07. Die Suche nach der Geisterknolle
07. Die Suche nach der Geisterknolle
in Herbst 520 05.09.2015 21:41von Glacies Citris • Herzog | 15.151 Beiträge
Es musste sein.
Zephyr hatte keine andere Wahl gehabt, als erneut zu Annas Schiff zurückzukehren, nur wenige Stunden, nachdem er es verlassen hatte.
Es stand einfach zu viel auf dem Spiel, er brauchte nicht nur sein Geld, sondern auch das Salz, das Pulver, es stand mehr auf dem Spiel, als er riskieren konnte. Ein Leben der Enthaltsamkeit, das wäre ihm vielleicht möglich gewesen, doch ein Leben in dem Wissen, dass Yaeeta keine Ruhe fand und dass er etwas daran hätte ändern können, war eines, das er nicht leben wollte.
Und somit hatte er sich in eine Blaumeise verwandelt und war zum Hafen geflogen, hatte sich auf den Mast eines benachbarten Schiffs gesetzt und wartete nun darauf, dass jemand die Luke zum Frachtraum öffnen würde.
Der Laderaum wurde fest verriegelt und mit schweren Fässern zugestellt um ein öffnen zu vermeiden. Alles deutete daraufhin, dass dieses Schiff bald schon auslaufen wurde.
Anna unterdessen, hatte die letzten Dinge geordnet, die vor ihrer Abreise geordnet werden mussten, dann hatte sie sich in ihre Kabine zurückgezogen. Dort lagen auf ihrer Truhe noch immer Zephyrs fallen gelassene Kleidung und die Tasche. Weder Pulver noch Salz hatte sie zurück geräumt. Sollte Zephyr bei ihrem nächsten Besuch in Brightgale noch da sein, würde sie ihm einen Besuch abstatten. Voraussetzung war natürlich das sie herausfand wo er wohnte.
Ein letztes Mal öffnete sie ihre Tür um frische Luft hinein zu lassen.
Zephyrs Herz sank, als er hilflos dabei zuschauen musste, wie die Luke zum Laderaum verschlossen und versperrt wurde. Er war wohl zu spät gekommen...
Ganz aufgeben wollte er trotzdem noch nicht. Womöglich gab es irgendwo einen zweiten Zugang. Wenigstens vollkommen auskundschaften wollte er die Lage, bevor er sich endgültig geschlagen gab. Und so kam es, dass er an einer Kabine - der Lage nach vermutlich die, in welcher die Kapitänin schlief - vorbeiflog und durch die offene Türe seine Habseligkeiten erblickte. Die Gewänder, seine Tasche - alles war da, jemand hatte es nach oben gebracht.
Vorsichtig flog Zephyr näher, schaute sich unruhig um, vergewisserte sich, dass ihm niemand zuschaute und glitt dann in die Kabine, landete zwischen seinen Sachen.
Nun kam der schwierigste Teil, denn er musste abwägen, wie und wann er sich zurückverwandeln würde, um zu fliehen, und wie es ihm gelingen konnte, dabei nicht getötet zu werden.
Anna erstarrte, völlig lautlos auf der Schwelle von ihrem winzigen Bad. Sie packte das Leinentuch fester, mit dem sie ihr Nasses Haar abtrocken wollte, beobachtete die kleine Blaumeise zwischen den gelagerten Sachen des Eiselfen - Zephyrs. Auf Zehenspitzen schlich sie heran, warf rasch das Tuch über den Vogel und stürzte vor, wickelte das zwitschernde, überrumpelte Tier vorsichtig enger in den Knäuel aus weichem Stoff. Mit einer Hand schloss Anna den filigranen Käfig aus Draht auf, der von einem stabilen Seil hinabbaumelte, vor dem Fenster ihrer Kabine. Es war ein schlichter, stabiler Käfig, ein Kegelförmiges Ding mit massiver, dicker Bodenplatte, schwarzen, dünnen Gittern.
"Schschsch, ganz ruhig", flüsterte Anna leise, als sie den zierlichen Vogelleib vorsichtig umfasste, sich bemühte, die Flügel nicht zu fest an den gefiederten Leib zu pressen. Sacht setzte sie die gefangene Blaumeise in den Käfig, schloss rasch die Gittertür. "Ha...eine Blaumeise."
