergegangen zu sein ...
"Meine Güte, du forderst eine ältere Dame aber ganz schön heraus", keuchte Adastreia, als sie neben ihrer jungen Freundin zum Stehen kam und ihr hellgraues Gewand, welches sie kurz zuvor noch beim Laufen gerafft hatte, wieder frei fallen ließ. Ihre goldenen Augen schimmerten dabei in milder Verspieltheit.
Interessiert blickte sie sich um, an diesem Ort, an dem Keya ihre Kindheit verlebt hatte.
Das Haus war kleiner als jedes Gebäude, in dem Adastreia jemals über längere Zeit gewohnt hatte, doch immer noch größer, als die Gasthäuser, in welchen sie auf der Reise genächtigt hatte, und schien, was die Größenordnung betraf, dem Durchschnitt der umliegenden Gebäude anzugehören. Wie auch die Stadtmauer, war vorwiegend weißer Stein für die Fassade verwendet worden, wobei Saum, Fenster- und Türrahmen, sowie die Ecken von rotem Backstein geziert wurden. Die Ziegel, welche das Dach bedeckten, trugen die gleiche Farbe. Der Weg, welcher zur Eingangstür hinführte, teilte sich nach einigen Schritten genau in der Mitte, um Platz für einen kleinen Springbrunnen zu schaffen, aus dem fröhlich Wasser plätscherte, was dem Ort trotz all der Stadtgeräusche einen beruhigenden Klang gab.
Ein kleiner, von einer Hecke abgegrenzter Vorgarten säumte die Front des Gebäudes. Bis vor Kurzem musste er sorgfältig gepflegt worden sein, doch nun zeigten sich langsam Zeichen der Verwilderung: Aus der einst geradlinig gestutzten Hecke traten schon einige kleine Zweige und Blätter ungleichmäßig hervor, in den Blumenbeeten wucherten zwischen Klatschmohn, Maiglöckchen und Vergissmeinnicht auch verschiedene Unkrautpflanzen und das Gras war offensichtlich seit einiger Zeit nicht mehr gemäht worden. Zwischen den langen, sattgrünen Halmen leuchteten vereinzelt zartrosa Flecken auf, die gefallenen Blüten eines Kirschbaums, dessen Pracht allerdings noch längst nicht völlig verwelkt war.
Adastreia lächelte Keya ermunternd an.
"Hast du einen Schlüssel?"

Keya hörte kaum noch ein Geräusch. Nicht die Schritte ihrer Freundin, auch nicht ihre Stimme, nicht das plätschernde Wasser des Springbrunnens.
Alles was sie sehen konnte, barg diese bitteren Erinnerungen an Theodmon. Diese Erinnerungen, die sie am liebsten aus ihrem Körper reißen wollte.
3 Jahre alt war sie gewesen, als sie hier unter gekommen war. Wie oft hatte Theodmon hier mit ihr im Garten gespielt. Wie oft hatten sie Fangen und Nachlaufen gespielt, in dem Keya ununterbrochen um den Springbrunnen gelaufen war. Wie oft hatte sie sich heimlich vor ihm in einem Loch unter der Hecke versteckt.
Adastreias Frage riss Keya aus ihren Erinnerungen. "Einen Schlüssel? Oh verdammt. Darüber habe ich überhaupt nicht nachgedacht."

