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09. Neuer Tag, neues Problem

in Herbst 516 05.09.2015 21:32
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

Unter zerknitterten, tränennassen Bettlaken rollte Indivia sich zusammen, wimmerte leise. Hitner geschlossenen Augen blühten Alpträume auf, immer und immer und immer wieder. Er wimmerte wieder, schluchzte bitterlich auf und stopfte sich die Hand in den Mund um den Laut zu ersticken.
Ich habe Angst, Angst...
Wo bin ich hier?

Aus dumpfen Augen sah er sich um, zog dann doch das Laken über den Kopf. Er ertrug den Anblick eines fremden Zimmers in einem fremden Haus nicht. Warum konnte er nicht einfach in seinem Zelt liegen, bei seinen Schwestern.

Arie hatte nicht gut geschlafen. Hungrig zu Bett zu gehen war für niemanden angenehm, ob man nun Mensch oder Succubus war. Zudem war sie immer wieder wachgeworden, weil irgendetwas in ihr furchtsam geworden war, sie vor dem Nahen des Schattendämons gewarnt hatte - doch er hatte sich ihrem Haus nie genähert.
Nun, da der Morgen begonnen hatte, sah sie wenig Sinn darin, weiter im Bett zu liegen, wenn die Strahlen der frühen Sonne und die Geräusche der erwachenden Stadt sie ohnehin wach hielten. Also stand sie auf, warf sich einen weiten, cremefarbenen Morgenmantel über die nackte, braune Haut und wanderte durch das noch stille Haus hinunter in die Küche. Sie war zu müde, um Dingen wie dem leisen Gehen oder dem Schließen der Türen hinter sich viel Beachtung zu schenken - alles, was sie in diesem Moment interessierte, war der muntermachende Tee. Und erst als das Wasser für diesen im Kessel auf dem Herd siedete, entsann sie sich, dass ihr Gast sie ja nur als Mann kannte.
Ihr war wenig danach, aber ehe sie sich in Ungereimtheiten verstricken konnte, wollte sie lieber ihre männliche Form annehmen, was sie auch sogleich tat.

"ARIE!" Lautstark sprang Morinth aus seiner Ecke, schlang die Arme um den Nacken des Succubus und riss sie fast um, war sein hagerer Leib doch schwerer als vermutet. Er grinste sie breit an, die vollkommen schwarzen Augen blitzend. "Ich weiß wo unser Gast heimisch ist."

Laut ächzte Arie auf, als sie so plötzlich angesprungen wurde, unterbrach ihre Verwandlung vor Schreck. "Loslassen", japste sie leise, weil sie das Gefühl hatte, dass ihr der Atem abgeschnürt wurde. Als sie sich endlich einigermaßen von Morinths Klammergriff befreit hatte - gänzlich war das nicht möglich - fragte sie besorgt:
"Was hast du getrieben, Mori? Du hast nichts angestellt, oder?"

"Es war ganz leicht." Morinth sah mit weit aufgerissenen Augen in Aries Gesicht, er roch nach einer Blumenwiese im Frühjahr, während die ranken wilden Weins in seinem Haar zu blühen begannen, süße, saftige Früchte trugen. Die tiefschwarzen Augen wirkten klar und gleichzeitig verschleiert. "Ein riesiges Anwesen und viel Kummer und Sorgen und Dunkelheit "
Der Erl sprang abrupt zurück und kicherte manisch, wirbelte atemberaubend schnell um die eigene Achse.
"Man nennt ihn Indivia und er würde verjagt, verstoßen und vermisst~"

"Sag mir nicht, dass du dem Schattentänzer gefolgt bist", stöhnte Arie. Kopfschüttelnd schob sie den Erlen ein wenig von sich und schaute in die schwarzen Kugeln, die seine Augen darstellten. "Hat er einen Meister, von dem er geschickt wurde? Hat unser Gast... Indivia sich Feinde gemacht?"

