05: Der Schlüssel zu Theodmons Haus
05: Der Schlüssel zu Theodmons Haus
in Frühling 516 18.04.2015 17:27von Glacies Citris • Herzog | 15.151 Beiträge
Die Kutsche durchquerte wieder die Stadt. Häuser sah man aus den kleinen Kutschenfenstern vorbeiziehen. Andere Kutschen fuhren an Adastreias und Keyas Kutsche vorbei. Pferdehufe prallten unbarmherzig auf den Asphalt. Auch Peitschenhiebe waren ab und an zu vernehmen. Bei jedem rutschte Keya das Herz in die Hose. Die armen Tiere, dachte sie immer wieder. Welchen Schmerz sie doch durchleben mussten. Stimmengewirr war zu vernehmen und die Kutsche verlangsamte plötzlich ihr Tempo. Die zwei Frauen wunderten sich, aber als Keya wieder durch das Fenster sah, wurde ihr bewusst woran dies lag. Menschenmassen. Wohin ihre blauen Augen auch blickten, überall Menschen. Sie mussten kurz vor dem Rathaus sein.
Als sie den Marktplatz etwas weiter weg vor ihnen entdeckte, war sie sich dessen sehr schnell, ganz sicher.
Die Kutsche wurde auf den letzten Metern eher langsamer, als schneller. Dieser Umstand machte Keya noch nervöser als sie sowieso schon war. Sie strich ihre Kleider glatt. Fuhr sich immer wieder durch die braunen Locken und entknotete sie.
Als die Kutsche endlich vor ihrem Ziel anhielt, war Keya erleichtert. Endlich konnte sie aus dieser unangenehmen Situation fliehen. Doch als Adastreia und sie das Rathaus betraten, sahen sie eine nicht enden wollende Schlange in der sie sich zunächst einreihen mussten. Erneut warteten sie eine gefühlte Ewigkeit. Keya wippte in der Zeit immer wieder hin und her. Tänzelte auf der Stelle herum, oder massierte unauffällig ihre Hände. Sie war lange nicht mehr so ungemein nervös gewesen.
Als sie endlich am Ende der Schlange ankamen, wurden sie in ein Einzelbüro verwiesen.
"Setzt euch", forderte ein junger Mann, mit dunklen Haaren sie auf.
Keya schaute sich verwirrt um und versuchte Mut zu fassen, während sie Adastreia ins Gesicht sah.
Dann setzte sie sich vor den jungen Mann, auf einen Stuhl.
"Name?", fragte dieser unfreundlich.
"Öh..Keya", zögerte sie stammelnd.
"Ist das Euer Nachname?", der Mann hob den Blick und schielte mit braunen, unfreundlichen Augen über eine Lesebrille.
"Nein", sie schüttelte leicht den Kopf.
"Soll ich Euch helfen oder nicht?! Wenn ja, dann möchte ich Euch bitten mir Euren vollständigen Namen zu nennen!", der Mann wurde nun lauter und hatte einen barscheren Tonfall.
"Keya Yonara", schoss es nun aus ihr heraus. Wenn er so unfreundlich zu ihr war, dann konnte sie das auch zu ihm sein. "Ich kam her, weil ich von meinem Ziehvater Theodmon Fredor ein Haus geerbt habe. Ich brauche den Schlüssel zu diesem Haus."
Der Mann nickte nur. Dann machte er sich Notizen. Er kramte in einem riesigen Berg aus Papier, bis er anscheinend das ausschlaggebende gefunden hatte.
"Zeigt mir Eure rechte Schulter."
"Was?", fragte Keya ungläubig. Sollte sie sich etwa vor diesem Mann ausziehen?
"Ich muss ihre rechte Schulter sehen. Laut Akte tragen sie dort ein Muttermal was einer Herzform gleicht.", der Mann sah wieder genervter aus.
"Oh..richtig", stammelte Keya, immer noch etwas verwirrt. Dann entblößte sie leicht ihre helle Haut auf der rechten Schulter, um ihm das besagte Muttermal zu zeigen.
"Sehr gut", er zog eine Schublade auf und kramte erneut herum, während Keya ihre weiße Bluse wieder zurechtzupfte.
"Hier ist er.", sagte er schließlich und gab Keya einen kleinen goldenen Schlüssel in die Hand. "Viel Spaß damit! Und beehrt uns bald wieder."
Ganz sicher nicht, dachte Keya noch, als sie und Adastreia das kleine Büro verließen und zurück zur Kutsche spazierten.
"So ein Flegel!", schimpfte Adastreia, sobald die Kutschentüre hinter Keya und ihr zugefallen war.
Während des ganzen Weges aus dem Rathaus heraus und zurück zum Wagen hatte sie sich zusammengerissen, hatte sich um gleichmütige Würde bemüht, keine Szene machen wollen, obwohl ihre Hände und Lippen bereits vor Zorn gezittert hatten. Doch nun, da sie den Menschenmassen wieder entflohen waren und zu zweit im Inneren saßen, wo niemand sie stören und allenfalls der Kutscher überhaupt hören würde, ließ sie ihrem Ärger freien Lauf.
"Ein ungehobeltes Verhalten dieses Ausmaßes ist mir sogar in Feriath kaum begegnet!
Erst solch unfreundliche Worte an eine Dame zu richten und ihr dann auch noch befehlen, sich zu entblößen! Unfassbar, dass man einem solch respektlose Widerling überhaupt Arbeit gibt, noch dazu in einer solchen Position!
Ich sollte ein ernstes Wort mit den Verantwortlichen sprechen!"
Die Kutsche setzte sich in Bewegung, doch Adastreia ließ sich davon nicht stören.
Keya sah ihre Freundin missmutig an.
Sie dachte genauso wie sie. Traute sich aber nicht es laut auszusprechen.
"Meinst du, dass ich mich falsch verhalten habe? Ich meine, dass ich ihm meine Schulter unter die Nase gehalten habe, war wahrscheinlich auch nicht besonders damenhaft, oder?"
Adastreia winkte ab.
"Was hättest du denn tun sollen, Kind?
Mit Sicherheit hätte er sich geweigert, dir zu helfen!"
Zornig schüttelte sie den Kopf.
"Nein, die Schuld liegt allein bei ihm!
Schließlich hat er deine Notlage genutzt und dich praktisch gezwungen!"
Der Gedanke daran, trieb ein orangefarbenes Glühen in Adastreias Stirnkristall und ihre Haare begannen, sich sacht zu bewegen in dem Wind, welches ihr Unbewusstes in die Kutsche heraufbeschwor.
Fasziniert beobachtete Keya einen Moment den Kristall auf Adastreias Stirn. Wie schnell er plötzlich begann orange zu glühen.
"Ja, du hast schon Recht. Es war mir wirklich mehr als unangenehm ihm mein Muttermal zu präsentieren. Dieser Mann gehört gefeuert."
