04: Begegnung am Hafen
04: Begegnung am Hafen
in Sommer 516 11.05.2015 11:33von Glacies Citris • Herzog | 15.151 Beiträge
Es war lange her, dass Ailis zuletzt draußen gewesen war.
Es musste im Winter gewesen sein, als sie mit Leon durch den Schnee gelaufen war. Bevor er gegangen war. Sie verlassen hatte, um eine andere zu heiraten, eine junge und hübsche Adlige.
Ailis hatte nicht geweint, als er es ihr erzählt hatte. Nicht geschrien, nicht geflucht, nicht gefleht.
Sie hatte sich einfach umgedreht und war in den Tiefen der Bibliothek verschwunden, in dem alten, vergessenen Teil, in dem niemand sie finden konnte. Hatte den uralten Seiten ihre Geheimnisse entlockt und war in ihnen versunken, wann immer sie die Zeit dazu gefunden hatte.
Die Tage waren an ihr vorbeigezogen wie Wolken und Wind, sie erinnerte sich selten daran, mit wem sie gesprochen hatte, was man sich in der Akademie erzählte, alles war ihren Sinnen schon entschwunden, ehe es in ihrem Bewusstsein angelangt war. Yua war beinahe immer bei ihr gewesen, hatte den weißen Kopf auf ihrem Schoß abgelegt und vorm Einschlafen ihre Hand geleckt, hatte sie zum Speisesaal gezerrt, wenn sie wieder im Begriff gewesen war, über all die wundervollen Wörter ihre Mahlzeit zu vergessen.
Und dann, eines Tages, an diesem Morgen, um genau zu sein, war sie aufgewacht, hatte die Welt wieder gesehen, gehört. Und einen unbändigen Hunger nach Mandelcremetörtchen verspürt.
So kam es, dass sie nun, nachdem ihre Arbeitszeit geendet hatte und die Bibliothek geschlossen worden war, unter der Spätnachmittagssonne durch das Hafenviertel lief, zielgerichtet zu dem einen Konditor mit dem köstlichsten Gebäck der Welt. Sie spürte die Wärme des Sommertages auf ihrer hellen Haut, atmete die Meeresbrise ein und fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder lebendig.
Vorsichtig war Selail Zwischen die Schiffe gelitten, hatte sich unbemerkt an Land gezogen und gewartet, bis sich kribbelnd, kitzelnd seine Beine gebildet hatten, er den Wind direkt auf der Haut spüren konnte zusammen mit der Hitze der Sonne.
Der Selkie streifte sich rasch die Kleidung über, die er am Vorabend hier versteckt hatte, er fand sie unnötig, vor allem die Schuhe, unter Wasser brauchte man das nicht aber die Menschen und Elfen würden sicher ihre Gründe dafür haben. Seufzend stand Selail auf, das Haar noch nass und die leichte, offene Weste tränkend mit Meereswasser.
Der Hafen Brightgales begrüßte ihn mit tausenden neuer Gerüche, mit rumorendem Lärm und bunten Farben. Neugier trieb den Selkie voran, auch wenn er durch seine Größe, seine feinen, verschlungenen male im Gesicht und der Abwesenheit von Schuhen auffiel, so blieb es nur bei einem zweiten Blick.
Selail hatte sich fest vorgenommen, bei betreten der Stadt sich an deren Gesetze zu halten.
Schweigend stand Ailis vor dem Gebäude, welches immer schon die Konditorei beherbergt hatte, und versuchte, zu verstehen. Oder besser gesagt, nicht zu verstehen, die Wahrheit zu leugnen und durch eine andere, gefälligere zu ersetzen, obwohl recht eindeutig war, was hier geschehen sein musste.
Im Dach des Hauses fehlten mehrere der gelben Ziegel und die verbleibenden hatten keinen warmen, freundlichen, sondern eher einen schmutzigen Farbton, schienen seit langem nicht mehr gesäubert worden zu sein.
Über Fenster und Türen waren Bretter genagelt und was von dem alten Holz noch zu sehen war, schien morsch zu sein.
Ailis war auf dem Weg hierher schon an vielen Häusern in ähnlichem Zustand vorbeigelaufen, vermutlich alles solche, die im Sturm vor drei Jahreszeiten beschädigt worden und noch nicht repariert worden waren. Aber das ausgerechnet diese Konditorei ebenfalls betroffen war, damit hatte sie nicht gerechnet.