Ein wütendes Zwitschern war alles, was Zeph hervorbrachte, nachdem weder sein Zappeln, noch sein wiederholtes Schnappen nach Annas Fingern ihn aus diesen befreit hatten.
Und nun saß er da, in einem Käfig gefangen.
Konnte sich weder verwanden, noch ausbrechen, nur den Blick der Frau erwidern und sich aus dem einen, gesunden Auge beobachten lassen.
Anna trug langsam von dem Käfig zurück, hob das Tuch wieder auf. Schüttelte es aus und räumte es zurück ins Bad. Unterwegs nahm sie die Augenklappe ab, kämmte sich die roten Locken mit den Fingern. Leise eine liebliche Melodie pfeifend entkleidete Anna sich, stieg aus dem Teich aus fallengelassenem Stoff. Geschäftig hantierte sie in einer Schublade, holte eine kleine Zange heraus, wie sie genutzt wurde um Vögeln die Flügel zu stutzen.
Zephyrs Blick glitt durch den Raum, hielt sich nicht an Anna auf.
Nicht nur, weil es sich nicht gehört hätte, ihren nackten Leib anzustarren, sondern auch, weil es ihm die Gelegenheit gab, sich nach Gegenständen umzusehen, die ihm möglicherweise helfen konnten.
Angelehnt an das Bett konnte er ein paar Säbel sehen und es lagen so viele Dolche und Wurfmesser im Raum verteilt, dass er sich fragte, ob Anna sich nicht vor Stürmen und umherfliegenden Dingen fürchtete.
Alles in allem würde es ihm aber wohl ein Vorteil sein...
"So, jetzt wollen wir diese hübschen Flügel etwas stutzen", sprach Anna leise, ungewohnt sanft. Die Zange in der Hand, öffnete Anna den Käfig. Sacht aber bestimmt schlossen sich ihre Finger um den zarten Vogelleib, sie hob die Blaumeise aus dem Käfig, strich sacht, sehr zärtlich über das gefiederte Köpfchen. "Hm, sieh mich nicht so an, mit deinen großen, verängstigten Knopfaugen. Ich tu dir nicht weh. Versprochen."
Die sanften Worte beruhigten Zephyr nicht, nicht wirklich.
Eher machten sie ihn noch unruhiger. Und als Anna ihre Hand ein kleines Stück von ihm fortbewegte, warf er sich zur Seite und erhob sich flatternd in die Luft. Fort von ihr, zumindest so weit es möglich war, ohne dass er die Kabine verließ.
Ein überraschter Laut entwich Anna, als der Vogel ihrem Griff entwich, sie sah sich um, ehe sie rasch, unüberlegt hinter der fliehenden Blaumeise her hechtete. Die Tür und die Fenster waren fest geschlossen, doch einen frei fliegenden, flüchtigen Vogel brauchte sie nicht.
Zephyr war schon in allerlei absurden Situationen gewesen, doch diese hier übertraf sie alle.
Hin und her flatterte er, wurde dabei ungeschickt von einer nackten Frau verfolgt, die mehr Kraft in den Armen besaß als er selbst und ihn noch dazu töten wollte wenn er ein Mensch war - und liebevoll hätscheln als Tier.
Wäre er in seinem Elfenkörper gewesen, hätte er jetzt wohl angefangen, hysterisch zu lachen.
Stattdessen flog er weiter auf und ab, einerseits um Anna müde zu machen und andererseits, um sie in eine günstige Position zu locken. Als ihm dies gelungen war, schoss er wie ein Pfeil an ihrem Kopf vorbei, verwandelte sich zurück in einen Menschen, noch ehe seine Füße den Boden berührten.
Seine Finger legten sich rasch um den Griff eines naheliegenden Dolches und bevor Anna sich umdrehen konnte, hatte Zephyr sie auch schon gepackt und die Klinge an ihren Hals gelegt.
"Es tut mir leid", murmelte er, was ja auch stimmte, denn diese Situation war sehr unglücklich und ausnahmsweise lag das nicht daran, dass er sich - selbst völlig entblößt - mit einer nackten Frau dicht an seinem eigenen Körper in einem Schlafzimmer befand. Zumindest nicht ausschließlich.
"Ich will dir nichts antun. Lass mich einfach meine Sachen nehmen und gehen... ich werde nicht wiederkommen."