Einen Moment lang schwieg Keya und blickte ins Leere. Das Geräusch der Pferdehufe stets im Ohr.
"Immerhin sind wir jetzt im Besitz des Schlüssels. Das heißt ich kann dir schon bald das Anwesen von innen zeigen."
Sie lächelte zaghaft in Adastreias Richtung, die immer noch böse aussah.
"Ja ... ja, das stimmt."
Adastreias Wut kühlte ein wenig ab und ihr Juwel nahm wieder den üblichen Goldton an.
Sie lächelte sacht.
"Ich werde sobald wie möglich mit dem Bürgermeister oder einem anderen Verantwortlichen sprechen und dieses ungebührliche Verhalten schildern, damit die richtigen Schritte eingeleitet werden können.
Aber das soll mir nicht die Freude daran verderben, mir dein Haus anzuschauen."
Tatsächlich war sie schon gespannt, in was für einer Umgebung ihre Freundin aufgewachsen war.
Und die Vorstellung, endlich wieder in einem richtigen Bett zu schlafen, ließ sie beinahe den unhöflichen Flegel vergessen.
"Die richtigen Schritte?", Keya sah ihre Freundin etwas verwirrt an. Jedoch stand stets Bewunderung für Adastreia in Keyas Augen.
Sie war solange von Theodmon als Hausfrau erzogen worden und hatte sich nie gegen diese Art von Erziehung gewehrt. Im Gegenteil. In ihrem damaligen Umkreis wurden alle jungen Mädchen nach dieser Art erzogen. Sie hatte ihre Erziehung als völlig richtig angesehen. Doch wenn sie jetzt diese starke Frau vor sich sah, die keine Angst hatte den Falschen Leuten ihre Grenzen aufzuweisen, kam Keya ins Grübeln. War es vielleicht doch gar nicht so richtig, für einen Mann die Hausfrau zu spielen?
Die Kutsche wurde weiter und weiter gezogen und bald schon lag der Marktplatz hinter ihnen. Doch auch die Dämmerung setzte langsam ein und während der Himmel langsam dunkler wurde, wurde Keya wieder müder.
Sie gähnte immer wieder. Ihr Schlafrhythmus war noch sehr dem Rhythmus der Natur angepasst.
Adastreia nickte bekräftigend.
"Ich werde veranlassen, dass er entweder seiner Position verwiesen wird oder sich in aller Demut für sein ungebührliches Verhalten dir gegenüber entschuldigt."
Nichts anderes wäre angemessen und nichts anderes würde sie dulden.
Schließlich konnte solches Betragen nicht einfach toleriert werden.
Nachdenklich, die Hände im Schoß zusammengelegt, schaute Adastreia aus dem Fenster in die langsam hereinbrechende Nacht und kam nicht umhin, sich zu fragen, was Orome wohl gerade tat. Was er innerhalb der letzten Jahre überhaupt getan hatte. Er war immer so ruhig und nachdenklich gewesen, körperlich hatte er sich kaum betätigt, den zarten, schmalen Leib nie mit ausgeprägten Muskeln verunstaltet. Feengleich hatte er gewirkt, wenn er seine Zauber gesponnen hatte, umgeben von sanftem, blauen und grünen Licht, ein entrückter Blick in den dunkelblauen Augen, die Lippen leise Worte in fremder Zunge sprechend, die langen, schneeweißen Haare sanft in einer fremden Brise sich wiegend ...
Ob er noch immer so viel Zeit in seine Magie investierte?
Ob er noch immer gerne seine Abende mit einem Buch und süßem Beerenwein verbrachte?
Ganz versunken war Adastreia in diese Überlegungen, sodass sie im ersten Moment gar nicht begriff, worin die Veränderung ihrer Umgebung bestand, als diese dann plötzlich eintraf. Verwirrt schaute sie auf, erst in Keyas schläfrig anmutendes Gesicht, dann nach Draußen, wo die Häuserreihen nicht länger an ihnen vorbeizogen ... und sie begriff.
"Wie es aussieht, sind wir endlich angekommen, meine Liebe."
"Tatsächlich?", müde, aber dennoch etwas erschrocken, fuhr Keya von der hölzernen Kutschenbank herauf. Beinahe hätte sie sich den Kopf gestoßen, als sie aus der Tür der Kutsche kletterte.
Sie rannte erneut auf das Haus zu. Etwas langsamer als sie es noch am Mittag gewesen war, aber dennoch so schnell, dass sie Mühe hatte, keinen unüberlegten Schritt zu tun. Sie hatte sich der Natur nicht nur in ihrem Rhythmus angepasst, sondern auch ihre Instinkte geschärft um in dieser zu überleben.
Als sie vor dem Eingang des Hauses stehen blieb und die alte verschnörkelte Holztür betrachtete, durchforstete sie ihre Taschen nach dem kleinen goldenen Schlüssel. Leise plätscherte der Springbrunnen vor sich hin, während irgendwo leise Motten durch die angehende Nacht flatterten.
Für Keya war all das hier so unglaublich vertraut, aber dennoch so abscheulich fremd. Als der Schlüssel sich in der Tür drehte, floss ein kalter Schauer Keyas Rücken hinunter. Erst als sie Adastreia wieder hinter sich wusste, ging es ihr etwas besser. Sie nahm war, wie der Riegel leise zur Seite sprang und drehte den Türknauf vorsichtig herum. Langsam drückte sie die Tür auf, atmete noch einmal tief durch und betrat die dunkle Diele.
Ihre Knie schlotterten und in ihrem Magen lag ein schrecklich leeres Gefühl. Ihr Herz hämmerte ihr bis in den Hals hinauf und dennoch ging sie weiter. Wieso reagierte ihr Körper plötzlich so auf dieses Haus? Erwartete sie, dass Theodmon sie empfangen würde? Dass er sie schelten würde, weil sie solange nicht nach Hause gekommen war?
Irgendetwas an diesem Haus wirkte fremd auf sie. Dabei hatte sich auf den ersten Blick nichts verändert.
Sie schluckte hörbar und durchquerte die dunkle Diele, bis sie das kleine Wohnzimmer betrat. Es wirkte etwas schmutzig, aber dennoch erkannte sie das alte Ledersofa in der hinteren Ecke und den kleinen Kamin an der Wand. Plötzlich fiel Keya auf, was nicht mehr so war wie früher. Der kleine gemütliche Ohrensessel in dem Keya so gerne gelesen hatte, war verschwunden.
Sie atmete laut und erschrocken aus und rannte schließlich zurück in die Diele. Sie raste die Treppe hinauf um ein Stockwerk höher zu gelangen.
Sie stieß die Tür zu Theodmons altem Schlafzimmer auf. Sofort blieb ihr der Mund offen stehen. Er hatte sein altes, kleines Bett, durch ein neues, viel größeres Bett ersetzt. Ein Bett, dass eindeutig für zwei Leute gemacht worden war. Sie schlug die Tür zu und wollte gerade zurück gehen. Sie spielte schon mit dem Gedanken das Haus zu verkaufen oder es Adastreia zu schenken und abzuhauen.