Betrübt wandte die junge, rothaarige Frau sich schließlich ab. Es hatte keinen Sinn, hier stehen zu bleiben, es würde weder das Geschäft, noch ihr heißgeliebtes Gebäck zurückbringen.
Mit gesenktem Blick schlich Ailis wieder in Richtung der Hauptstraße, wusste nicht, ob sie nach einer zweitklassigen Alternative suchen oder sich lieber wieder in ihren Büchern verkriechen sollte.
So ganz in ihre Gedanken versunken, wie sie es nun einmal oft zu tun pflegte, bemerkte sie nicht, was um sie herum vor sich ging und so grenzte es fast schon an ein Wunder, dass sie so spät erst in eine Person hineinlief. Im einen Moment dachte Ailis noch darüber nach, wo sie ein Süßigkeitengeschäft finden könnte, im nächsten sah sie ein Paar bloßer, brauner Füße und spürte, wie sie gegen etwas prallte, wäre beinahe der Länge nach hingefallen. Während sie noch taumelnd ihr Gleichgewicht wiederfand, schaute sie auf und blickte in ein paar blauer Augen, die hell aus dem sonnengeküssten Gesicht des großen Mannes hervorstachen.
Sie war so verwirrt, dass sie gar nicht wusste, was sie sagen sollte.
Selail taumelte kurz, fing sich und streckte die Hand aus, bekam einen schmalen Arm zu fassen und hielt den Besitzer dieses Arms aufrecht. Ein weltfremder, eindeutig verwirrter Blick geisterte seine Beine empor, bis sie bei seinen Augen zum Stehen blieb.
Wie von ganz allein verzogen sich seine Lippen zu einem freundlichen Lächeln, zeigten stumpfe, weiße Zähne, so anders als in seiner natürlichen Form.
"Hallo."
"Oh ... hallo", brachte Ailis hervor und warf einen kurzen, irritierten Blick auf ihren Arm, der gemeinsam mit ihrem gesamten Gewicht von einer kräftigen Hand gestützt wurde, ehe sie wieder in das Gesicht des Fremden schaute.
Er lächelte, also tat sie es ihm gleich und dabei wurde ihr auch gleich wieder bewusst, was sie in so einer Situation zu sagen hatte:
"Entschuldige. Ich war unvorsichtig."
Ihr Blick war jedoch weitaus weniger bescheiden und demütig, als anmessen gewesen wäre, Neugierde schimmerte in Ailis’ Augen, denn Zeichnungen wie die auf den Wangen des Mannes hatte sie noch nie an einem Menschen gesehen.
Nur in der Illustration eines Buches hatte sie schon einmal etwas Ähnliches gesehen ...
"Bist du ein Seemagier?"
Sie hielt inne und verbesserte sich schnell:
"Ihr? Seid Ihr ein Seemagier?"
"Ein... Seemagier?", Selail legte den Kopf schief, wiederholte ihre Worte vorsichtig, fragend. Was war denn das? "Ich... Verstehe nicht ganz... Deine Sprache. "
Ganz falsch war das nicht mal. Viele Sprichwörter der Menschen und Elfen bereiteten den Selkies Probleme, zu dem waren sie in ihrer natürlichen Form nicht mal in der Lage für Menschen verständliche Worte zu bilden.
"Meine Sprache?"
Er kam wohl nicht von hier, aber das stärkte Ailis’ Verdacht nur.
"Ein Seemagier", widerholte sie und setzte zu einer Erklärung an. "Sie sind mächtige Zauberer und können die See kontrollieren. Stürme heraufbeschwören oder Strudel. Oder das Meer besänftigen.
So in etwa."
Demonstrativ streckte sie ihre Hand aus und machte eine Geste, als wolle sie eine Kugel bilden, hielt dann wieder inne.
"Also, ich kann es nicht, ich habe das Zaubern nie gelernt.
Aber sie können es!
Ich habe einmal einen in einem Buch gesehen, der so geschminkt war, wie du."
Sie zog über ihre eigenen Wangen ein unsichtbares Muster nach.
"Ah." Selail lachte und schüttelte den Kopf. Nein, das Meer zähmen konnten nur die ältesten Selkies, nicht einmal sein Vater hatte das vermocht. "Kann ich nicht. Leider."
"Oh."
Ailis schaute ihr Gegenüber enttäuscht an. Es gab so wenig, was sie über die Seemagier wusste, da wäre es wirklich interessant gewesen, einmal einen zu treffen und ihn auszufragen.