Nachdenklich und nicht ohne eine gewisse Besorgnis betrachtete Adastreia die junge Frau und legte ihr schließlich sanft eine Hand auf die Schulter.
"Dann werde ich sehen, was ich tun kann."
Sie lächelte Keya ermutigend zu und kehrte dann zur Kutsche zurück, sprach den Fahrer an:
"Wir möchten in das Haus."
"Sicher, Mylady. Gebt mir den Schlüssel und ich werde-"
"Willst du uns zum Narren halten? Wir haben keinen Schlüssel."
"Äh ... wie meinen?"
Adastreia stemmte die Hände in die Hüften und warf dem Kutscher einen missbilligenden Blick zu, woraufhin der sich nervös räusperte und sich rasch verbesserte:
"Wie meinen, Mylady?"
"Ich meine, dass wir keinen Schlüssel bei uns haben, aber in dieses Haus gelangen wollen!"
Der Mann fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut, trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, fuhr sich kurz durch das ergraute Haar.
"B-bei allem Respekt, a-aber ich kann Euch dabei nicht helfen, M-mylady. Das ... das wäre j-ja ein Einbruch ..."
Verärgert schüttelte die Weißhaarige den Kopf, ihre schmalen Brauen zogen sich noch enger zusammen und ihr goldener Stirnkristall nahm einen leichten Orangestich an.
"Wenn sie in ihr eigenes Haus eindringt, kann das wohl kaum als Einbruch gewertet werden!
Wie kannst du verantworten, einer jungen Dame derartige Unannehmlichkeiten zu bereiten, nachdem sie vom Tod ihres Ziehvaters erfahren und eine so lange und beschwerliche Reise auf sich genommen hat!?"
"N-nun, d-das t-tut mir s-sehr leid", stammelte der Kutscher. "I-ich kann Euch g-gerne zum Rathaus bringen, Mylady ... d-dort wird man Euch sicher h-helfen."
Er verbeugte sich eilig.
"U-und selbstverständlich müsst Ihr nicht für diese zusätzliche Fahrt aufkommen, Mylady!"
Adastreias Zorn kühlte so schnell wieder ab, wie er gekommen war.
"Es freut mich, das zu hören", antwortete sie und lächelte den Mann gnädig an.
Dann drehte sie sich herum und schritt wieder auf Keya zu, das feine Haar und der leichte Stoff ihres Gewandes wirbelten dabei hinter ihr her, weiß und grau, wie Wolken, die sich nicht entscheiden konnten, ob es regnen sollte oder ob es genügte, die Sonne zu verdecken.
"Beim Rathaus kann man uns anscheinend helfen, meine Liebe.
Er wird uns dorthin bringen."

Auf Keyas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Sie war sichtlich beeindruckt davon, wie Adastreia den Kutscher zurechtgewissen hatte. Sie hatte nicht viel Ahnung von Herrschern und Untertanen, aber wenn sie Adastreia in eine Kategorie hätte einordnen müssen, dann hätte sie sie eindeutig zu den Herrscherinnen sortiert.
"Das ist sehr gut! Dann lass uns wieder in die Kutsche steigen."
Als sie den kleinen Weg durch den Garten zurück zur Kutsche entlang schritten, war Keya etwas nachdenklich.
Sie hatte solange nicht mehr mit Menschen geredet. Würde man ihr tatsächlich einen Schlüssel aushändigen? Einer Frau die elf Jahre verschwunden gewesen war? Die bekannt dafür war ein Waisenkind zu sein? Die wahrscheinlich noch immer filziges Haar hatte, weil sie elf lange Jahre wie ein wildes Tier gelebt hatte?
Als die beiden Frauen wieder in der Kutsche Platz nahmen, beschlich Keya ein Gefühl der Sicherheit und sie wusste auch genau woher diese kam. Adastreia hatte sie ausgelöst.
Wenn sie Adastreia an ihrer Seite hatte, konnte sie doch nur den Schlüssel bekommen.
"Weißt du was?", Keya lächelte ihre Begleiterin breit an, während die Kutsche sich wieder in Bewegung setzte. "Ich bin wirklich froh, dich an meiner Seite zu haben. Auch wenn wir uns noch nicht solange kennen. Vielen Dank dafür, dass du den Kutscher nochmal überzeugt hast loszufahren."

Adastreia lächelte warm und war tatsächlich ein wenig gerührt, denn sie konnte sehen, dass Keya diese Worte ernst meinte.
"Dafür musst du dich doch nicht bedanken, Liebes", erwiderte sie und legte eine Hand auf den Unterarm der jungen Frau. "Ich würde deine Gesellschaft ebenfalls nicht missen wollen. Meine Reise wäre ohne dich sicher trostlos und langweilig gewesen."
Überstürzt hatte sie damals Feriath verlassen, sobald der letzte Atemzug ihres Gemahls geendet hatte. Schon als er im Sterbebett gelegen hatte, hatte sie sich dazu bereit gemacht, denn es war ihre letzte Chance gewesen. Es war Tradition in Feriath und den umliegenden Gebieten, dass die Gattin eines Kriegsherren oder eines anderen, hochrangiger Krieger, nach dessen Tod an einen entlegenen, heiligen Ort gebracht wurde, um dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Nach einem halben Leben, das an einen ungeliebten Mann verschwendet worden war, hatte sie nicht auch noch die verbleibende Zeit dafür im Tempel der Witwen verbringen wollen.
Doch sie hatte nicht alles mitnehmen können. In ihrer Zeit in Feriath war sie nicht nur Barbaren begegnet - sie hatte auch viele kultivierte, liebenswerte Menschen zurückgelassen.
Und erst, als sie begonnen hatte, sich mit Keya anzufreunden, war ihr bewusst geworden, wie sehr sie die Gesellschaft eines Freundes vermisst hatte.

