05: Aus dem Meer
In dieser Nacht träumte Ailis von Robben, die sich auf einer Sandbank tummelten.
Tausende dieser Meerestiere mit dem dünnen Fell und schwarzen Hundeaugen, die mit singendem Pfeifen oder tiefen Dröhnen sprachen.
Und während die junge Frau zwischen den wundersamen Wesen umherging, entdeckte sie eine männliche Robbe, deren gräuliches Fell von kobaltblauen Mustern übersäht war. Deren spitze Zähne nicht im Mindesten gefährlich wirkten, weil die Schnauze sich zu einem warmen Lächeln zu verziehen schien ...
Lange hatte Ailis nachgedacht, über die Begegnung am vergangenen Tag, über den Mann mit der seltsamen Gesichtszeichnung, über seine sonderbaren Worte und Gesten, die Antwort auf die Frage nach seiner Herkunft gewesen war.
Vielleicht lag es nur daran, dass sie schon so lange mit keinem Menschen mehr lange und ausgiebig gesprochen oder gemeinsam Kuchen verzehrt hatte, doch sie war neugierig. Sie wollte ihn wiedersehen, wollte mehr über ihn erfahren.
Und so kam es, dass Ailis an diesem Tag früher als gewöhnlich ihren Arbeitsposten verlassen hatte - die Bibliothek schloss an diesem Wochentag offiziell früher ihre Türe - und sich mit einem Korb in der Hand ins Händlerviertel begeben, danach in den Hafenbereich. Es war ein sonniger, warmer Tag, doch nicht zu heiß, denn eine stetige Brise wehte und kühlte die helle Haut der Bibliothekarin. Eine Weile irrte sie so umher, doch sie fand nicht, was sie suchte.
Keinen hochgewachsenen Mann mit brauner Haut, blauer Bemalung und langem, dunklen Haar. Nur die Träger, welche Schiffe beluden, und einige Matrosen, die ihr unangenehme Blicke zuwarfen. Vielleicht hätte sie nach dem Mann, den sie suchte gefragt, aber irgendwie erschien ihr das seltsam, kannte sie ja nicht einmal seinen Namen.
Sie zog in Erwägung, an genau der Stelle zu warten, an der sie ihm gestern begegnet war, aber dafür war ihr das Hafenviertel zu unruhig, zu laut.
Doch einfach aufgeben wollte sie gleichermaßen nicht. Also folgte sie einer spontanen Eingebung.
Ailis’ spontane Eingebung hatte sie an einen weit angenehmeren Ort geführt. Hier, am Kiesstrand unweit der Stadt gaben rauschende Wellen das lauteste Geräusch von sich und selbst sie klangen eher beruhigend als aufbrausend. Der Duft vom salzigen Wasser wurde nicht durch den des Unrats der Stadt getrübt, das Meer wirkte blauer, das Sonnenlicht freundlicher.
Hier lief sie weiter am Meer entlang, auf der Suche nach dem Fremden, der anscheinend von dort kam.
Mit der Flut ließ Selail sich an den Kieselstrand spülen, träge mit dem kräftigen Schweif. Gähnend rollte der Selkie sich auf dem Bett aus nassen Kieseln herum, starrte in den Himmel, während sich langsam, kribbelnd das dünne Fell sich zurück zog, braune Haut und blaue Zeichnungen offenbarte. Seine Beine fühlten sich erst taub an, dann jedoch schoss das Blut durch seine Adern, Fleisch wurde warm und Muskeln schrien nach Bewegung.
Ailis war nun schon eine Weile über den Strand gewandert, begegnete immer weniger Menschen, je weiter sie sich von Brightgale entfernte. Irgendwann sah sie niemanden mehr, ging alleine.
Enttäuschung kroch bereits in ihren Kopf, wollte sie zur Umkehr bewegen.
Und dann erblickte sie ihn.
Zuerst begriff sie nicht, dass er es war, sah nur eine dunkle Gestalt aus der langsam eine hellere wurde. Doch als diese sich dann aufrichtete, erkannte sie ihn. Langes, dunkles Haar, braune Haut, die sich über ausgeprägte Muskeln zog, das unverkennbare Muster.
Doch das war nicht das einzige, was Ailis sah. Sie sah noch einiges mehr. Sie sah alles, um genau zu sein. Das beinhaltete auch die Bereiche des männlichen Körpers, die eigentlich nicht nur für die Augen einer Gemahlin oder Geliebten bestimmt waren. Und obwohl Ailis das bewusst war und es ihr das Blut in die Wangen trieb, konnte sie nicht anders, als weiter zu starren.