"Das ist schade."
Andererseits ...
Sie stieß ein leises, unbeschwertes Lachen aus.
"Es wäre auch unklug von einem Seemagier, hier unverhüllt herumzulaufen. Schließlich mögen die Schiffsleute sie nicht besonders."
Es gab viele Geschichten von Fischern, Matrosen und Kapitänen, die einem Seemagier Unrecht taten und dafür büßen mussten. Und auch solche, die von bösen Zauberern handelten, welche absichtlich die See aufwühlten.
"Was sind das denn für Zeichnungen?"
"Richtig." Selail merkte wie sein Blick kurz dunkel wurde, er dachte daran wie die Seeleute auf sein Volk reagierten. Viele jagten sie wegen ihrer Pelze. Andere weil sie einfach nur abergläubisch waren. Verfluchte Erlen. "Das sind Zeichen meines Clans."
"Ach so."
Fasziniert betrachtete Ailis das Muster. Es schien mit extremer Genauigkeit gezogen worden zu sein, fast schon so, als wäre es von magischer Hand gezogen worden.
Sie hätte es gern noch länger betrachtet, aber ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie gerade einen fremden Mann einfach so anstarrte und senkte errötend den Kopf.
"Woher kommst du denn?", nuschelte sie verlegen.
Irgendwann hatte Selail bemerkt dass er sie noch immer am Arm fest hielt, ließ sacht los. Menschen hatten manchmal ein Problem mit einfach berühren.
Er strich sich abwesend über die rechte Wange, fühlte nur Haut. Die Farbe verschmierte nicht, immerhin war sie in den unteren Schichten eingearbeitet.
"Woher ich komme... ", er machte eine ausladende Geste in Richtung des Meeres. "Von dort?"
Ailis folgte dem Fingerzeig mit den Augen und nickte verstehend, bemerkte kaum, dass der Mann sie losgelassen hatte.
"Ah, aus dem Süden.
Deswegen bist du so braun."
Sie lächelte sacht.
"Mein Vater ist auch immer über dieses Meer gereist."
"Nah." Selail schüttelte den Kopf und wiederholte die Geste. "Nicht hinter dem Meer."
"Huh?"
Ailis runzelte die Stirn.
"Aus dem Meer? Bist du auf einem Schiff geboren?"
Sie fasste den Mann noch einmal genauer ins Auge, konnte aber weder Augenklappen und Holzbeine, noch Fischschuppen und Schwimmhäute entdecken.
Kein Pirat und kein Meermann ...
Nachdenklich kratzte Selail über sein Kinn und zuckte dann mit den Schultern. Dieses Missverständnis würde sich bestimmt irgendwann klären. Ganz bestimmt...
Ailis legte den Kopf schief und schaute den Mann fragend an, doch er schien ihr nicht antworten zu wollen.
Oder zu können, vielleicht verstand er sie wirklich so schlecht.
"Hmm, du bist noch nicht lange hier, oder?
Du weißt bestimmt nicht, wo ich Törtchen kaufen kann ..."
"Kuchen?" Selail schüttelte den Kopf. Er hatte noch nie Kuchen gegessen. Denn immerhin löste sich unter Wasser die Süßigkeit in alle Bestandteile auf. "Nein. Noch nie..."
"Was?"
Ailis traute ihren Ohren kaum, schaute den Fremden aus großen Augen an.
"Du hast noch nie in deinem Leben Kuchen gegessen?"
Sie überlegte kurz, dann griff sie den Mann am Arm und warf ihm einen auffordernden Blick zu.
"Komm mit. Wir suchen zusammen eine Konditorei, damit du ihn probieren kannst."
"Äh..."
Selail lachte auf und lief dann einfach hinter der jungen Frau her. Dann würde er jetzt wohl Kuchen probieren. Viele Heimkehrer seines Clans hatten von der Speise geschwärmt.
Unterwegs erklärte Ailis ihm, was geschehen war.
Dass sie eigentlich hatte Mandelcremetörtchen kaufen wollen, dass aber die Konditorei nicht mehr existierte.
Nicht ohne Wehmut, denn schließlich war es ihre liebste Speise.
Und so gelangten sie schließlich ins Händlerviertel, wo es neben allerlei anderen Geschäften für Luxusgüter sicher auch einige Konditoreien und Süßwarenläden gab.