Andere Leute, Normale Leute, wären bei dem Gefühl von kaltem Stahl an der Kehle zusammen gefahren. Doch Anna reagierte nicht wie normale Leute. Wie andere Leute. Sie sog zischen die Luft durch die halbgeöffneten Lippen ein, ihre Hände, die sich instinktiv um den fremden Arm geschlungen hatten, wanderten an ihrem Körper hinab, zusammen mit der Hitze und - sie schämte sich gar nicht - der Lust. Es war gefährlich und reizvoll, es war das Beste überhaupt.
"Hmmm~", Anna lächelte, stieß ein raues Lachen aus, während ihre rechte Hand sacht ihre Brüste umrundete, an einer Brustwarze zwirbelte. Hart und Heiß, wie eine Perle aus Fleisch. Ihre linke tanzte über ihren flachen Bauch, der sich im Rhythmus des Atems hob, senkte. "Schneeflöckchen, was für eine überaus angenehme Überraschung."
Ihr Atem ging kurz höher, stockte, als sie das glühend warme Zentrum zwischen ihren Schenkeln erreichte, leckte sich die Lippen und legte den Kopf weiter zurück. Die Klinge erhitzte sich von der Wärme ihrer Haut, biss mit sehr scharfen, spitzen Zähnen und riss doch noch keine Wunde.
"Du willst mir nichts tun, hm?"
Ist das ihr Ernst?
"Nein ... nicht wenn ich es vermeiden kann."
Trotzdem drückte Zephyr die flache Seite der Klinge etwas fester gegen Annas Hals. Er schob sie vor sich in Richtung des Betts, neben dem er eben das zusammengerollte Seil erblickt hatte.
"Ich lasse dich gleich in Ruhe."
Anna leckte sich erneut die Lippen und warf Zephyr einen neckenden Blick über die Schulter zu, wiegte leicht die Hüfte und seufzte hell auf. Üppige, rote Locken ergossen sich über ihren Rücken, sie lachte auf.
"Was denn, erst scheu und unnahbar, jetzt auf einmal so abenteuerlustig?~"
"Ganz und gar nicht. Und ich glaube, dass du das weißt."
Zephyr presste die Lippen zusammen und schob Anna weiter vor sich her, peinlich genau darauf achtend, dass sich ihre Leiber nur an unverfänglichen Stellen berührten.
Sie konnte nicht ernst sein. Es musste eine Ablenkungsstrategie sein. Und wenn er darauf eingehen würde, würde sie ihn erledigen...
Endlich hatten sie das Bett erreicht und er drängte Anna sanft darauf. Nur minimal lockerte er den Druck der Klinge, als er sich vorbeugte und nach dem Seil griff.
"Aw, ich war ein ganz böses Mädchen, werde ich jetzt dafür bestraft?", schlug Anna in gespielt beschämten Tonfall an, sie lag auf dem Bauch, streckte die Arme vor, die Handgelenke überkreuzt und bereitwillig da geboten. "Was hast du alles für mich vorbereitet? Nur die flache Hand? Oder auch die Peitsche?"
Zephyr öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn jedoch wieder, ehe ein Ton über seine Lippen kommen konnte. Stattdessen nahm er das Seil an sich und beugte sich weiter über Anna, schaute etwas unschlüssig auf ihre Hände.
Ehe er diese packte, mit seinem Arm einklemmte und begann, das Seil um die Gelenke zu wickeln.
Den Dolch musste er dafür leider an Seite legen.
Wie ein wildes Pferd, das bockte und stieg, buckelte Anna, brachte Zephyr durch ihr plötzliches hochkommen mit Becken und Rücken aus dem Gleichgewicht. Sie wäre nicht Anna, wenn sie nicht die Gunst der Stunde nutzen würde und ehe der Elf sich versah, lag er plötzlich mit dem Rücken in die Matratze gepresst da, während seine Arme über seinem Kopf ans Bett gebunden wurden, starke Schenkel seine Beine nach unten drückten. Den Dolch achtlos weg werfend verharrte Anna über ihrem nun Gefangenen.
"Und jetzt? Was machen wir jetzt?", fragte sie mit nur halbem Spott in der Stimme. Deutlich tropfte der Ernst durch. "Soll ich warten bis mich der Blitz trifft? Oder…"
Und bei diesem Worten beugte sie sich vor, kauerte auf allen Vieren über Zephyr, das Haar wild und ungezähmt über die Schulter nach vorne hängend.
