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08. Aus den Klauen eines Schattentänzers

in Herbst 516 07.09.2015 11:55
von Glacies Citris Herzog | 15.151 Beiträge

- Gewaltdarstellungen


Zitternd krümmte Indivia sich, sein Blut fühlte sich warm an, kalt wenn es an der Luft trocknete. Zwei Nächte? Drei? Vielleicht mehr, Indivia wusste es nicht, nur war ihm kalt. Er war einsam und es schmerzte. Alles. Allein zu existieren ohne Gedanken zu erfassen war eine einzige Qual.
"Dummes Goldkehlchen." Indivia zuckte nicht mal mehr zusammen, als eine kalte, glatte Klinge über seine Schulter strich, dort wo das Tattoo unter Stoff verborgen war. Der bleiche Dämon ging langsam um ihn herum, legte den Kopf schief. Und das Blut rann weiter aus seiner aufgeplatzten Lippe, schmeckte schrecklich metallisch. "Totes Goldkehlchen."

"Ariiiiiiiiiiiiiiie!" Morinth hängte sich wie ein übergroßes Kind an den Arm Aries, sah aus vollkommen schwarzen Augen auf und griff fester in die fremde Kleidung. So fest, dass seine Krallen einen Ärmelsaum aufschlitzten. "Komm endlich! ich hab Hunger!"

"Du hast immer Hunger, Mori", seufzte Arie, lächelte ihren Schützling jedoch sanft an. "Wir finden schon etwas für dich." Sie knöpfte ihren Mantel zu und trat aus der Haustüre, atmete kühle, herbstliche Nachtluft ein.
Jetzt, da die Tage zunehmend kälter wurden, war es schwieriger, in die Häuser der Menschen einzudringen, um Nahrung zu finden. Daher zog es sie auf ihren nächtlichen Streifzügen meist ins Hafenviertel - dort fanden sich einfach die meisten Gasthäuser und die meisten Gäste, die im trunkenen Zustand vergaßen, ihre Türen abzuschließen.
Auch heute spürte sie, während sie mit Morinth durch die belebten Straßen schlenderte, tausende von Quellen, die ihr geeignet schienen. Schlafende gaben eine besondere Aura ab, eine friedliche... und hatten einen besonderen Beigeschmack, wenn der Rausch noch nicht völlig aus ihnen gewichen war.
Bevor Arie sich aber entscheiden konnte, welcher dieser vielen Auren sie folgen würde, zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich. Eine dunkle, bedrohliche Macht, die ihr ganz und gar nicht gefiel. Sie blieb stehen, fasste Morinth am Handgelenk. "Komm mit", wisperte sie und zog ihn mit sich in eine Gasse, aus der diese Dunkelheit drang, so dick und schwer, dass es sich anfühlte, als ersticke man daran.

Morinth legte den Kopf schief und folgte der Succubus, bis auch er die Dunkelheit spürte, verzog das Gesicht, als sie sich schwer und kalt wie eine nasse Decke um seinen Leib legte. Er tippelte Arie hinterher, hüpfte leicht vom Randstein auf die Straße, wie ein hyperaktives Kind, berstend vor zu viel Energie.

Indivia sah nicht, was der Dämon tat. Er hörte es nur. Das Singen einer erhobenen Klinge, gefolgt von dem Reißen, Schlitzen von Fleisch. Er schrie gellend auf, wollte fort robben, als der mörderische Schmerz eintrat, Blut in seine Kleidung auf den Boden sickerte. Sein Rücken brannte, er stand in Flammen, zitterte.

Arie war schon seit vielen Jahren auf der Welt, aber sie war nicht abgestumpft. Die Schreie des jungen Mannes und der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie einen Moment lang erstarren, einfrieren. Ein Messer, Blut, das davonkriechende Opfer... und natürlich der Dämon, ein Schattentänzer und offenbar ein alter dazu. Er hatte eine zarte Gestalt und hellblondes Haar, eine Erscheinung, die kaum zu dem breiten, sadistischen Lächeln passte.
Aber das kümmerte Arie nicht, sie reagierte schnell. Im Bruchteil einer Sekunde war die kurvige Frau verschwunden und durch einen kraftvollen Mann ersetzt worden, der vorwärts hechtete, um sich zwischen den Schattentänzer und den Jungen zu werfen.