Kurz vor der Tür zu ihrem alten Zimmer hielt sie noch einmal inne. Wollte sie das wirklich sehen?
Mit einem Ruck riss sie die knarrende Tür auf. Dann brach sie zusammen. Ihre Beine gaben nach und Tränen liefen leise ihre Wangen hinab. Alles in ihrem Oberkörper schmerzte.
Nichts mehr war dort oben, was einmal ihr gehört hatte. Weder ihr eigener Kleiderschrank, noch ihr heißgeliebtes Bücherregal. Da stand nur ihre altes Bett.
All die Erinnerungen an ihre Kindheit, ihre Jugend. Altes Spielzeug, all die Bücher die besessen hatte. Nichts von alldem war noch da. Ihre Vergangenheit verschwunden, als hätte es Keya nie gegeben. Als wäre sie tot.
"Was ist bloß hier passiert?!", flüsterte Keya nur noch leise, denn sie hatte Angst, dass ihre Stimme brach wenn sie lauter sprechen würde.
Adastreia war es kaum gelungen, ihrer Freundin hinterher zu eilen, waren sowohl ihr Gewand, als auch ihre Statur doch zu vielem zu gebrauchen, aber nicht zum Rennen. Doch ein ungutes Gefühl war schon über sie gekommen, als sie mit Keya durch die ersten Räume geschritten war, den Staub mehrerer Monate aufgewirbelt hatte.
Da war ein Blick in den Augen der jungen Frau gewesen, der ihr Sorgen bereitet hatte.
Doch überrascht war sie somit nicht gewesen, als Keya schließlich vorausgelaufen war ... und auch jetzt war Adastreia nicht überrascht, als sie das Mädchen im Eingangsbereich eines beinahe leeren Raumes kniend vorfand.
Erst als sie sich über ihre Freundin beugte und die Arme um sie schloss, sah sie die Tränen. Doch erahnt hatte sie die salzigen Tropfen bereits vorher.
Eine Weile bewegte sich Keya nicht mehr. Ihre Augen waren verschleiert von den Tränen, ihre Knie zitterten sogar während sie auf dem Boden saß und in ihrer Brust war Leere. Nichts als Leere. Irgendwann verstummte sie einfach. Das heftige Schluchzen Keyas brach einfach ab und die Leere und Trauer wurde von einem Gefühl der Taubheit ersetzt.
Keya schloss die Augen und konzentrierte sich auf das was hier mal gewesen war.
"Es ist mein Zimmer", sagte sie schließlich, denn sie wollte Adastreia nicht ohne Erklärung stehen lassen. "Tut mir Leid, dass du das mit bekommen hast."
Sie verstummte nochmal einen Moment. Ihre Augen huschten nervös durch den alten Raum, in dem sie einst gelebt, gewohnt, geweint und gelacht hatte. Er war ihre Heimat gewesen, dieser Raum. Sie hatte ihre meiste Zeit hier oben verbracht.
"Es ist als hätte mein Ziehvater meine Vergangenheit ausradiert", ergänzte Keya schließlich.
Langsam löste Adastreia sich, nicht ohne jedoch noch einmal sanft über eine braune Locke zu streichen.
"So sind die Männer", erwiderte sie leise. "Sie wollen uns ganz in ihren Leben haben und nur dann existieren wir für sie. Erinnerungen ertragen sie nicht."
Ihre Ziehmutter hatte ihr oft Briefe geschickt, alte Freundinnen ebenfalls, hatten ihr oft beteuert, wie sehr sie vermisst wurde. Doch Adastreias Ziehvater hatte sich nie gemeldet. Ebensowenig wie der junge Adlige, der sie kurz vor der offiziellen Verkündung ihrer Verlobung noch umworben, ihr ewige Liebe geschworen hatte, und - sollte sie ihn zurückweisen - ewige Freundschaft. Ebenso wenig wie Orome.
Ja, wahrscheinlich hatte selbst er, ihr eigener Bruder, sie willentlich aus seinem Gedächtnis verbannt.
Und sicher war es so auch bei diesem Theodmon gewesen, sicher hatte er Keya lieber vergessen, als sich daran erinnern zu müssen, dass sie einmal dort gewesen war, dass er sie verloren hatte.
"Vielleicht finden sich deine Habseligkeiten noch irgendwo", sagte Adastreia schließlich, sich einen Ruck gebend. "Das Haus hat doch sicher einen Dachboden, nicht wahr?"
Keya zuckte leicht zusammen, als ihr klar wurde, dass das Haus tatsächlich einen Dachboden hatte. Sie erhob sich langsam aus ihrer kauernden Haltung, bis sie wieder relativ sicher auf ihren Beinen stand. Adastreia hatte ihr Mut gemacht, hatte ihr ohne es zu wissen neue Kraft gegeben.
"Du hast Recht", sagte sie in ihre Richtung. "Das hat es!"
Dann lief sie langsam zum Anfang der Treppe, fand den Stock mit dem Haken zum Öffnen der Bodenluke in einer Ecke und öffnete diese, da sie sich nun genau über ihr befand.
Langsam zog sie die Treppe hinunter. Staub kam den Frauen entgegen und es blieb ihnen kein Ausweg als ab und an zu niesen.
Als Keya die Treppe vollständig ausgefahren hatte, kletterte sie hinauf. Die Treppe war äußerst wackelig und quietschte bedenklich unter dem Gewicht der jungen Elfe. Aber sie hatte keine Angst, da sie das klettern auf Bäume sehr sicher beherrschte.
Als sie auf dem Dachboden angelangt war erstarrte sie erneut. Adastreia hatte Recht gehabt, die meisten ihrer Sachen waren hier. Sogar Puppen und Spieluhren fanden sich wieder. Sie durchquerte mit langen Schritten den Raum und fand mit großen, staunenden Augen etwa die Hälfte ihrer Sachen in kleinen und großen Kisten wieder.
Vor ihren alten Büchern sank sie auf die Knie. "Sie sind doch alle noch da. Meine geliebten Bücher."
Sie stricht bedächtig und lächelnd über die verstaubten Einbände. Wie lange hatte sie nicht mehr gelesen.
Doch dann änderte sich ihre Stimmung wieder schlagartig. Hinter ihrer eigenen Kiste befand sich eine Kiste mit Dingen, die ihr nicht bekannt waren.
"Adastreia? Das sind nicht meine Sachen."
Sie zog die Kiste hervor und entdeckte fremde Kleider, Strümpfe und Röcke. "Nach meinem Auszug muss hier noch irgendjemand anders gewohnt haben. Wer weiß was er mit ihr angestellt hat..."