"Ich weiß nicht." Verlegen spielte Morinth mit einer Weinranke in seinem Haar, sah auf die saftigen Blätter herab und drehte sie leicht zwischen den Fingern. "Ich wollte reingehen, aber dann hatte ich Hunger..."

Von gedämpften Stimmen geweckt, aufgescheucht, erhob Indivia sich, schlich aus dem unbekannten Zimmer, den ungekannten Flur entlang in eine unbekannte Richtung. Fremdartig, anders. Er fühlte sich von dem heimischen, gemütlichen Haus beengt, von der Wärme und der Wonne erdrückt, war er doch die kalten, edlen Hallen von Ell- Lord Elliot Ashsteels Anwesen gewohnt.
Indivia sah durch den Spalt einer angelehnten Tür, sah die hochgewachsene, rothaarige Gestalt des Mannes - waren das Hörner?! - der ihn hier her getragen hatte. Und eine Frau, so ähnlich seinem anderen Retter, dass sie vermutlich die Schwester war.

Das erleichterte Arie nun doch ein wenig. Wer wusste schon, was sonst passiert wäre? Die Neugierde des Erlen schien manchmal stärker als jeder Überlebenstrieb zu sein. "Sprich das nächste Mal mit mir, bevor du so etwas machst", antwortete sie und stupste mit einem Lächeln seine Nase an. "Ich will nicht, dass dir aus Unvorsicht etwas passiert."
Der Wasserkessel begann zu zischen und Arie nahm diese Gelegenheit, sich dem Griff des Erlen endgültig zu entwinden und den Tee aufzugießen. Und mit einer fließenden Bewegung verwandelte sie sich wieder in einen Mann.

Der Holzboden kam plötzlich so viel näher, Indivia war zurück gefahren, ausgerutscht. Er glaubte nicht was er da gerade gesehen hatte, saß nun auf dem Boden und konnte nur starren, die Augen aufgerissen. Wie ein Fisch auf dem Trockenen ging sein Mund auf, zu, ohne dass ein Wort rausdrang.

"Huh?" Morinth legte den Kopf schief und wirbelte herum, starrte zur Küchentür.

Bei dem dumpfen Laut eines Aufpralls, fuhr Arie abrupt herum. Die Müdigkeit war mit einem Mal verschwunden und Wachsamkeit gewichen, als er auf die Tür zulief und sie weit aufriss.
Was er sah - nämlich einen heimlichen Beobachter - wäre wohl beunruhigend gewesen, wenn der junge Mann nicht ein Gesicht gemacht hätte, wie ein verwirrter Welpe oder ein beim Süßigkeitenstehlen erwischtes Kind. Eher niedlich als alles andere.

"Du warst eine Frau!" Indivias Stimme war hoch und piepsig, atemlos. Er blickte zu dem Mann - Frau - Wesen hinauf, rieb sich dann die Augen. Dann jedoch schlich sich eine immense Traurigkeit in seine Augen. "Ich bin verrückt...rede Unsinn, sehe Bilder die nicht existieren..."

Aries erster Reflex, den Jungen harsch danach zu fragen, was das solle, warum er heimlich lausche und beobachte, wurde von einer Welle Mitleid fortgespült. Der Dämon musste ihn schon seit geraumer Zeit gequält haben, wenn die erste Reaktion auf einen solchen Anblick das Anzweifeln der eigenen Augen war.
Langsam schritt der Incubus auf ihn zu, ging leicht in die Hocke, und bot ihm die Hand an. "Gut, dass du hier bist", sagte er sanft. "Ich würde gerne mit dir sprechen."

"Warum?" Indivia schloss die Augen und schloss sie alle aus. Schloss den Mann mit den Hörnern und den roten Haaren aus, schloss das Wesen ohne Geschlecht aus. Doch die harten Worte konnte er nicht ausschließen, denn sie hallten in ihm wieder, Steine in einem Glashaus. Der Barde konnte ein heftiges Schluchzen nicht unterdrücken. "Ich will nicht schlafen, ich will nicht reden."