Keya kicherte leise. Unwillkürlich musste sie an den Abend im Gasthaus denken, als die beiden Frauen sich kennen gelernt hatten.
Keya hatte sich nachdem sie das Gespräch der Spaziergänger gehört hatte, die über Theodmons Tod geredet hatten und darüber, dass er seiner Ziehtochter Keya Yonara alles vererbt hatte, auf den Weg zu ihrer alten Heimat gemacht. In ihrer Höhle hatte sie das letzte bisschen das sie noch an Münzen hatte zusammengekratzt. 250 kupferne Falken waren noch da. In den letzten 11 Jahren hatte sie ein- oder zweimal in einem Wirtshaus gespeist. Dies war aber schon Jahre her gewesen und so waren von den kupfernen Falken, die sie Theodmon ursprünglich entwendet hatte, noch fast alle da.
Sie hatte nicht mal darüber nachgedacht, als sie plötzlich einfach losrannte. Mit den letzten Überbleibseln ihrer Kleider, die sie noch am Leib trug. Diese bestanden zu der Zeit nur noch aus einem verschlissenen, weißen Unterrock.
Der matschige Waldboden verlor sich immer mehr und irgendwann wich er Wiesen und Feldern. Keya jagte weiter, wie ein wildes Tier über alle unebenen Flächen. Bis sie plötzlich einen klitzekleinen Ort durchquerte.
"Wie lauft Ihr denn herum?", brüllte ihr eine Frau mittleren Alters hinterher. "Seht Euch an. In den letzten Lumpen hat man Euch gelassen. Wie ein Tier seht Ihr aus!"
Da wurde es Keya bewusst. Eine Stadtelfe hatte nicht in solch zerschlissenen Kleidern herumzulaufen. Sie kaufte sich von dem letzten bisschen Geld was sie besaß neue Kleider. Eine weiße Bluse, ein blaues Mieder, eine weiße Hose und blaue Stiefel, die ihr fast bis zu den Knien hinauf reichten.
Nun hatte sie nicht mehr so schnell rennen können, wie zuvor.
Sie brauchte einige Tage, bis sie in die Nähe des Gasthauses "Zur roten Eiche" gelangte. Kurz bevor sie es erreicht hatte, begann es wie aus Eimern zu regnen. Sie lief wieder, so schnell ihre flinken Füße sie tragen konnten und erlangte schließlich, völlig außer Atem, das Gasthaus.
Adastreia hatte das Gasthaus erst nach ihr erreicht.
Keya hatte geahnt, dass sie noch immer nicht besonders gepflegt ausgesehen hatte und dennoch waren die Frauen schließlich ins Gespräch gekommen.
Als sie Adastreia nun ansah, musste sie plötzlich lachen. "Ich sah unglaublich schrecklich aus, als wir uns kennen lernten, nicht wahr? Was muss so eine gepflegte Frau wie du bloß von mir gedacht haben? Du hast Recht. Unsere Reise hat schon ziemlich lustig begonnen!"

"Schrecklich?"
Adastreia lachte leise auf und schüttelte den Kopf, musste dem Mädchen aber insgeheim Recht geben.
Das Äußere hatte sie erst abgeschreckt und sie hatte nicht einmal vorgehabt, mit ihr zu sprechen.
Wäre da nicht das Unwetter gewesen, wäre sie wohl weitergezogen, ohne jemals Keyas Namen zu erfahren ... nach wenigen Tagen hätte sie sich wahrscheinlich nicht einmal mehr erinnert.
"Eher wild. Ungezähmt."
Beneidenswert, eigentlich ...
Ein Hauch von Nostalgie schimmerte in Adastreias Augen und sie schwieg, einen Moment lang ganz in ihre Gedanken und Erinnerungen versunken.
Doch als ihr das bewusst wurde, riss sich zusammen und schaute Keya wieder an.
"Aber das Bad am Abend hat Wunder gewirkt.
Und ehrlich gesagt war mir schnell klar, dass unter deinem Zottelkopf noch mehr wohnt."