"Vermutlich das, was Männer mit Frauen zu tun pflegen, die bei ihnen leben", erwiderte Adastreia matt, doch nicht ohne eine gewisse Schärfe in der Stimme. Sie stand gleich neben der Luke, ihre Knie zitterten ein wenig. Sie hatte wirklich Sorge gehabt, dass die Leiter unter ihr nachgeben, dass sie abrutschen oder mit ihrem Gewand hängen bleiben und am Ende fallen und sich sämtliche Knochen brechen würde. Höhen - selbst äußerst geringe - hatte Adastreia nie leiden können. Doch diese Schwäche wollte sie Keya gegenüber nicht zeigen. Sie musste für ihre Freunden stark sein, wo sie doch in einer solch schmerzhaften Situation war.
"Hat er jemals von einer Frau gesprochen?"
Keya erhob sich ganz langsam aus der Hocke. Die Gefühle vor ihrer Flucht hallten erneut in ihrer Brust wieder. Furcht, ob er sie entdecken würde, ob er Keya womöglich erwischen würde. Was er wohl mit ihr angestellt hätte, wenn er sie erwischt, oder gar im Wald gefunden hätte.
"Theodmon hat mich nicht aus Nächstenliebe, oder aus Mitleid aufgenommen", Keya zitterte bei dieser Erklärung am ganzen Leib. Sie wusste nicht, wie viel aus ihr heraussprudeln würde und sie hatte auch ein wenig Angst davor, Adastreia sofort die ganze Geschichte erzählen. Adastreia war eine so wunderbare Elfe, mit einer starken Persönlichkeit; während sich Keya immer schwächer fühlte. Wer schwach war, flüchtete. So wie sie es getan hatte.
"Er hat mich aufgenommen um zu warten", sie schluckte hörbar. "Er wollte warten, bis ich alt genug bin. Alt genug um ihn zu heiraten. Er hat nie von einer anderen Frau gesprochen."
Sie senkte den Blick auf ihre Füße und bemühte sich die Tränen wegzublinzeln, die sich in ihren Augen sammelten.
Adastreias Lippen nahmen einen bitteren Zug an.
"Es tut mir leid", sagte sie leise und trat auf Keya zu, legte vorsichtig eine Hand auf ihre Schulter.
"Ein junges Mädchen auf diese Weise auszunutzen ist das Schändlichste, was ein Mann tun kann."
Ein orangefarbener Schimmer trat in ihren Stirnkristall, wurde jedoch auch von bläulichen Schlieren durchzogen.
Es machte Adastreia wütend, dass die Männer anscheinend auf der ganzen Welt so handelten, solche Einstellungen besaßen, Frauen nur als hübsche Puppen, mit denen sie spielen konnten, als Trophäen, die sie der Welt präsentieren konnten, betrachteten, dass sie hilflos dagegen war.
Und traurig, nachdenklich machte sie es auch.
Lange schwieg Adastreia, wägte ihre Worte genau ab, bis sie schließlich mit fester Stimme, doch ohne Keya direkt anzuschauen, sagte:
"Ich war viel zu lange mit einem Mann verheiratet, den ich nicht lieben konnte und der mich nicht achtete.
Ich bin froh, dass dir nicht dasselbe widerfahren ist."
Keyas Kopf schoss in die Höhe. "Was?", fragte sie erstaunt. Damit hatte sie tatsächlich nicht gerechnet.
Adastreia wirkte so stark und überhaupt nicht zerbrechlich. Doch als Keya jetzt versuchte ihr in die Augen zu schauen, bemerkte sie, dass sie sie nicht direkt anschaute.
"Das tut mir wiederrum Leid", sie wischte sich die Tränen vom eigenen Gesicht, die sich aus ihren Augen gelöst und ihre Wangen heruntergekullert waren. Dann legte sie Adastreia eine Hand auf die Schulter.
"Was hälst du davon, wenn wir morgen mit der Suche nach deinem Bruder beginnen? Und ich werde gleichzeitig nach der Frau suchen, die hier mit Theodmon gelebt hat. Aber ich verspreche, dass ich dich nicht alleine lasse, wenn du ihn suchst. Natürlich nur, wenn du das möchtest."
Nun lächelte Adastreia, schaute in die Augen ihrer Freundin. Das Juwel in ihrer Stirn nahm langsam wieder seinen gewöhnlichen, goldenen Ton an.
"Danke, Keya.
Ich werde mich gerne gemeinsam mit dir auf die Suche begeben.
Aber zuerst", sie drehte sich um und verspürte bereits leichtes Ungehagen, als ihr Blick auf die Luke im Boden fiel, "sollten wir wieder hinabsteigen und uns um ein Abendessen kümmern."
Das dämmrige Licht, welches durch die Dachfenster hineinströmte, mochte Adastreia täuschen und glauben lassen, dass es schon auf den frühen Abend zuging. Doch ihr Magen, der sich bereits ein wenig zusammenzog, tat es sicherlich nicht.
Und ihr wäre es mehr als recht, nach dieser langen Zeit der einseitigen, trockenen Reisekost, an diesem Abend endlich wieder eine anständige Mahlzeit zu sich zu nehmen.
Keya nickte zustimmend. "Ja, du hast Recht! Nach einem solchen schrägen Tag muss man etwas anständiges Essen. Ich werde mal sehen, ob noch etwas von Theodmons Küche übergeblieben ist."
Die beiden Frauen stiegen die wackelige Treppe hinunter, um sich wieder ins Erdgeschoss zu begeben.
Keya betrat die Küche. Dort befand sich noch die gesamte Kücheneinrichtung.
Sie durchsuchte die Schränke, aber in ihnen sah es aus, als wäre eine Meute hungriger Straßenhunde hindurch gefegt.
"Woah", machte Keya entsetzt. Geschirr war teilweise zersplittert und Lebensmittel waren auch kaum vorhanden.
Sie überlegte kurz, dann sagte sie an Adastreia gewandt: ,"Ich denke, dass wir uns hier heute nichts zum Abendessen kochen können. Vielleicht sollten wir morgen Lebensmittel besorgen und heute auswärts essen gehen. Ich war damals oft mit Thoedmon in einer kleinen Taverne um die Ecke essen. Sie hatten sehr leckere Gerichte und es schmeckte auch wunderbar. Es hieß 'Pfauennest' wenn ich mich nicht irre.
Adastreia warf einen kritischen Blick ins Innere des Küchenschrankes und nickte dann zustimmend.
"Ja, das scheint mir eine weise Entscheidung.
Wir sollten uns morgen auch gleich nach etwas neuem Geschirr umschauen."
Trotzdem lächelte sie, der Gedanke an ein warmes, frisch zubereitetes Mahl lockte sie mit jedem Moment mehr.
"Für mich zu diesem Pfauennest - ich werde dich selbstverständlich einladen."