"Oder wollen wir einen Geist besuchen?"
"Vor ein paar Stunden sahst du noch aus, als wolltest du selbst einen aus mir machen..."
Müde klang Zephyrs Stimme, brüchig. Auch sein Zappeln, seine vergeblichen Bemühungen, sich aus den Fesseln und unter Anna hervor zu winden, erstarben. Sein ganzer Leib erschlaffte, er legte den Kopf zur Seite, starrte einfach in die Luft.
"Bitte... lass mich einfach gehen."
"Langsam, langsam, Freundchen. Du bist bei mir eingebrochen." Anna grinste lieblich und streckte sich zur Seite, holte eine neuen Dolch hervor. Spielerisch drehte sie ihn und tippte mit dem Knauf leicht gegen Zephyrs Stirn. "Kein Grund also das Opfer zu spielen. "
Sie Schnitt rasch das Seil durch, wich zurück und stand neben dem Bett.
"Du hättest nur fragen müssen."
"Das sah nicht nach einer Möglichkeit aus."
Zephyr setzte sich auf, rieb sich mit verzogener Miene die Handgelenke, auf denen immer noch der Druck der nun gelösten Fesseln lag.
"Danke."
Dann aber stand er auf und huschte zu jener Kiste, auf der er als Blaumeise gelandet war, und auf der noch immer unberührt seine Sachen lagen. Rasch streifte er sich seine Kleider über, warf dabei immer wieder verstohlene, misstrauische Blicke in Annas Richtung.
"Du weißt aber schon, das Salz und Pulver nicht reichen um dein Problem zu lösen?", fragte Anna fröhlich, während sie auf ihrem Bett saß, unverschämt vergnügt wirkte. Die Beine locker überschlagen und die Haare auf ihren Brüsten, alles in allem wirkte sie überraschend bedeckt.
"Ja, das weiß ich", antwortete Zephyr knapp, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Inhalt seiner Tasche unangetastet geblieben war. Ein paar Blätter Blutkraut, ein paar getrocknete Blüten der Greifsblume und eine Geisterknolle fehlten ihm noch. Immerhin wusste er genau, wem er die ersten beiden Zutaten abkaufen und konnte. Und nach der letzten fragen konnte er dort auch.
"Hm... Ich sollte mich wohl entschuldigen. Für meine Reaktion." Anna klang ernst, blickte nachdenklich zu Boden.
"Schon gut."
Zephyr hängte sich die Tasche um und blickte wieder zu Anna auf.
"Ich hätte mich aus deinen Angelegenheiten halten sollen.
Das werde ich jedenfalls von nun an tun."
Er nickte ihr zu, lächelte höflich und fügte hinzu:
"Danke für die Sachen und gute Reise."
"Hm." Anna erhob sich und streifte sich in der Schnelligkeit einer ewig wiederholten Routine Hose, Stiefel und Gürtel über, einen Bluse die sie vorne nur locker schloss. Rasch hatte die Piratin ihre beiden Säbel am Gürtel beschäftigt und grinste Zephyr an. "Ich meins ernst. Deshalb werden ich dir helfen das restliche zeug einzusacken."
Zephyr schüttelte den Kopf.
"Ich werde viel Zeit brauchen und frühestens morgen wieder in der Stadt sein.
Wolltest du nicht ablegen?"
Er verschränkte die Arme und musterte die nun wieder bekleidete Piratin skeptisch.
"Außerdem - und ich möchte dir damit nicht zu nahe treten - glaube ich, dass ich im Wald alleine besser aufgehoben bin."
"Bitte, bitte, wie du willst." Gespielt verletzt hob Anna die Hände gen Himmel und wandte sich ab. "Dann sag ich eben nicht wo man die Knolle findet."
"Das musst du auch nicht", seufzte Zephyr. "Ich werde sie auch ohne dich finden."
Es war besser so.
Anna würde ihn ohnehin nur ablenken.
Und er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Sie war schön, ja, und auf eine Weise stark, die er bei Frauen als sehr anziehend empfand. Ihr Humor und loses, unverschämtes Mundwerk waren erfrischend, wirkten so ehrlich und unbeschwert, verglichen mit dem Umgang, den Zephyr tagein tagaus erlebte.