Selail erhob sich langsam, mit Steifen Gliedern und streckte sich, rollte die Schulter, neigte den Kopf zu beiden Seiten.
Dabei bemerkte er, dass er nicht so allein war wie gedacht. Das die junge Frau - Ailis - ihn anstarrte. Etwas zog sich schmerzhaft in seinen Gedärmen zusammen, er wandte sich ihr ganz zu, doch trat nicht näher.
Blinzelnd schaute Ailis auf, direkt in seine Augen.
Dann brach sie - mit noch immer hochroten Wangen - das Schweigen.
"Uh ... ich ..."
Sie hob den Korb, welchen sie fest in ihren Händen hielt, leicht an.
"Ich habe Kuchen mitgebracht ..."
Die Stille war... erdrückend. Selail war hin und her gerissen. Flucht? Bleiben? Kuchen war verlockend aber ...
Ails senkte den Kopf, begutachtete verschämt Steine und Muscheln unter ihren Füßen.
"E-es tut mir leid", stammelte sie. "Ich wollte nicht hinschauen ... wirklich nicht."
"Warte." Selail huschte zu einem Versteck am Strand, wo sein CLan ein kleines Lager mit Kleidung hortete. Der Strand war immer einsam und ein gutes Ziel, wenn man unerfahren war, doch manche - darunter auch er - gingen direkt im Hafen an Land. Wagemutig und manchmal dumm. Der Selkie schlüpfte in eine weite, dunkelblaue Hose und trat dann wieder näher.
"So."
"Ah."
Ailis schaute wieder auf und stellte erleichtert fest, dass zumindest die pikantesten Bereiche des Mannes wieder in Stoff gehüllt waren.
Nun lächelte sie.
"Hast du Hunger?"
Sie musste ihn auch noch auf das Gesehene ansprechen, fiel ihr ein. Auf die Verwandlung, nicht das andere.
"Ja." Selail ließ sich auf dem trockenen Teil des Strandes nieder, sah mit schiefgelegten Kopf zu der jungen Frau auf. Noch immer wirkte er leicht nervös, bereit jederzeit wieder blitzartig in den Wellen zu verschwinden.
Sacht nickte Ailis.
"Gut."
Sie griff in ihren Korb und zog eine Decke daraus hervor, welche sie auf dem Ausbreitete, an einer Stelle, zu der die Wellen nicht gelangen würden. Dann erst holte sie das hervor, was sie heute beim Konditor gekauft hatte, unterschiedliche kleine Gebäckstücke waren es heute, mal mit Obst, mal mit Marzipan, mal mit Schokolade.
Diese stellte sie auf einem Teller vorsichtig auf der Decke ab.
"Ich dachte, dass du bestimmt mehr probieren möchtest."
"Oh...danke." Selail berührte keinen der Kuchen, er konnte nicht. Insgeheim bereitete er sich auf ein Bombardement an Fragen vor. "Du...äh...hast sicher Fragen?"
"Ja."
Mit einem Mal begannen Ailis’ Augen zu leuchten.
"Ja! Einige sogar!"
Sie machte eine Handgeste und deutete in Richtung des Ozeans.
"Kommst du wirklich aus dem Meer?"
"Ja." Selail griff nun doch nach einem Törtchen, es war weich und weiß und mit kandierten Früchten belegt. Die weiße, klebrige Substanz schmeckte säuerlich, mischte sich mit knusprigem Keksboden. Quark. Erinnerte Selail sich. Das war Quark und wurde aus Milch gewonnen.
Ailis nahm sich auch ein Teilchen.
Eins mit Nusscreme. Nicht annähernd so gut wie Mandelcreme, aber doch ein Trost.
"Wie kannst du dort leben?
Du bist kein Meermann, oder?"
"Ja, ich lebe dort. Mit meinem Clan." Selail leckte seine Finger von dem klebrigen Törtchen sauber. Es schmeckte gut, säuerlich und süß. Interessante Mischung. "Ich - wir - können dort leben, weil wir eine Form annehmen, haben, die ideal in unseren Lebensraum passt."
Ailis nickte eifrig.
"Ja, ich habe gesehen, dass du eine andere Gestalt hattest."
Sie legte den Kopf schief.
"Aber ... wer genau seid ihr?
Keine Fischmenschen, nicht wahr?"
"Selkies." Selail blickte von dem Kuchen auf, den er mit den Fingern zerpflückte. Klebrige, gelbliche Paste - Vanillepudding - quoll aus dem süßen Teig. "Wir nennen uns Selkies. Ähneln Robben. Kennst du das alte Märchen 'Die Maid des Selkies'? Das ist eine uralte Ballade, darum geht es eigentlich um meine Art."