Das Lokal, eine kleine Taverne am Rand des Händlerviertels war gut besucht. Am frühen Abend schien es viele der wohlhabenderen Stadtbewohner hierher zu ziehen - ob es nun um Geschäftsessen ging oder darum, eine Dame auszuführen.
Lawrence war aus keinem beider Gründe hier.
Sein Handwerk verrichtete er in der Regel mit dem Schwert, einem festen Handgriff oder vielleicht einer eiligen Notiz an den Hauptmann. Und eine Dame gab es nicht mehr.
Nein, Lawrence gehörte nicht an Orte wie diesen, wo die Kleidung etwas edler, das Essen von feinerer Würze und der Wein höheren Alters war, als es in den Gasthäusern im Hafenviertel der Fall war, welche er sonst frequentierte. Er war hier, weil die Besitzer ihn dazu eingeladen hatten, nachdem er einen Einbrecher vor ihrem Haus gefasst hatte, bevor dieser mit dem Silbergeschirr hatte verschwinden können. Er hatte das Angebot ausschlagen wollen, doch das alternde Ehepaar hatte sich als äußerst beharrlich herausgestellt und er hatte nachgegeben, um niemanden zu verärgern. Und auch, weil er ohnehin an diesem Abend keine Verpflichtungen gehabt hätte.
Doch nun, da er hier saß, in einem seiner besseren Hemden, mit einem lächerlichen Seidenband, das sein dunkelblondes Haar im Nacken zusammenhielt, an seinem viel zu süßen Wein nippte und darauf wartete, dass sein Lammfilet serviert wurde, kam er nicht umhin, die Entscheidung zu bereuen.
Ein bitterer Geschmack machte sich in seinem Mund breit, als er kurz zur Seite schielte und sah, wie sich ein gutgekleideter, gepflegter Mann mittleren Alters leicht vorbeugte, um einer hübschen, sehr jungen Frau etwas ins Ohr zu flüstern, dann das Glas hob und sie erwartungsvoll anschaute. Mit geröteten Wangen und einem verliebten Lächeln auf den Lippen antwortete das Mädchen etwas Leises und blickte danach in offenbar glückseliger Verlegenheit auf die eigenen Fingerspitzen, ehe es ebenfalls das Glas hob.
Wärst du bei mir geblieben, Elira, wenn ich dich hierhin ausgeführt hätte?
Hat dein Liebster dich hierher ausgeführt.
Lawrence zwang sich, den Blick abwenden.
Er gewann nichts dadurch, über die Vergangenheit und Elira zu spekulieren. Nichts als Schmerz.
Es war ein Fehler gewesen, sie in sein Herz zu lassen, zu glauben, dass er mit ihr hätte glücklich werden, sie hätte glücklich machen können. Eine Frau, die jünger war, die die hässlichen Seiten der Welt nie kennengelernt, die nicht einmal einen Liebhaber vor ihm gehabt hatte. Er konnte nur hoffen, dass sie glücklich war, wo auch immer er sie hin mitgenommen hatte, und dass er selbst aus seinem Fehler lernen würde.
Plötzlich sah Lawrence aus den Augenwinkeln einen nahenden Schatten und schaute auf, in der Erwartung, dass man ihm endlich sein Essen bringen würde, er es endlich herunterwürgen und dann verschwinden könnte, an einem Ort, der sich besser zum Vergessen eignete.
Aber es war nicht der Kellner, der auf den Tisch zutrat.
Zumindest nicht er alleine, denn in seiner Begleitung befanden sich zwei Frauen, Elfen unterschiedlicher Stämme.
Die erste besaß ein glattes, feingeschnittenes Gesicht, welches auch einer Porzellanpuppe gut zu Angesicht gestanden hätte, schneeweißes und sehr langes Haar, das glatt und glänzend über ihre Schultern fiel, sowie goldene Augen und einen auffälligen Kristall gleicher Farbe, der in der Mitte ihrer Stirn prankte. Obwohl sie schlichte Gewandung trug, strahlte diese Frau etwas erhabenes, beinahe schon königliches aus. Sie musste eine Frau sein, die es nicht gewohnt war, unter jemandem zu stehen, die eine kühle Distanz zu allem und jedem wahrte.
Ganz ungleich war dagegen die zweite Elfe, die mit negierigen blauen Augen in die Welt schaute, deren Kopf mit wilden, braunen Locken geschmückt war und die in ein einfaches, dunkelblaues Kleid gehüllt war. Auch ihre Haut war hell, doch von frischerem Ton als die ihrer Begleiterin, und da war etwas in ihrer Art, was Lawrence auf Anhieb sympathisch war. Etwas, das ihn an Jane erinnerte, sein kleiner Wildfang, seine Schwester, die niemals alt genug geworden war, um das Leben wirklich kennen zu lernen. Vielleicht war das auch besser so, schließlich hatte es ihren älteren Brüdern schon nichts als Unglück und einzig ihrer Schwester nach langem, schweren Kampf schließlich so etwas wie Zufriedenheit gebracht. Jane hatte Hunger gekannt, Sorge und Angst, doch sie war niemals alt genug geworden, um Bitternis zu kennen, das Gefühl zu verspüren, langsam von ihr verschlungen zu werden, aus dem Inneren heraus, unsichtbar vor den Augen der Welt.
Der Kellner fragte, ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn die beiden Damen sich an seinen Tisch setzen würden, es sei keiner mehr übrig, der frei wäre. Lawrence schüttelte nur den Kopf und machte eine knappe Geste in Richtung der freien Stühle. Es kam ihm etwas seltsam vor, dass man sich ausgerechnet in seine Nähe setzen wollte, doch ihn sollte es nicht stören, schließlich waren die beiden allen Anscheins nach kein Liebespaar, das ihn auf noch unangenehmere Gedanken hätte bringen können.
Und an diesem Tisch hätten auch acht Menschen Platz gefunden ...
Keya war fasziniert von der kleinen Taverne.
Allerdings lenkte es sie ab, neben dem Mann mit den dunkelblonden Haaren zu sitzen. Während sie in der Karte blätterte, um eines der Gerichte auszuwählen, wanderte ihr Blick immer wieder zu ihm. Er sah aus, als hätte er eine ziemlich interessante Gesichte hinter sich. Der Blick seiner hellbraunen Augen wirkte etwas abwesend, möglicherweise sogar als fühlte er sich nicht wohl in dieser Taverne.
Das es so voll war, machte auch Keya etwas nervös. Aber erneut beruhigte es sie, dass Adastreia immer in ihrer Nähe war.
Als die beiden bestellen wollten, beobachtete Keya zunächst aufmerksam, wie sich Adastreia verhielt. Schließlich versuchte sie es genauso. Der Kellner verstand sofort und verschwand wieder in der Küche. Es war zwar nicht das erste Mal, dass sie sich etwas bestellte, aber das letzte Mal war auch schon ziemlich lange her.