Aber dann war da ihr Temperament, das er ganz und gar nicht einschätzen konnte. Das mit einem Mal aufkochte und sich in glühend heißer, kraftvoller Wut entlud, ohne dass es vorhersehbar war. Und das schlimmste war, dass all diese Gründe Anna gefährlich für ihn machten.
"Es ist besser für uns beide.
Du kannst in See stechen und deinen Geschäften nachgehen und ich muss meine Zunge nicht zügeln."
"Uh ", flüsterte Anna gespielt demütig, blinzelte durch lange Wimpern zu dem Eiself auf. "Das klingt ja wie eine Drohung. Bitte, zügle deine Zunge nicht, es macht viel mehr Spaß wenn..."
Den Satz nicht vollendend sondern einfach frei im Raum schweben lassend wandte Anna sich ab, öffnete die Tür ihrer Kabine.
"Hier geht's raus, Schneeflöckchen."
Zephyr antwortete nicht, sondern verschwand einfach.
Er hatte was er wollte und wenigstens schien er nicht mehr Gefahr zu laufen, von Anna aufgespießt zu werden.
Das war immerhin etwas.
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RE: 04. Die Suche nach der Geisterknolle
in Herbst 520 05.09.2015 21:41von Glacies Citris • Herzog | 15.151 Beiträge
"Oh, was sehen diese alten Augen da?", flötete eine Frauenstimme, rau und knorrig wie der Stamm eines uralten Baumes. "Der Junge, der nach dem Geist sucht, ist zurück, die arme Kestrel wieder zu besuchen?"
Der Duft tausender Kräuter und Blumen, die zum Trocknen auf sämtlichen Flächen der Kleinen Hütte verteilt waren oder von der Decke herabhingen. Kaum dass Zephyr in das Halbdunkel des Gebäudes eingetreten war - gebeugt, denn der Türrahmen war äußerst niedrig - und den Kopf vorsichtig wieder hob, stieß er auch schon an sogleich mit der Stirn an ein Bündel Knoblauchknollen. Und als er einen Schritt zur Seite machte, hätte er beinahe einen Topf voll weißer Blüten umgestoßen, der auf dem Boden stand. Kestrel, alt und zerfurcht, das Eisengraue Haar im Nacken zu einem Dutt gebunden, stand am Rand des Raumes, legte gerade ein paar Zweige auf ihre Anrichte. Dann wandte sie sich ihm ganz zu, die blauen Augen lebhaft wie die einer sehr jungen Frau.
"Ja", antwortete Zephyr, indem er der Kräuterfrau freundlich anlächelte. "Ich hatte gehofft, Ihr könntet mir etwas verkaufen."
Sie lachte darauf, ihr braungebranntes Gesicht schien für einen Moment lang nur noch aus Falten zu bestehen.
"Wie entzückend, dass du dafür von so weit her gekommen bist. Die arme, alte Kestrel ist gerührt."
Zephyr war nicht sicher, was er darauf erwidern sollte. Sie war alt, sie war einsam und das tat ihm leid. Doch heute hatte er auch nicht die Zeit, für den Rest des Tages ihren Erzählungen zu lauschen. Es war bereits Nachmittag und er wollte zurück in Brightgale sein, bevor die Tore schlossen.
"Was begehrst du denn, lieber Junge? Soll Kestrel dir einen Trank brauen, um deine Liebste zu bezaubern? Oder einen Tee gegen Husten geben?"
"Nichts dergleichen", erwiderte Zephyr nach einem kurzen Räuspern. "Ich brauche Blätter des Blutkrauts. Und Blüten der Greifsblumen, getrocknet..."
Noch während er sprach wandte die Alte sich lächelnd ab und griff summend nach einem Stoffbeutel, der von der Decke herabhing. "Beides hat die alte Kestrel da, lieber Junge. Nur fünf Kupferstücke erbittet sie, dann soll es dir gehören." Aus einer anderen Ecke des Raumes holte sie ein Kästchen hervor, zeigte Zephyr die erst darin befindlichen, goldgelben Blüten, dann die tiefroten Blätter im Beutel. Er nickte und zog die Münzen aus einer an seinen Gürtel eingenähten Stofffalte hervor, stockte dann aber in der Bewegung. Erneut räusperte er sich, als Kestrel die kupfernen Scheiben mit dem eingravierten Falken entgegennahm und fügte schließlich hinzu:
"Habt Ihr womöglich auch eine Geisterknolle?"