Tharaniel zischte wütend auf, warf einen garstigen Blick auf Indivia, der dann von zwei neuen Gestalten verborgen wurde. Einem dieser verdammten Wesen, die für Sex lebten - im wahrsten Sinne des Wortes - und einem Naturgeist mit Langweile. Abschaum. Der Schattentänzer verzog übellaunig den Mund.
"Uh, so dunkel...", brabbelte Morinth leise, rieb sich mit der Handfläche über die Stirn. "Und schlecht gelaunt."
"Tsk, verschwindet." Tharaniel war zu alt um sich das Gebrabbel dieser dummen Feenwesen an zuhören, die sich selbst Erlen nannten. Kinder waren sie, geistig verkrüppelt und für immer im Kindesstadium gefangen. "Der da ist meine Beute."

"Jetzt nicht mehr", knurrte Arie und kam schützend vor dem jungen Mann zum Stehen, der zitternd am Boden lag. Schattentänzer waren nahezu unsterblich, aber Macht besaßen sie nur über jene, die ihrer Schwarzen Magie leicht zum Opfer fielen. Ihre Körper waren letztlich menschlich.
"Lauf zu jemandem, der dir gerne seine Seele gibt."

Tharaniel biss die Zähne zusammen und fixierte den der beiden, der wohl am verletzlichsten war. In einer fließenden Bewegung hatte er sich eine neue Haut übergestreift, noch im gleichen Augenblick Rote Magie beschworen.
Morinth stieß einen spitzen Schrei aus, war blitzartig weg gesprungen, von den glühenden Händen der Blutelfin, welche nun anstelle des bleichen Halbelfen dastand, ihn drohte in Funken und Flammen vergehen zu lassen.
"Mein Herr ist damit einverstanden, verstehst du? In-di-via?", lachte der Schattentänzer boshaft auf, die nun weibliche Stimme zu einem grausamen Singsang verzogen.

Arie stieß ein leises Grollen aus und presste die Zähne aufeinander. Er verabscheute Gewalt und Kämpfe, es war nicht seine Welt, vereinbarte sich nicht mit seinen Vorstellungen. Doch wenn das Leben eines Unschuldigen durch jemanden, der viel mächtiger war, gefährdet wurde, machte auch er eine Ausnahme. Besonders, weil er Mori schlecht alleine gegen jemanden kämpfen lassen konnte, der für ihn wirklich gefährlich war. Aber erst einmal...
So vorsichtig es in dieser Situation eben möglich war, wenn man sich in Hast befand, hob Arie den jungen Mann hoch - klein, zart und leicht war er, es stellte keine Schwierigkeit dar. "Kannst du laufen?", flüsterte er, während er ihn aus der Kampfzone zog.

"Ja..." Indivia rappelte sich blutend auf, taumelte auf die winzige Straße zu, welche den Ausgang des Hinterhofes markierte. Weiter, immer weiter bis er einfach an einer Hauswand hinabsackte.
Mein Herr ist damit einverstanden, verstehst du?
Dumpf schluchzte Indivia auf, weinte bitterlich. Elliot hasste ihn? So sehr? Warum?

"Arie!" Morinth schrie entsetzt auf, als Funken auf seiner Brust landeten, er gerade noch dem Feuerball ausweichen konnte, doch nicht mehr der Klinge, die sich tief in seine Rippen bohrte.

Erschrocken wirbelte Arie herum und sah gerade noch, wie der Dämon ein Messer in Morinths Torso stach, schwarzes Blut hervorquoll. Fluchend rannte er und schaffte es, sich hinter die Schattentänzerin zu manövrieren - immerhin hatte er die Gewandtheit eines Tänzers - und sogleich schlug er mit der Faust zu, zielte gegen den Hinterkopf, während er gleichzeitig versuchte, sie mit dem freien Arm festzuhalten. Immerhin war sie ein Stück kleiner und weit zierlicher als er selbst.
Und es sah nicht so aus, als hätte ihr Feuer Morinth getroffen, was immerhin schon eine gute Nachricht war.

Mit einer schnellen, überraschend geschmeidigen Bewegung war Morinth von der Klinge des Messers gerutscht, die Wunde schloss sich, kaum dass das Hindernis aus ihr entfernt war. Und das nutzte der Erl, schlug erneut zu und traf mit scharfen Krallen die Wange der Schattentänzerin.
Einen wütenden Aufschrei ausstoßend schleuderte Tharaniel erneut mit Feuerbällen um sich, steckte eines der Häuser damit unfreiwillig in Brand.
"Bastard!", tobte sie, schlug wieder nach Arie und löste sich plötzlich in nichts als Dunkelheit aus, glitt als schwerer, boshaft kalter Nebel davon.
"Geflüchtet", bemerkte Morinth, während er abwesend an seiner Kralle knabberte, angewidert ausspuckte, als er das verdorbene Scheinblut auf der Zunge schmeckte. "Bäh."