"Sollen wir während des Essens einen Plan schmieden, wie wir morgen vorgehen?", sie sah Adastreia lächelnd an. Keyas Laune hatte sich erheblich gebessert, seit sie vor die Tür getreten waren.
"Gerne."
Adastreia lächelte warm.
Diese Einrichtung war enger als sie es von ihrer fremden Heimat gewohnt war und auch mehr Menschen hatten sich hier versammelt, als es dort üblich gewesen war. Doch die Möbel waren aus poliertem Holz, die Vorhänge an den Fenstern und die Wandzierden aus gut verarbeitetem Stoff, die Lampen schlicht, aber elegant.
Vermutlich war das hier seit Beginn ihrer Reise das beste Lokal, welches sie aufgesucht hatte, das auch nur begann, ihrem Stand ein wenig angemessener zu sein. Und das hob ihre Stimmung ungemein.
Der einzige Wermutstropfen, welchen auch der liebliche Wein, den der Ganymed ihr nach einem kurzen Augenblick einschenkte, nicht vertreiben konnte, war dieser Mann, der an ihrem Tisch saß und ganz und gar nicht hierher zu gehören schien und der Keya immer kurze Blicke zuwarf, die sie auch noch erwiderte.
Er schien nicht übermäßig alt zu sein, nicht einmal sonderlich hässlich, wenn man über die gebräunte Haut und das unansehnliche, dunkelblonde Haar hinwegschaute. Er hatte auch nicht die Statur eines Edelmannes, war zu groß, zu muskulös dafür. Ein Krieger vielleicht, aber kein Kriegsherr, dafür fehlte ihm die Arroganz, dafür schien er sich hier zu unwohl zu fühlen. Ein Kriegsherr würde sich nicht darum scheren, wo er sich befand und wer um ihn war, sein Stolz würde ihn überallhin begleiten, er würde ihn ausatmen. Dieser Mann war eher ein Soldat. Einer von niederer Geburt.
Adastreia hatte lange genug auf dieser Welt gelebt, um zu merken, wenn ein Mann seine Klasse zu überspielen suchte. Und dieser hier stellte sich geradezu bemitleidenswert kläglich darin an. Ein schlechter Schauspieler. Aber immer noch ein Schauspieler. Ein Lügner, wenn man so wollte.
Sie musterte ihn abschätzig, nippte an ihrem Glas und überlegte, ob sie den Kellner bitten sollte, ihn zu einem anderen Tisch zu weisen, entschied sich jedoch dagegen. Womöglich kannte der Mann die Stadt. Womöglich wusste er einen Hinweis, wo die Suche beginnen könnte. Er war so gut wie jeder andere - besser vielleicht, denn man würde ja bemerken, sollte er lügen.
"Wollt Ihr Euch den Damen, die mit Euch einen Tisch teilen, nicht vorstellen?", fragte Adastreia sanft, aber mit klarer Stimme.
Der Mann schaute zu ihr auf, als wäre er aus einem Traum erwacht, musterte sie einen kurzen Moment. Doch dann trat ein schmales, nicht unfreundliches Lächeln auf seine Lippen, lockerte die zuvor geradezu stoischen Züge etwas auf und er nickte sowohl Adastria, als auch Keya jeweils einmal zu.
"Lawrence Mercer, Mylady."
Und nach einem kurzen Moment des Schweigens fügte er hinzu:
"Ich hoffe, dass der Wein Euch schmeckt."
Nun, wenigstens Manieren hatte er, wenngleich seine Ausdrucksweise etwas zu wünschen übrig ließ.
Zu erwarten war das ja gewesen.
"Ja, er mundet ganz hervorragend."
Das konnte sie nach all der Zeit ohne guten Wein sogar mit Ehrlichkeit in der Stimme sagen.
Keya war etwas perplex. Gehörte es zu den Höflichkeitsformen sich über den Geschmack des Weines auszutauschen?
Sie bemerkte, dass sie erwartungsvoll angeschaut wurde. Keya hatte bis jetzt nicht einmal an dem Wein genippt.
Sie lächelte verlegen und holte dies nach. Der Geschmack von Alkohol brannte auf ihren Lippen. Tapfer versuchte sie nicht das Gesicht zu verziehen, dennoch war sie sich sicher, dass jeder gesehen hatte, dass ihr der Wein, beziehungsweise der Alkohol, nicht schmeckte. Dennoch sagte sie, :"Ja, wirklich ein leckerer Wein."
Sie wandte sich wieder an Adastreia, um ihre Peinlichkeit zu vertuschen. "Wo sollen wir beginnen nach deinem Bruder zu suchen?"
"Nun ..."
Adastreia nahm erneut einen kleinen Schluck von ihrem Wein.
"Ich weiß nicht, wie es meinem Bruder in all den Jahren ergangen ist, doch von dem, was ich hörte, muss er als reicher Mann in die Stadt gekommen sein. Er hat immer eine geschmackvolle Eleganz und Ruhe bevorzugt. Sein Haus - sollte er denn eines besitzen - wird also vermutlich diese Qualitäten besitzen."
Sie wandte sich dem Mann zu.
"Wo würdet Ihr einen solchen Mann suchen, Herr Mercer?
Einen großzügigen Edelmann, welcher sicher Jeden reich belohnen würde, der ihm seiner verlorengeglaubten Schwester zuführen würde?"
Lawrence verschluckte sich beinahe an seinem Getränk.
Er konnte nicht behaupten, dass diese herablassende, gönnerhafte Art ihm gefiel, ebenso wie der unverhohlene Bestechungsversuch. Gleichermaßen aber war er davon überzeugt, dass die Lady sich der Wirkung ihres Auftretens nicht bewusst war, und es nichts nutzen würde, sie darauf hinzuweisen. Und nach einem Streit war ihm nicht zumute.
Er zog in Erwägung, eine ausweichende Antwort zu geben, entschied sich aber dagegen, als er den Blick der anderen Frau auf sich ruhen merkte. Neugierig, offen, unbedarft schien sie in die Welt zu schauen. Solche Blicke waren immer schon Lawrence’ große Schwäche gewesen, erweichten seit jeher sein Herz.
"Hier im Händlerviertel, Mylady", erwiderte er also ruhig. "Hier gibt es gehobene Gaststätten und wer es sich leisten kann lässt sich hier ein Haus bauen."
Die weißhaarige Elfe stieß einen leisen Seufzer aus.
"Das Viertel ist zu groß, um völlig hindurchzulaufen, nicht wahr?
Und wenn ich mich nicht irre, geziemt es sich auch hier nicht, an unbekannte Türen zu klopfen."
Lawrence nickte, ohne eine Miene zu verziehen.
"Das stimmt.
Ihr könnt wahrscheinlich im Rathaus Aufzeichnungen finden."
Ehe er etwas hinzufügen konnte, wurden drei Teller an den Tisch gebracht.
Und er musste gestehen, dass das Lammfilet doch sehr sehr aussah und einen appetitlichen Duft verströmte. Gleiches galt für den Spargel.