Die Stille, die sich hierauf über den Raum legte, gefiel Zephyr nicht. Es war eine tiefe, unberechenbare Stille, der nicht einmal das Gezwitscher der Vögel von draußen etwas anhaben konnte. Es erinnerte ihn an dieses eine Mal, als er versehentlich bei einer großen Gesellschaft einen hochrangigen Blutelfen als Halbblut bezeichnet hatte. Er war jung gewesen, hatte gerade erst begonnen, die Sprache zu lernen und vielleicht hatte ihn das vor einem grausamen Tod gerettet. Aber die Stille, die nach seinen Worten geherrscht hatte, hatte er nie vergessen. Eine Stille, in der jeder einzelne Anwesende den Atem angehalten und nicht gewusst hatte, was dazu zu sagen war, vermutlich noch nicht einmal, ob man diese Worte wirklich richtig gehört hatte.
Und nun stand Kestrel da und musterte ihn mit einem merkwürdigen Blick, verkniffenem Ausdruck und Falten in den Mundwinkeln, die so tief schienen, als gingen sie bis unter die alte Haut.
Zephyr öffnete schon den Mund, um seine Worte zurückzunehmen. Doch ein plötzlicher Laut unterbrach ihn. Hoch, zischend, abgehackt zerschnitt er die Stille und wurde, kaum dass er begann, abzuklingen, von einem neuen, identischen Klang ersetzt. Kestrels Gesicht verzog sich, ließ es für diesen Moment nur noch aus Falten bestehen, während ihr Körper heftig bebte. Es dauerte einen Moment, bis Zephyr begriff, dass sie kicherte.
"Eine Geisterknolle? Die alte Kestrel?"
Prustend drehte die Kräuterfrau sich zur Seite, presste die runzlige Hand gegen ihren Mund.
"Nein, nein, lieber Junge, die wirst du hier nicht finden. Kestrels Knochen werden sie nicht mehr dorthin tragen, wo dieses Pflänzlein wächst."
Zephyr horchte auf, die Enttäuschung, die sein Herz bei ihrer ersten Bemerkung noch weiter hatte sinken lassen, begann nun wieder, schneller zu schlagen.
"Dann kannst du mir sagen, wo man sie findet?"
Die Alte verstummte und musterte ihn ausgiebig aus blauen Augen, aus denen nun Nachdenklichkeit sprach.
"Ja, das kann die alte Kestrel.
Aber, lieber Junge, sei gewarnt.
Nur die jungen Leute und die Narren suchen nach der Geisterknolle ..."
"Aye, du alte Kräuterhexe lebst ja immer noch!" Die Frauenstimme zerbrach die letzten Reste dieser drückenden Stille, gefolgt wurden ihre Worte von einem herzhaften Kichern. Annas üppige rote Locken tanzten, als sie den Kopf einzog, in die Hütte trat und Zephyr breit angrinste, beinahe schon lasziv. Die Piratin hatte einige Male Kontakt mit Kestrel gehabt, doch lag der letzte gut zwei Jahre zurück. Dank dieser alten Frau hatte Anna auch noch beide Augen, auch wenn das verletzte nicht mehr so gut sah wie das andere. "Erinnerst du dich an das Souvenir? Ich hab’s dir mitgebracht."
Irgendwie hatte Zephyr erwartet, Anna bald wieder zu sehen.
Erhofft, vielleicht sogar?
Nein, das wäre lächerlich. Er war zu alt, sich von Leidenschaft bezirzen und von Gefahr verlocken zu lassen, hatte sein Herz gut verschlossen, damit keine Frau jemals wieder hinein gelangen würde. Und das würde so bleiben, solange der Fluch auf ihm lag. Und selbst wenn er gebrochen werden sollte...
"Ihr kennt euch", stellte Zephyr fest, weniger um etwas Sinnvolles zu sagen, sondern mehr, um seine eigene Gedanken zu unterbrechen.
"Oh ja, die alte Kestrel ist vertraut mit der roten Anna." Das Lächeln der Kräuterfrau ging von einem Ohr zum anderen. "Hast du ihn mitgebracht?"