"Geht es dir gut?", fragte Arie unruhig, hörte schon aufgeregte Schreie aus den umliegenden Häusern, Rufe von Menschen, die durch den Lärm oder den Geruch von Feuer aufmerksam geworden waren. "Wir müssen weg hier!"
Er ließ Mori ungerne nachts alleine durch die Stadt laufen. Außerdem wollte er sich um das Opfer des Dämons kümmern. Also blieb ihm wenig anderes übrig, als die Stelle so schnell wie möglich zu verlassen, anstatt zu helfen - der Brand sah glücklicherweise nicht besonders gravierend aus, es hatte ein altes Haus getroffen, das leerstehend aussah und von steinernen Gebäuden umgeben war.
Mit Morinth im Schlepptau eilte Arie aus dem Hinterhof und fand in der Gasse, an einer Hauswand lehnen, den jungen Mann. Er ließ den Erlen los und ging vorsichtig in die Hocke, hielt dem Verletzten einen Arm hin und fragte sanft: "Kann ich dir helfen?"

"So viel Kummer...so viel Schmerz und Leid", wisperte Morinth leise, diesmal jedoch nicht mit Hunger sondern Mitleid in den Augen. Er ging vor dem Jungen in die Hocke, hob diesen vorsichtig auf seine Arme fuhr, anders als sonst nicht zusammen, als dieser die Arme um seinen Nacken schlang, sich an den Erl drückte, in einer verzweifelten Suche nach Nähe. Nach Trost. "Wir müssen ihn mitnehmen, Arie!"

Erstaunt blickte Arie den Erl an, denn einen solchen Ausdruck von Mitleid war er nicht von ihm gewöhnt. Dann aber lächelte er matt und nickte.
"Du hast Recht, Mori."
Er wandte sich kurz dem Jungen zu - seine Wunden schienen glücklicherweise nicht tief. "Hab keine Angst. Wir bringen dich in Sicherheit und kümmern uns um den Schnitt." Dann ging er voraus, zurück in Richtung seines Hauses.

Morinth blickte etwas unsicher zu Arie, als der Junge stumm nickte, sich weiter an ihn drückte. Der Erl hatte noch immer Probleme damit, die menschliche Ethik zu verstehen, doch selbst er ahnte, dass dieser Junge Hilfe brauchte. So zuckte er also mit den Schultern und trug den Kleinen nach Hause.

"Bring ihn bitte ins Gästezimmer, Mori", sagte Arie, als sie das Haus betraten und er sich zuallererst die Stiefel, dann den Mantel auszog. "Ich setze gleich Wasser auf, für die Wunde. Deine sehe ich mir auch an."
Das würde wahrscheinlich nicht nötig sein, schließlich verfügten Erlen über exzellente Heilkräfte. Aber sicher war sicher.

Leise irgendwas in der Richtung von zerbrechlichen Menschen murmelnd tapste Morinth in Richtung des Gästezimmers, den Jungen noch immer tragend. Er atmete erleichtert auf, als der Junge ihn los ließ, der Erl sich aufrichten konnte.

Es dauerte nicht lange, bis der Wasserkessel in der nur durch eine alte Öllampe und Herdfeuer erhellten Küche zischte und dampfte, sodass Arie ihn vom Herd nehmen und einen Kräutersud aufgießen konnte. Freilich war er kein Arzt, doch ein paar Dinge hatte er im Leben gelernt, zum Beispiel, welche Pflanzen dabei halfen, Entzündungen vorzubeugen, und wie man Wunden angemessen verband. Da er nur durch seine Unauffälligkeit überlebte, dachte er immer mehrmals nach, ob er wirklich einen Heiler für Dinge konsultieren wollte, um die er sich auch selbst kümmern könnte.
Die Schüssel mit heißem Kräuterwasser vorsichtig tragend und mit einigen sauberen, weißen Leinentüchern über der Schulter, lief er barfuß durch das zwielichtige Haus, bis er das kleine Gästezimmer erreichte. Das Mitgebrachte stellte er auf der Kommode ab und entzündete eine Kerze, die er auf dem Nachttischchen abstellte. Zum ersten Mal konnte er nun den jungen Mann genauer betrachten, der dort auf der Bettkante saß. Wie ein verlorenes Kätzchen sah er aus, eher ein Kind als ein Mann - er schätzte ihn auf jünger als zwanzig. Ein hübsches Gesicht hatte er, feingeschnittene Züge, braune Haut und große, aber trübe Augen. Sein Haar war lang und dunkel, leicht verfilzt, seine Kleidung schmutzig und zerrissen - wer wusste, wie lange der Dämon ihn schon in seinen Klauen gehabt hatte?
"Wie fühlst du dich?"