Ailis schob sich den letzten Rest ihres Törtchens in den Mund und musste sich zusammenreißen, um nicht aufgeregt zu quietschen.
"Ja, natürlich kenne ich das!
Man findet es in jedem Buch mit Märchen und Balladen!"
"'Ah... das ist gut zu wissen." Etwas beruhigt ließ Selail sich sein zerrupftes Törtchen schmecken, leckte sich die Lippen und lachte dran auf. "Und es ist noch besser, dass du nicht schreiend davon läufst."
Ailis runzelte die Stirn.
"Warum sollte ich schreiend wegrennen?
Ihr Selkies seid doch ein friedliches Volk, nicht wahr?"
Sie musterte den Mann neugierig.
Unfreundlich wirkte er jedenfalls nicht. Im Gegenteil, sein Lächeln war so warm wie dieser Sommertag und seine Augen sanft wie ein ruhiger See.
"Ja. Es sei denn unsere Familien werden bedroht." Selail warf ein Stück Kuchen auf das Meer hinaus, noch im Flug sprang eine Gestalt aus den Fluten, packte den Kuchen und war wieder zwischen den Wellen verschwunden. "Und das war meine Schwester."
"Oh."
Ailis schaute gebannt auf die Stelle, an der das Geschöpf untergetaucht war, konnte es jedoch nicht wieder entdecken.
Also wandte sie sich wieder dem Selkie zu, der neben ihr auf der Decke saß.
"Ich werde sie nicht bedrohen."
Außerdem war ihre Neugier noch lange nicht gestillt.
"Bist du auch für deine Braut an Land gekommen?"
Sie musterte ihn nachdenklich und fügte dann besorgt hinzu:
"Ich hoffe, dass du deine Haut gut versteckt hast!"
Selail lachte herzhaft und schüttelte den Kopf.
"Ich bin an Land gekommen um eine Braut für mich zu suchen.", erklärte er mit einem Lächeln. "Und um zu lernen, wie die meisten Selkies. Und das mit der Haut, das ist nur ein Märchen. Kein Selkie kann seine Haut ablegen. Ich kann nur sterben, wenn ich zu lange an Land bleibe."
Ailis legte den Kopf schief.
"Hast du denn keine Angst? Dass du die Zeit vergisst oder aufgehalten wirst?"
Sie war selbst so zerstreut und vergesslich, dass sie es kaum schaffte, regelmäßig zu essen.
Wie schwierig es sein musste, immer die Zeit im Blick zu haben.
"Nein, das ist ein Instinkt der Selkies. Wir merken es wenn es Zeit wird." Das war ein Gefühl wie Vertrocknen, das langsame Verdursten. Selail Sah zur Sonne empor und leckte sich die Lippen. "Du magst Fabelwesen?"
"Ja, sehr sogar", antwortete Ailis strahlend. "Ich liebe es, über sie zu lesen! Diese Geschichten aus der ganzen Welt!"
Sie lächelte, schnappte sich ein weiteres Törtchen, diesmal eins mit Marzipan.
"Glaubst du, du wirst bald eine finden?
Eine Braut?"
"Bestimmt?", von der Frage überrumpelt ließ Selail beinahe sein Törtchen fallen, verdrückte den süßen Teig als er unwillkürlich fester Zugriff.
Ailis nickte, bemerkte die Verlegenheit ihres Gegenübers gar nicht.
"Das glaube ich auch."
Sie schwieg eine Weile, genoss stumm den süßen Geschmack weichen Teigs und klebriger Masse.
Dann schaute sie fragend zu dem Selkie auf.
"Wird sie mit dir ins Meer kommen?
Wie in der Ballade?"
"Nein. Das ist nur der Wunschtraum des Schreibers gewesen." Selail wurde ein wenig traurig. "Selkies brauchen andere Rassen, doch keine kann im Wasser existieren und der Selkie nicht außerhalb der Fluten. Es wird immer ein wenig zweigeteilt sein."
"Ach, so ist das ..."
Bedrückt senkte Ailis den Kopf.
"Das ist traurig."
Ihr Blick wanderte gen Meer und sie fragte sich, wie viele Selkies dort wohl lebten und auf die Stunde warteten, da sie ihre menschlichen Geliebten wiedersehen konnten.
"Aber auch romantisch."
"Vermutlich." Selail zuckte mit den Schultern und rieb sich über die blau gemusterte Wange.
Mit einem Mal bereute Ailis ihre Worte.
"Es tut mir Leid", murmelte sie und fuhr sich unruhig durchs Haar. "Es ist nichts Romantisches dabei, von denen getrennt zu sein, die man liebt. Nur Schreckliches."
Wenn sie gingen blieb die Einsamkeit.