Auf den Tellern der Frauen fand sich vor allem Salat wieder, gemischt mit bunten Happen aus Karotten und Radieschen, hineingebettet war helles Fleisch, Hühnchen, wie Lawrence vermutete.
Dazu wurden ihnen dicke Scheiben hellen Brotes, sowie etwas Butter gereicht.
Neugierig und etwas geistesabwesend betrachte Keya den Mann an ihrem Tisch erneut. Nur beiläufig bekam sie mit, dass Adastreia und er über etwas redeten. Sie betrachtete eindringlich sein Gesicht. Was hatten diese geheimnisvollen hellbraunen Augen schon alles miterleben müssen? Sie ertappte sich dabei, wie sie mit dem Zeigefinger auf dem Rand ihres Glases herumfuhr.
Erschrocken biss sie sich auf die Lippe. Als sie Adastreias Vorschlag hörte, sah sie etwas Erschrockenes in Herr Mercers Blick.
Vertieft folgte sie dem Gespräch. Das Rasthaus war nun nicht gerade Keyas neuer Lieblingsort in der Stadt.
Das Essen wurde serviert. Als Keya einen Bissen des Salates probierte, merkte sie wie leer ihr Magen die ganze Zeit gewesen war. Der Geschmack von Gewürzen breitete sich in ihrem Mund aus und für einen Moment schloss sie die Augen. Sie genoss dieses Essen. Hatte sie in all der Zeit im Wald doch nur ungewürzte Nahrung gehabt.
"Also nehmen wir morgen die Kutsche und fahren erneut zum Rathaus, um dort weiter zu fragen", Keya grinste. "Und dann kann es nicht mehr lange dauern, bis du ihn wiedersiehst."
"Wenn die Götter mir gnädig sind, wird es so sein", erwiderte Adastreia schlicht.
Und ich verdiene, dass sie es endlich sind.
Wenigstens dieses eine Mal.
Langsam führte sie die Gabel zum Mund, kaute auf einem Salatblatt in salziger Soße und befand es für durchaus befriedigend im Geschmack. Entschlossen nickte sie und lächelte.
"Wenn wir dort sind, werde ich mich auch sogleich um die Beschwerde über diesen Flegel kümmern."
Doch trotz dieser erfreulichen Lage, fühlte Adastreia ein gewisses Unwohlsein, wenn sie Keya anschaute, die immer wieder abgelenkt in Richtung dieses Lawrence Mercer blickte. Sie würde später ein Wort mit dem Mädchen sprechen müssen. Eine Frau musste vorsichtiger im Umgang mit Männern sein - offenkundige Sympathie brachte diese nur allzu schnell auf falsche Gedanken. Abgesehen davon, konnte es kaum in ihrem Interesse sein, Umgang mit ihm zu pflegen. Es entsprach nun einmal nicht ihrem Stand.
"Sagt, Herr Mercer, was ist Euer Handwerk?", fragte Adastreia und milderte nur mit großer Mühe die Spitze in ihrer Stimme ab. Es bestand kein Grund, unhöflich zu werden, schließlich war es dieser Mann ebenfalls nicht.
Bemerkt hatte er den Unterton anscheinend trotzdem, das konnte sie in seinen Augen sehen, als er antwortete:
"Ich bin ein einfacher Wachsoldat, Mylady."
Adastreia nickte, ihre Einschätzung war also korrekt gewesen.
Obwohl er als Wachmann sicher Begabungen in Angelegenheiten hatte, welche gewöhnlichen Soldaten in der Regel verwehrt blieben ...
"Hervorragend!
Dann könnt Ihr uns sicher erzählen, wo wir eine Frau zu suchen haben, deren Namen wir nicht kennen."
Keya sah erschrocken auf. Hatte sie gerade einen scharfen Unterton in Adastreias Stimme gehört? War sie etwa sauer auf diesen Mann?
Sie stocherte einen Moment lang in ihren Salatblättern herum, dann sagte sie zögernd: ," Ich bin die Ziehtochter von Theodmon Fredor", sie wandte sich an Lawrence. "Ich denke, sie kannten ihn. Er hat ziemlich lange hier gelebt. Ich war jedoch eine zeitlang nicht in der Stadt. In dieser Zeit muss er eine Frau bei sich gehabt haben. Sie dürfte sogar bei ihm gelebt haben. Kennen sie sein Haus?"
Keya zog die Augenbrauen leicht herauf und war fasziniert davon, wie lange ihr der Mann nun schon zuhörte.
Nachdenklich blickte Lawrence in sein Glas, nahm einen Bissen von seinem zarten Filet und überlegte beim Kauen, wo er den Namen schon einmal gehört hatte.
Bekannt klang er, wenn auch nur entfernt. Es war keiner, mit dem er häufig zu tun gehabt hatte. Und doch ...
Erinnerungen krochen zurück in das Sichtfeld seines inneren Auges, kurze Szenen seines Arbeitslebens, die er schon lange als unwichtig abgetan hatte.
"Nein", sagte er schließlich, als er den Kopf wieder der jungen Frau zuwandte, ihr direkt in die Augen blickte. "Ich habe ihn nicht gekannt."
Er trank einen Schluck Wein, seufzte dann.
"Aber ich weiß dennoch, von wem Ihr sprecht ... und bin auch der Frau vermutlich schon begegnet.
Wir wurden damals gerufen, um seine Ehefrau nach seinem Tod aus dem Haus zu holen.
Er hatte es ihr nicht vererbt, doch sie wollte es nicht verlassen."
Es war bitter gewesen.
Sie hatte anscheinend mehere Jahre mit Theodmon Fredor gelebt, musste ihn sehr geliebt haben.
Aber weil sein Testament etwas Anderes ausgedrückt hatte, hatte man sie vertrieben, hatte Lawrence es selbst in die Hand genommen, weil es seine Aufgabe war, weil er sich einem Befehl nicht hatte widersetzen dürfen.
Es waren Momente in diesen, da er sich wieder bewusst wurde, dass er für das Recht arbeitete, nicht aber für die Gerechtigkeit.
"Also lebt Ihr nun dort ... Fräulein Yonara?
Das ist doch Euer Name, nicht wahr?"
Keya war der Appetit vergangen. Sie spürte wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. "Ja..", zögerte sie und schaute ihm wieder in die hellbraunen Augen. "Das bin ich. Keya."
Sie schluckte leise und schloss für einen Moment die Augen. Sie wollte nicht schon wieder in Tränen ausbrechen. Vor allem nicht in der Taverne und schon garnicht vor diesem Mann. Als sie ihn wieder anblickte, lag ein leichter Schimmer aus Tränen auf ihren blauen Augen. Jedoch war sie sich sicher, dass sie ihr nicht die Wange herunterlaufen würden.
"Sie hat dort mit ihm gelebt? Verständlich, dass sie nicht gehen wollte. Es war schließlich ihr Haus. Sie hatte dort ihr Zuhause."