Indivia antwortete nicht, er strich sich über die Oberarme und erstarrte, als es ein Schmerz von seinem Rücken durch seinen ganzen Körper fuhr. Er zitterte leicht, schüttelte den Kopf.
"Ich....", seine Stimme klang so schwach, so zittrig. Geborsten und gebrochen, wie der Blick in seinen Augen. "Leer."

"Kummer", wisperte Morinth, legte den Kopf schief und strich sich leicht über das Herz. "Gebrochen."

Arie nickte leicht und legte mitfühlend einen Arm auf die schmale Schulter des Jungen. Er sah aus, als hätte man versucht, ihm bei lebendigem Leibe das Herz auszureißen. Als hätten tausend Messer seine Seele zerfetzt.
"Darf ich mir deinen Rücken ansehen?", fragte der Incubus leise. "Die Wunde sollte versorgt werden, damit sie sich nicht entzündet."

Stummes Nicken war die einzige Antwort, Indivia strich sich das lange Haar vor, um besseren Zugang zu seinem geschundenen Rücken zu gestatten.
Morinth legte den Kopf schief, tippte Arie dann aufgeregt auf den Arm und deutete auf das bunte Bild, welches unter Dreck und Blut verschmiert, auf der Schulter prangte. Ein Vogel, bizarr fröhlich, singend, die goldene Brust stolz gebläht.
Solch ein auffälliges Bild - das ahnte selbst der Erl - würde bestimmt eine Identifizierung des Jungen erleichtern.
"Goldkehlchen!"
Es war der wohl vertraute Spitzname, der das Leben in Indivias Augen zurück brachte, wirr sah er auf, blickte beinahe panisch hin und her.

"Schsch", machte Arie und legte einen Finger auf die eigenen Lippen. "Nicht so laut Mori, sonst erschreckt sich noch jemand." Dann drehte er sich wieder dem Jungen zu, betrachtete ein paar Augenblicke lang nachdenklich das eingestochene Bild des Singvogels, ehe er Tücher und Wasserschüssel herholte.
"Es wird wahrscheinlich ein bisschen brennen", warnte er seinen Gast und begann dann auch schon, mit einem nassen und nach Kräutern riechenden Tuch über den Schnitt zu fahren, der sich die Wirbelsäule entlangzog. Hoffentlich hatte der Schattentänzer sich kein neues Opfer gesucht. Seinesgleichen waren wirklich abscheuliche Kreaturen.

Kaum dass das Tuch seinen wunden Rücken berührte, jaulte Indivia auf, zitterte und krallte sich in die Bettdecke, verbarg das Gesicht daran. Der Stoff sog seine Tränen ebenso auf, wie die gedämpften Laute puren Schmerzes. Er wimmerte, leise.
"Er wird mich nie in Ruhe lassen...er wird mich immer wieder heimsuchen", wimmerte er, schlotterte vor Furcht. Nun, da er nicht einmal mehr Elliot hatte, nicht Emilia, niemanden. "Er wird mich umbringen..."

"Wird er nicht." Aries tiefe Stimme klang fest und ruhig, wie ein Felsen im Meer. Auch seine Hände waren ruhig, so sanft und effizient wie möglich reinigte er die Wunde von Blut und Schmutz. Glücklicherweise war der Schnitt recht sauber - er würde gut verheilen, auch wenn eine Narbe sich nicht ausschließen ließ.
Als er schließlich begann, den Rücken zu verbinden, fügte er hinzu:
"Hier bist du sicher und wir können morgen nach einer Lösung suchen. Du bist bestimmt müde."

"NEIHEIN!", Indivia kreischte auf, so laut und schrill, das Morinth vor Schreck zusammen fuhr, beinahe an die Decke sprang. Der Barde griff nach den blutigen Händen des fremden Mannes, so fest und zittrig. "Ich kann nicht! Ich darf nicht einschlafen!"
Die Alpträume würden ihn verfolgen, zerbrechen.
"Ich will nicht!"