"Schmerz." Wispernd näherte Morinth sich, legte den Kopf schief und ging neben Arie in die Hocke. "du hast Angst und fühlst soooo viel Schmerz. Soll ich ihn dir abnehmen?"

"Untersteh dich, Mori!", befahl Arie streng und streckte demonstrativ seinen Arm zwischen dem Erlen und dem am Boden Liegenden aus. Letzterem widmete er sogleich wieder seine Aufmerksamkeit. "Hör zu, vielleicht können wir dir helfen", fuhr er geduldig fort. "Dass du in Schwierigkeiten steckst, sehe ich ja. Aber nichts wird sich ändern, wenn du hier auf dem Boden liegst und dich verschließt.
Komm doch wenigstens mit in dir Küche und iss etwas."

Boshaft keckerte Morinth, sein kichern klang boshaft, dunkel und er setzte sich ruckartig auf seinen Hintern, das Gesicht zu einem Grinsen verzogen.
"Du hast es wütend gemacht ", das boshaft, kindliche lachen gurgelte in Morinths Stimme wider.

Abrupt erhob Indivia sich, ging wortlos an dem seltsamen, gehörnten Mann vorbei in besagte Küche, sah sich suchend um.

"Noch ein Wort, Mori, und du musst draußen warten und bekommst heute Abend keine Wärmflasche", gab Arie scharf zurück. "Es ist so schon schwierig genug." Er folgte dem Jungen und wies auf einen der vier altmodischen Stühle, die um den runden, mit einer Vase gelber Blumen und einem Korb mit Äpfeln geschmückten Tisch standen.
Ohne zu fragen, ob es gewünscht war, stellte Arie drei Tassen und die Teekanne dort ab, schnitt auch ein paar Scheiben des dunklen Brotes ab, welches er am Vortag frisch beim Bäcker gekauft hatte. Hinzu kamen noch eine kleine Schüssel Butter und etwas Hartkäse, dann setzte Arie sich. "Bedien dich... es ist reichlich da."

Indivia seufzte leise und griff nach einer Scheibe Brot, zupfte von seiner Scheibe ein Stück ab und kaute darauf herum, während er -die Welt vollkommen vergessend - sein Butterbrot schmierte.
"Wie hast du das gemacht? ", fragte er plötzlich, sah von dem Käse auf und bemerkte, dass der Mann namens Mori nur widerwillig an seinem Tee nippte, mit dem Stuhl. kippelte.

Arie goss sich eine Tasse Tee ein, hielt kurz inne und stand dann auf, um in seinem Küchenschrank zu kramen. "Von einer Frau zum Mann werden, meinst du?"
Mit einer Zuckerdose aus weißem Ton kehrte er an den Tisch zurück, rührte einen Löffel der feinen, braunen Kristalle in sein Getränk. Mit fragendem Blick schob er den Zucker leicht in die Richtung des jungen Mannes. "Es ist etwas, dass ich einfach tun kann. Ich muss mich nur kurz konzentrieren." Er nippte an seinem bittersüßlichen Tee und fügte dann hinzu: "Du hast sicher schon Geschichten über Gestaltwandler gehört? Es gibt sehr viele unterschiedliche Wege, das Äußere zu verändern."

"Kannst du das auch?" Indivia zuckte zusammen, als seine Frage den Mann namens Mori so aus dem Gleichgewicht brachte, dass er hinten über kippte, auf dem Boden fiel.
Es dauerte einen Moment, dann sah man verwuscheltes, rotes Haar, große, schwarze Augen.
"Nein?!"

Besorgt war Arie aus dem Stuhl aufgesprungen, setzte sich erst wieder, als er sah, dass Morinth sich nicht den Kopf aufgeschlagen hatte. "Wie oft habe ich gesagt, dass du nicht kippeln sollst, Mori?", fragte er tadelnd, ehe er sich wieder dem jungen Mann zuwandte. "Nein, er ist dazu nicht im Stande."
Er schwieg einen Moment lang, um sich zu sammeln, dann lächelte er und sagte: "Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich heiße Arie."