Ob es nun Freunde waren oder Familie oder Liebesgefährten.
"Nun...Immerhin können wir aus dem Meer...", murmelte der Selkie leise, driftete in Gedanken weit, weit fort. Zu seiner Mutter und dem dahinschwinden seines Vaters.
"Das stimmt."
Ailis betrachtete den Mann nachdenklich, unsicher, was sie ihm nun sagen sollte.
Schließlich entschied sie sich dazu, ihm ein kleines Erdbeertörtchen hinzuschieben und zu sagen:
"Du solltest eine Frau suchen, die schwimmen kann. Dann könnt ihr euch mehr sehen."
Sie lächelte sanft.
"Wie heißt du eigentlich?"
"Selail", erwiderte der Selkie beinahe automatisch, schnappte dann aus seiner Trance und sah Ailis verwundert an. "Es wäre sowieso egal, ob meine Braut schwimmen könnte oder nicht. Ich könnte mich nicht mal mit ihr austauschen."
"Austauschen?"
Verwunderung schimmerte in Ailis’ Augen.
"Wie meinst du das?"
"Ich würde ihre Worte nicht verstehen, ihre Gesten nicht deuten können", erklärte der Selkie leise. "Und sie würde statt meiner Worte nur das Geräusch von Robben vernehmen."
"Aber ..."
Ailis zögerte, bevor sie fragte:
"Könntet ihr nicht lernen, euch zu verstehen? Auch ohne Worte?"
In den Geschichten, die sie gelesen hatte, war so oft die Rede davon, dass Liebende sich auch ohne Worte verstehen konnten. War das auch nur so eine romantische Übertreibung, eine süße Lüge, um die bittere Wahrheit zu verstecken?
"Vielleicht. Aber letztendlich ändert es nichts daran, dass sterbliche Rassen nicht unter Wasser Leben können." Selail sagte das ohne die Spur von Arroganz, stattdessen schwang in seiner Stimme stumme Bewunderung für die 'sterblichen Rassen ' mit.
"Ja, das ist wahr."
Ailis seufzte.
"Wir sind an die Erde gebunden."
Sie zog die Knie an und stützte den Kopf darauf ab, nahm eine Muschel zwischen Finger und betrachtete ihren matten Schimmer. Es gab kaum Wesen, welche das Glück hatten, sowohl an Land als auch im Wasser zu leben.
"Wie ist das Leben im Meer?"
"Anders. Ich würde beinahe ruhiger sagen und dann wieder nicht ...", Selail leckte sich die Lippen und nahm seine Hände zur Hilfe, versuchte mit Worten und Gesten seine Unterwasserwelt zu beschreiben. "Es ist anders als das Leben an Land, es gibt keine Städte nur Höhlen und Schiffswracks in denen wir aber ebenso königlich hausen wie der Herzog in seinem schloss."
"Das klingt schön", meinte Ailis träumerisch. Sie stellte sich vor, wie es sein musste, in korallenbewachsenen Höhlen zu leben oder in den Überresten alter Galeeren. Schwerelos im Wasser zu treiben.
"Erzählt ihr euch Geschichten über die Menschen wie wir über euch Selkies?
Bücher habt ihr bestimmt nicht ..."
"Nein, Bücher haben wir wirklich keine." Selail lachte herzhaft auf und seufzte dann. "Wenn wir etwas festhalten wollen, dann ritzen wir es mit unseren Krallen in die Planken der Schiffe. Erinnerungshorte, nennen wir es dann. Es ist...fantastisch."
"Das glaube ich."
Ailis lachte leise, vergnügt und wehmütig zugleich.
"Ich würde gerne einmal so einen Erinnerungsort sehen.
Aber ich kann nicht einmal schwimmen ..."
"Schwimmen kann ich dir beibringen! ", begeistert sprang Selail auf, wandte sich Ailis zu und hielt ihr wie ein Edelmann die Hand hin um ihr beim Aufstehen zu helfen.
"Wirklich?"
Ailis ergriff zögerlich die dargebotene Hand, lächelte dann aber und zog sich mit strahlenden Augen an Selail hoch.
"Ich wollte es schon immer lernen!"
Und so verbrachte sie den Rest des Tages mit ihrer ersten Schwimmstunde, welche im Großen und Ganzen darin bestand, zu lernen, sich nicht von den Wellen erschrecken zu lassen, zuzulassen, dass das Wasser in seiner Unberechenbarkeit erst Füße, dann Wade umspülte.
Höher als das Knie kamen sie an diesem Tag nicht und dennoch fühlte Ailis sich zufrieden und ausgeglichen, als sie am Abend zurück zur Akademie kehrte.
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