Arie zuckte zusammen, als der hohe Schrei in seinen Ohren widerhallte. Dann schüttelte er bekümmert den Kopf und legte sacht die Hände um die des Jungen.
"Wovor hast du Angst?", fragte er leise. "Dass du im Schlaf nicht sicher bist? Oder dass er sich in deine Träume schleicht?"

"Hysterie. Todesangst.", wisperte Morinth leise, nervös. Er tippte mit den Spitzen seiner Krallen gegeneinander, erzeugte hohles Klicken, dass wie ein Uhrwerk im Raum wieder hallte. "Schmerz."
"Er wird mich umbringen!" Indivia konnte seine Stimme nicht kontrollieren, er schlotterte, atmete flach und zu schnell, schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, er krallte sich an allem Fest, dass ihm vor die Hände kam. "Er bringt mich um!!"

"Du bist sicher hier, ich verspreche es", antwortete Arie und schloss den Jungen in die Arme, nahm dafür in Kauf, dass sich die Finger in seine Arme bohrten. Was machten die paar blauen Flecken schon?
"Mori, geh in die Küche und gieß drei Löffel Tee aus der schwarzen Dose auf. Für unseren Gast."

"Niemand kann es versprechen! Ich war nur an einem Ort sicher und da kann ich nicht mehr zurück!!" Indivia zitterte heftig und wand sich, nahm nur widerwillig die Umarmung an. Letztendlich jedoch, nach einer viel zu langen Weile, roch er Tee, bitter, süß. Alles auf einmal. Bleiche Hände mit spitzen Krallen reichten ihm die Tasse, hielten sie an seine Lippen. Obwohl die Flüssigkeit noch heiß war, nippte Indivia begierig, schluckte und entspannte sich, langsam. Sackte erschöpft gegen die fremde Brust zusammen. "Er wird mich umbringen... er ist kein Mensch..."

Beruhigend streichelte Arie über den Arm des Jungen. "Ich weiß, was er ist", sagte er sanft. "Deswegen weiß ich, dass er dir hier nichts anhaben kann." Es konnte ein Fluch sein, jedes magische Wesen im näheren Umkreis zu spüren, all diese machtvollen, erdrückenden Präsenzen, doch es war ein Segen, wenn es darum ging, nicht von einem überrascht zu werden. Arie würde fühlen, wenn der Schattentänzer sich nähern würde - und er hatte den jungen Mann nicht gerettet, um tatenlos zuzusehen, wie die Bestie sich wieder an ihm vergriff.
Es war nur schade, dass es wohl bedeutete, diese Nacht über ohne Nahrung zu Bett zu gehen.

"Er wird mich nie in Ruhe lassen", flüsterte Indivia leise, war widerwillig entspannt. Langsam sackte die Erschöpfung durch, die Augen wurden so schwer, dass Indivia es einfach aufgab dagegen anzukämpfen. Er rollte sich zusammen, wimmerte noch leise: "Nie..."

Mit einer Vorsicht, die wohl nicht viele seinem muskulösen Körper zugetraut hätten, bettete Arie den schlanken Leib des Jungen aufs Bett, den Kopf auf das weiche Kissen und deckte ihn zu. Eine Nacht ruhigen Schlafes konnte er sicher gut gebrauchen. Und bei den Zutaten, aus denen der Tee bestand, würde nicht einmal der mächtigste Schattentänzer die friedlichen Träume stören können.
"Vielleicht wird er uns erzählen, was geschehen ist", murmelte er und sammelte seine Utensilien ein. "Aber bis dahin..." Er seufzte. Er hatte versprochen, eine Lösung zu finden, doch das war einfacher gesagt als getan. Bleiben konnte der Junge schlecht bei ihnen - es war schon alles andere als günstig, dass er Morinth gesehen hatte und bei Aries Verwandlung in einen Mann anwesend gewesen war. Er schien allerdings wenig gemerkt zu haben, war vermutlich einfach zu aufgewühlt und erschöpft dafür. Und so sollte es auch besser bleiben.
"Ich spreche morgen mit ihm, Mori", fuhr Arie fort, als er aus der Tür in den Flur trat, den Erlen hinter sich herziehend. Kaum, dass das Gästezimmer wieder geschlossen war, nahm er aufs Neue seine Frauengestalt an. Ihr war eher danach. "Aber bis dahin sollte er dich nicht sehen."