Keya grinste. "Ja. Wild und ungezähmt trifft es wohl ganz gut."
Plötzlich spürte sie, dass es irgendwann einen Tag geben würde, an dem sie Adastreia alles erzählen würde, obwohl sie langsam glaubte, dass auch sie es nicht immer leicht gehabt hatte. In ihren Augen lag nun wieder ein Zug, den Keya nicht richtig einordnen konnte. Aber sie wirkte einen Moment lang abgelenkt und völlig in Gedanken. Als sie Keya plötzlich wieder ansah war der Zug von Nachdenklichkeit jedoch plötzlich wieder verschwunden.
"Zottelkopf?", Keya sah sie ungläubig an. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Wie lange hatte sie nicht mehr so voller Innbrunst und so ehrlich gelacht. Hatte sie das überhaupt jemals getan, als sie noch bei Theodmon gelebt hatte?

Offensichtlich ging es Keya wieder etwas besser, denn zumindest die Leichtigkeit war in ihr Gesicht zurückgekehrt.
Entspannt lehnte Adastreia sich zurück.
"Ja, ein Zottelkopf."
Und was für einer!
Es hatte bestimmt eine Stunde gedauert, das Haar so weit zu kämmen, dass es überhaupt wieder entfernt an solches erinnerte. Eine richtige Schande, bei diesen hübschen Locken ...
"Wir sollten in den nächsten Tagen einen guten Schneider aufsuchen.
Ich bin sicher, dass eine Erweiterung deiner Garderobe dir gut bekommen würde."

"Ja...meine Haare hatten einige ungekämmte Tage hinter sich", erneut musste Keya lachen. Einige Tage? Einige Jahre hätte es wohl eher getroffen.
Auch sie nahm eine etwas entspanntere Haltung ein. Als Adastreia ihre Frage jedoch ausgesprochen hatte, war Keya wieder weniger entspannt.
"Oh…", machte sie. Dann nickte sie langsam. "Vielleicht hast du Recht. Aber ich muss erstmal nachsehen wie viel Münzen mir Theodmon hinterlassen hat. Ich habe nichts mehr bei mir außer den Kleidern die ich am Leib trage."

Adastreia machte eine beschwichtigende Handgeste.
"Sollte dein Vermögen eher bescheiden sein, werde ich dir deine neue Gewandung schenken.
Sieh es als Dankeschön dafür an, dass ich bei dir wohnen darf."
Lächelnd betrachtete sie Keya.
Blau stand ihr wirklich hervorragend, es brachte die Augen zur Geltung. Grün und Weiß wären allerdings sicher auch Töne, die in Erwägung gezogen werden sollten.

Keya blieb für einen Moment der Mund offen stehen. Sie hatte bei Theodmon nie in Armut gelebt, aber ein solches Geschenk zu erhalten war dennoch ungewohnt für die junge Elfe.
Sie besann sich auf ihre Manieren, die sie vor einiger Zeit erlernt hatte und schloss den Mund wieder.
"Das würdest du tatsächlich machen?"

"Aber natürlich würde ich das, wenn es einer so lieben Freundin dabei hilft, wieder einer Dame angemessen zu leben."
Adastreia lächelte versonnen.
Kleider und Schmuck ... das hatte zu den wenigen Dingen gehört, die ihr geblieben waren, die sie hatte behalten können.
Sie hatte sich nicht angepasst, hatte weiter die weiten, fließenden Gewänder und zierlichen Schmuckstücke ihrer Heimat getragen, anstatt sich in hautenge Kleider zu zwängen und mit den Huren zu wetteifern. Nein, sie war ihrer Herkunft treu geblieben, hatte die zarte Eleganz gepflegt, mit der ihre Eltern sie beschenkt hatten, hatte eine talentierte Schneiderin damit beauftragt, ihre Garderobe stets mit Stücken zu füllen, welche diese betonten. Und bis heute bereute sie das nicht.

"Woah", machte Keya erstaunt. Noch im selben Moment dachte sie daran, wie sich eine Elfe zu benehmen hatte. Setzte sich aufrecht hin, schaute Adastreia in die Augen und sagte: "Vielen Dank, liebe Adastreia!"
Schon im nächsten Moment musste sie wieder breit grinsen. "Was würde ich auf dieser Reise nur ohne dich machen!"

"Aber nicht doch.
Ich bin sicher, dass du es auch ohne meine Hilfe überstanden hättest."
Adastreia zwinkerte ihr zu.
"Aber geholfen habe ich dir dennoch gerne."
Und sie tat es auch weiterhin.
Für ihre so rasch liebgewonnene neue Freundin.






zuletzt bearbeitet 04.06.2015 12:30 | nach oben springen
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