"Ich weiß wie du heißt", triumphierte Morinth und grinste breit, was ihm einen unschlüssigen, verwirrt anmutenden Blick von Seiten des Jungen brachte. Aber immerhin wich durch die Albernheit des Erls Stück für Stück das bittere Aroma großen Kummers aus Indivia. Morinth neigte sich so weit vor, dass seine Haare auf den Tisch fielen, Arie gerade noch den Käse vor einem neuen Belag retten konnte.

In den großen, schwarzen Augen des fremden Moris konnte Indivia sein eigenes Spiegelbild sehen. So erbärmlich, so geknickt und klein. Ein Vogel mit gebrochenen Flügeln und Angst vor der Welt.
"Ich bin -"
"Ein Goldkehlchen", beendete Mori in hypnotischem wispern den angefangenen Satz. Indivia schauderte, schüttelte den Kopf. Und brach den intensiven Bann, den Mori wohl unbewusst auf ihn gelegt hatte. Mit seinen Augen, so schwarz wie zwei Tropfen reinen Öls.
"Nein. Ich bin kein Goldkehlchen, mich steckt man nicht nochmal zur eigenen Belustigung in einen goldenen Käfig", flüsterte Indivia, Wandte Arie den Blick zu , in einem Versuch durch falschen Mut zu kaschieren wie allein er sich fühlte. "Indivia. Das ist mein Name."

"Niemand wird dich hier einsperren", antwortete Arie leise. "Und wenn ich dir irgendwie helfen kann, werde ich es tun."
Er biss ein Stück von seinem Brot ab, spülte es mit einem Schluck Tee herunter. Langsam erholte sich sein Kopf von der Müdigkeit und obwohl weder Brot noch Käse seinen wahren Hunger stillen konnten, gaben sie ihm zumindest die flüchtige Illusion von beginnender Sattheit.
"Magst du mir erzählen, was geschehen ist?"

"Wozu?" Indivia kam nicht umhin beim brüchigen, müden klang seiner eigenen Stimme trauriger zu werden als er bereits war. Es war als ertrank er, immer tiefer glitt er hinab in einen See aus Tränen. "Dann stünde mein Wort gegen das von Lord Ashsteel."

"Uh.... Aschen Stahl." Morinth giggelte hysterisch und war ruckartig aufgesprungen, er kreischte, seine Stimme schnappte über vor boshaft freudiger Energie. "Ich werde dein Wort gegen ihn nutzen ~"
Und ehe Arie ihn schnappen, packen, binden konnte, war Morinth verschwunden.

"Mori!" Erneut war Arie aufgesprungen, rannte fluchend zum Fenster, von wo aus er nur noch einen Schatten durch die Haustür verschwinden sah. Entschuldigend schaute er Indivia an. "Ich muss ihm nach... sonst stellt er noch etwas Dummes an."
Halb war er schon durch die Küchentür verschwunden, bevor er sich noch einmal umdrehte und hinzufügte: "Ich würde später sehr gerne deine Geschichte hören. Und was ein Anderer sagt, ist kein Grund, dir nicht zu glauben."
Mehr konnte er nicht sagen, wenn er sich nicht beeilte, würde er Morinths Spur verlieren. Der Erl war einfach zu gut darin, sich zu verbergen.

"Das Ashsteel-Anwesen im Adelsviertel!", rief Indivia noch hinter dem Mann-Frau-Wesen hinterher, ehe er - ehe ES verschwunden war. Und er hier alleine saß. Zumindest war der Tee noch warm?
Ein lächerlicher Trost, aber Indivia sollte wohl versuchen das Positive in der Situation sehen. Wie wäre es mit der Moral, dass ihn diese Einstellung genau den Herzschmerz beschert hatte, an dem er innerlich gerade stück, für Stück, für Atemzug starb?






zuletzt bearbeitet 07.09.2015 15:13 | nach oben springen
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