Schockiert betrachtete sie Herr Mercer. Wie konnte er sie dazu zwingen ihr eigenes Haus zu räumen und zu verlassen.
Lawrence’ Mundwinkel verkrampften sich leicht, das einzige Anzeichen seines Unwillens, welchem er erlaubte, nach außen zu treten.
"Ja", antwortete er leise. "Ja, das hatte sie wohl."
Was würde es nutzen, ihr zu erklären, dass er keine Wahl gehabt hatte?
Dass es ein Befehl gewesen war, dem er sich nicht ohne weiteres hätte widersetzen können?
Dass selbst dann ein Anderer ihn ausgeführt hätte?
Nichts, es würde nichts nutzen.
Und es wäre nichts als Heuchelei. Lawrence war ein erwachsener Mann, er konnte seine eigenen Entscheidungen treffen. Er hätte das richtige tun, es wenigstens versuchen können, und hatte es nicht getan. Und er wollte nichts verteidigen, auf das er nicht stolz war, das er selbst verabscheut hatte.
Er leerte den Rest seines Glases in einem Zug und erhob sich.
"Es tut mir leid, was geschehen ist", sagte er ernst und nickte einmal Keya, einmal ihrer Begleiterin zu. "Genießt Euren Abend."
Mit diesen Worten hielt er auf die Tür zu.
Er konnte den traurigen Blick in diesen großen, blauen Augen nicht länger ertragen, die Schuld, die er dabei fühlte.
Und auch das Wissen, dass jede Frau, die ihm jemals etwas bedeutet hatte, ihm denselben Blick zugeworfen hätte.
Etwas in ihm hoffte inständig, dass weder Jane, noch Linnea aus dem Jenseits auf ihn herabschauten, dass sie nicht sehen konnten, was aus ihm geworden war, wie er alle Ideale der Jugend verworfen hatte und nur noch dem folgte, was Andere für ihn bestimmten.
Trotz Allem hinterließ er dem Kellner ein Trinkgeld.
Keya sah diesem Mann verwirrt nach. Sie hatte ihn am Anfang nicht für jemanden gehalten, der Frauen aus ihren eigenen Häusern auf die Straße setzte. Im Gegenteil. Sie hatte ihn sogar als anziehend empfunden. Als freundlich. Zwar hatte sie die Melancholie in seinen Augen gesehen und in seiner Stimme gehört, jedoch hätte sie nie gedacht, dass er so handeln würde.
Hatte seine Melancholie etwa damit zu tun, dass er öfter Menschen Ungerechtigkeiten antat? War er auch so ein unfreundlicher Angestellter auf einem Amt.
Keya stocherte noch immer geistesabwesend in ihrem Salat herum.
"Jetzt haben wir immernoch keinen Namen", sagte sie schließlich an Adastreia gewandt. Ich möchte einfach Antworten haben."
Vielleicht war Keya auch garnicht enttäuscht von dem Mann selbst, sondern von der Tatsache, dass sie diese Frau noch immer nicht ausfindig machen konnte. Oder lag es vielleicht doch daran, dass sie mehr in ihm gesehen hatte...?
Nachdenklich, aber auch ein wenig verärgert schaute Adastreia dem Mann nach, der so hastig gegangen war, seinen Teller noch halb gefüllt hinterlassen hatte. Und das anscheinend nur, weil Keyas Worte ihm unangenehm gewesen ware.
Es ist so schrecklich, wenn Männer kein Rückgrat haben!
Kopfschüttelnd drehte sie den Kopf wieder ihrer Freundin zu.
"Und die werden wir finden, das verspreche ich dir."
Sie gabelte ein Stück Hühnchenfleisch auf und schob es in den Mund, ließ sich dabei Mercers Worte noch einmal genau durch den Kopf gehen.
"Ehefrau", sagte sie nach einem Moment. "Er nannte sie seine Ehefrau."
Adastreia schob ihren Teller beiseite, denn sowohl Appetit als auch Hunger waren verflogen.
Sie war nie eine Frau gewesen, die viel essen konnte.
"Hierzulande ist es Sitte, dass Mann und Frau sich einen Nachnamen teilen, nicht wahr?"
Keyas Kopf schoss in die Höhe. "Ja, du hast Recht!"
Ihre Stimme war so laut, dass die ganze Taverne es gehört haben musste. Als sie das merkte schaute sie sich leicht errötend um.
Niemand beachtete die zwei Frauen jedoch.
"Fredor", sagte sie nun wieder leiser zu Adastreia. "Er hieß Fredor mit Nachnamen."
Sie starrte einen Moment ins Leere. Theodmon hatte also tatsächlich geheiratet. Wie oft hatte er Keya dahingehend unterrichtet, dass die Heirat die oberste Priorität hatte. Es gab für eine Frau nichts Wichtigeres als an einen Mann gebunden zu sein. Ohne einen Mann war sie nicht so viel Wert wie mit ihm. Sie senkte den Blick und versuchte erneut ein Salatblatt. Dieses schmeckte plötzlich nicht mehr ganz so gut, wie es ihr vorher geschmeckt hatte. Ihr kam es sehr zu Gute, dass auch Adastreia ihr Essen anscheinend nicht mehr weiter essen wollte. Denn auch sie hatte es von sich weg geschoben.
"Meinst du wir sollten es für heute gut sein lassen? Ich bin unglaublich müde und schließlich ist morgen auch noch ein Tag. Vielleicht können wir dann irgendwo frühstücken gehen und dann zum Rathaus fahren."
"Natürlich, Keya", erwiderte Adastreia sanft und lächelte. "Es war auch für mich eine anstrengende Reise und ich freue mich darauf, wieder in einem richtigen Bett zu schlafen. Danke, dass ich das in deinem Haus tun kann."
Mit einer Handgeste rief sie den Kellner herbei und bezahlte das Abendessen.
Ein allzu großes Trinkgeld gab sie ihm allerdings nicht. Die Höflichkeit hätte es ihr zwar geboten, doch ihr war bewusst, dass das Geld nicht für die Ewigkeit reichen würde und schneller zur Neige ging, als sie es erwartet hatte. Sie würde Orome rasch finden müssen, wenn sie nicht dazu gezwungen sein wollte, ihren Schmuck und die guten Kleider zu verkaufen.
Sorge über Sorge war es, die sich da in ihrem Kopf stapelte, so vieles, was sie zu bewältigen hatte, so viele Unsicherheiten.
Und trotzdem ... als Adastreia gemeinsam mit Keya aus der Taverne trat, den lauen Abendwind roch und die Straße von den letzten Strahlen der bereits verschwundenen Sonne, sowie dem Licht der nun entzündeten Laternen erhellt sah, fühlte sie eine gewisse Leichtigkeit, die nichts und niemand ihr in diesem Moment nehmen konnte.
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