Morinth zog eine schmollende Schnute, als er einfach so hinter Arie hergezogen wurde.
"Er hat mich doch schon gesehen!", maulte der Erl, hatte mehr Ähnlichkeit mit einem übellaunigen Kind als mit einem gefährlichen, jahrhundertalten Fabelwesen. Die dünnen Arme vor der Brust verschränkt, die bleiche Haut noch verschmiert mit dem Blut des Jungen, schmollte Morinth.

"Er wird sich morgen vermutlich nicht daran erinnern", antwortete Arie bestimmt. "Und ich habe dir oft genug gesagt, wie wichtig es ist, sich vor Sterblichen bedeckt zu halten." Erneut seufzte sie und drehte sich dann um, legte Morinth eine Hand auf den Arm. "Du hast richtig gehandelt, Mori. Ohne dich hätte ich ihn vielleicht nicht retten können. Aber bitte versteh, dass wir trotzdem vorsichtig sein müssen."
Stirnrunzelnd musterte sie ihn von oben bis unten. "Sind deine Wunden schon verheilt?"

"Hu? Welche Wunde?" Morinth blinzelte verdutzt, ehe er plötzlich verstand und seine ausgeleierte, abgenutzte leichte Rüstung hochschob, seinen hageren, bleichen Bauch frei legte. Keine Narbe zierte das fahle Weiß, nur das dunkle Netz aus Adern schimmerte nun im Licht deutlicher durch. "Alles gut."
Der Erl lächelte süß, wirkte hinreißend, beinahe niedlich, doch ebenso plötzlich auch sehr boshaft.
"Aber er ist doch hier..." Ein Gedanke schien in Morinths verdrehtem Kopf zu sprießen, er tippte sich plötzlich aufgeregt gegen das Kinn, murmelte Unsinn vor sich hin. "Ich könnte...Wenn ich Hilfe bekomme...vielleicht...ganz bestimmt."

Aries Augen wurden schmaler, ihr Blick argwöhnisch.
"Was hast du vor?", fragte sie leise. Bei aller Zeit, die sie nun schon mit Morinth verbracht hatte, fiel es ihr noch immer schwer, seinen Gedankengängen zu folgen. Nur eines merkte sie, nämlich, wenn er etwas im Schilde führte. Und das war leider selten etwas Gutes.

"Der Schattentänzer hätte kein Opfer mehr, wenn das Opfer kein Opfer mehr wäre." Während des Ausspuckens dieses...unverständlichen Satzes wedelte Morinth mit den Armen, gestikulierte wild. Er warf sogar beinahe eine Vase um. "Wenn ich den Jungen zu einem Erl mache, dann hat er keine Angst mehr."

Arie atmete tief durch, schüttelte energisch den Kopf.
"Nein", erwiderte sie fest und ergriff Morinths wild umherrudernden Hände. "Das wirst du nicht tun, Mori. Du kannst nicht einfach einen Menschen zum Erl machen, selbst wenn es nach einer guten Idee aussieht."

"Hu? Warum nicht" Morinth blickte verdutzt, legte den Kopf schief. "Wir gewinnen ein neues Mitglied und sind wieder mehr und er wird stärker. Ist doch gerecht."

"Nein, ist es nicht." Streng musterte Arie den jungen Erlen, ehe sie fortfuhr: "Das ist eine Entscheidung, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Und deren Konsequenzen sich nicht ermessen lassen. Du kannst sie nicht einfach für jemanden treffen."
Und das zog noch nicht in Betracht, dass der Prozess der Umwandlung sehr schmerzhaft und qualvoll sein musste, einer Gehirnwäsche glich und alles veränderte, was den Menschen einst ausgemacht hatte.

Morinth biss sich auf die Unterlippe, legte den Kopf schief. Für einen Moment überlegte er, grübelte, dann jedoch runzelte der Erl die Stirn.
"Naaaa gut."

"Gut." Lächelnd strich Arie über Moris Wange. "Ich werde über Nacht hier bleiben - unser Gast sollte nicht alleine sein.
Wenn du hungrig bist, dann geh ruhig alleine nach draußen." Mit einem Hauch von Strenge fügte sie hinzu: "Aber halte dich an die Regeln, sonst werde ich böse."

"Jaaaaaa, Arie." Morinth verdrehte wie ein Kind die Augen, doch dann war er aus dem Haus gehuscht.






zuletzt bearbeitet 07.09.2015 19:08 | nach oben springen
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