Vor der ersten, an der sie vorbeikam blieb sie stehen und obwohl sie keine Mandelcremetörtchen entdecken konnte, sorgte die Auswahl, die sie sah, schon dafür, dass ihr das Wasser im Munde zusammenlief.
Windbeutel gab es da, Apfel- und Streuselkuchen, Sahnetorten und Marzipangebäck, sowie kleine Plätzchen in unterschiedlichsten Formen und Farben. Am meisten aber sprach sie ein Kuchen an, der unten aus hellem Teig bestand und oben aus wundervollen roten Erdbeeren ...
Mit schief gelegtem Kopf und leicht skeptisch musterte Selail die aufgestapelten Teigwaren. Dennoch leckte er sich die Lippen, denn so süß und klebrig es aussah, es duftete!
"Welches möchtest du?", fragte Ailis mit leuchtenden Augen.
Sie hatte sich schon entschieden, obwohl alles so gut aussah, dass sie in Versuchung geriet, die gesamte Theke leer zu kaufen.
Erdbeeren waren nun einmal die göttlichsten aller Früchte.
"Hm...das hier?" Selail deutete auf ein kleines Törtchen, aus fluffigem Schokoladenteig und weißem Zuckerguss. Dann jedoch fuhr er zurück. "Aber ich habe kein Geld bei mir."
Ailis nickte lächelnd.
"Ich habe Geld."
Wenn man sich über mehrere Monate hinweg nichts gönnte, sammelte sich einiges an. Vermögend genug, um Prinzessin auf einem Schloss zu werden, war Ailis nun sicher nicht, aber im Augenblick klang Kuchen ohnehin verlockender. Außerdem konnte es nicht angehen, dass es einen Menschen auf der Welt gab, der diesen Geschmack nicht kannte.
"Ich bin gleich zurück."
Mit diesen Worten betrat sie den Laden und kehrte wenige Momente später mit zwei Teilchen zurück, reichte das Schokoladige ihrem Begleiter, dessen Namen sie immer noch nicht kannte.
"Wir hatten Glück. Sie wollten gerade schon schließen."
Selail hatte mit schief gelegtem Kopf gewartet, nahm dann den Kuchen entgegen, etwas unsicher was nun folgen sollte. Dann jedoch kostete er von dem Zuckerguss und dem Kuchen und man sah die Sonne in seinem Gesicht auf gehen.
"Lecker! ", vielleicht nicht der intelligenteste Ausruf, aber die Geschmacksexplosion auf seiner Zunge ließ nichts anderes vorbei.
"Nicht wahr???", antwortete Ailis begeistert.
Sie biss ein winziges Stück von einer der Erdbeeren ab und verdrehte vor Genuss die Augen, seufzte wohlig.
Wie lange war es wohl her, dass sie etwas so köstliches gegessen hatte?
Sie wusste es nicht genau, nur, dass es zu lange war.
"Hmmm~"
Selail leckte sich die letzten Krümel von den Fingern, kaum dass er sein Törtchen verspeist hatte. Der Selkie hatte wirklich noch nie so etwas Köstliches Probiert, auch wenn es etwas schwer zum Schlucken war.
"Gibt es so etwas da, wo du herkommst, nicht?", fragte Ailis, nachdem sie den Rest ihres Törtchens verputzt hatte und sich nur noch traurig die Reste roten Saftes von den Fingern saugen konnte.
Es musste ein trauriges Land sein, ohne Kuchen.
Das einzig Schlimmere wäre ein Land ohne Bücher.
"Es würde sich einfach auflösen." Selail legte den Kopf schief und versuchte die Gedanken in seinem Kopf auch über seine Zunge hinweg in das Ohr der jungen Frau zu bringen. "Einfach..."
Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
"...weg?"
Mitleidig schaute Ailis den Mann an und legte ihm eine Hand auf den kräftigen Arm.
"Es muss traurig dort sein. Sei froh, dass du jetzt hier bist."
Ihre Augen glitten gen Himmel und ihr wurde bewusst, dass es nicht mehr allzu früh war und sie noch einige Bücher für den nächsten Tag zurecht zu legen hatte.
Also ließ sie die Hand sinken und schenkte ihrem neugewonnenen Kuchenfreund ein kurzes, entschuldigendes Lächeln.
"Ich muss gehen."
Dann, schüchterner, zögerlicher, fügte sie hinzu:
"Ich bin Ailis.
Lass uns irgendwann wieder zusammen Kuchen essen, ja?"
Und mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand eilig, mit leicht geröteten Wangen in Richtung der Akademie.
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