"Natürlich, ich kann doch die alte Kräuterhexe nicht vergessen." Anna grinste und schwenkte leicht die Flasche. "Frisch gefunden."
Die Piratin schritt mit wiegenden Hüften näher, hauchte einen kurzen Kuss auf die runzelige Wange der alten Frau, stellte den Wein in ihrer Nähe ab.
"Und komm schon, Kestrel", Anna lachte wieder fröhlich auf. "Du weißt doch wo diese hübschen Blumen wachsen. Verrats mir, bitte?"
"Alles zu seiner Zeit, Kind, alles zu seiner Zeit.
Die Jahre lasten auf deinem Rücken noch nicht wie auf der alten Kestrel, also kannst du noch warten."
Zephyr schaute zu, wie die alte Frau erstaunlich behände mit der Flasche hantierte, die allem Anschein nach Wein aus den südlichen Gefilden des Reichs beinhaltete, und sie in einem kleinen Schrank verstaute. Als sie sich wieder umdrehte, musterte sie sowohl den Elfen als auch die Piratin abwechselnd eindringlich.
"Der Junge verdient die Geschichte, wie auch du sie verdient hattest."
"Aber Vorsicht, werte Kestrel", kicherte Anna und kniff leicht in Zephyrs Seite. Sie giggelte und ließ sich auf der Kante eines nahen Tisches nieder. "Das Schneeflöckchen hier ist hoch schreckhaft, so scheint es mir. Beinahe wie ein Vogel."
Zephyr zuckte unter der plötzlichen Berührung zusammen und wich zur Seite - möglichst weit von Anna fort.
"Was ist das für eine Geschichte?", fragte er und musste sich ein "diesmal" verkneifen. Kestrel hatte ihm bereits bei seinem letzten Besuch unzählige Geschichten erzählt. Und hilfreich war keine einzige gewesen.
"Die Geschichte der Geisterknolle, lieber Junge", antwortete das Kräuterweib lächelnd. "Möchtest du dich nicht setzten, während die alte Kestrel einen schönen Hagebuttentee für dich kocht und dir erzählt, was es mit der Knolle auf sich hat?"
Auf den Tee könnte ich verzichten, wenn du mir dafür gleich erzählst, wo ich sie finde...
"Ich stehe lieber", antwortete Zephyr und riss sich zusammen, um keinen nervösen Seitenblick in Annas Richtung zu werfen. "Aber den Tee würde ich nicht ablehnen."
Nach einem halben Tag der Wanderung durch den Wald kam ihm ein heißes Getränk eigentlich gerade recht.
"Oi, Kestrel, bekomme ich keinen Tee angeboten?" Anna kicherte und verbarg es schlecht geschauspielert hinter einer Hand. Sie hatte sichtlich Spaß an dem ganzen, strahlte förmlich vor Tatendrang.
"Hach, Mädchen, wenn du Tee willst, wird die alte Kestrel dir auch einen kochen.
Leider hat sie aber keinen Rum im Schrank, um ihn dir zu versüßen."
Zephyr lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme, während er mit äußerer Gelassenheit und innerer Ungeduld beobachtete, wie die alte Kräuterfrau einen Kessel Wasser aufsetzte.
"Muss ich diese Geschichte kennen, um eine Geisterknolle zu finden?", fragte er langsam, ruhig, um nicht zu unhöflich zu wirken.
"Es wäre eine Schande sie nicht zu hören", flüsterte Anna übertrieben laut zurück. Sie grinste breit und wippte leicht auf ihrem Platz vor und zurück. "Kestrel kann sie richtig gut erzählen. Da hab sogar ich ’ne Gänsehaut."
"Das sollte das Mädchen auch, genau wie der liebe Junge", erwiderte die Alte, ohne sich ihren Besuchern wieder zuzuwenden. "Denn die alte Kestrel erzählt nichts als die Wahrheit."
Für eine Weile war die Hütte in Schweigen gehüllt, nur die Geräusche des Waldes drangen dumpf hinein. Dann zischte der Teekessel. In drei Tassen aus Ton, die schon so einiges an Gebrauchsspuren aufwiesen und von denen keine der anderen glich, goss Kestrel die brodelnde Flüssigkeit, reichte Zephyr und Anna jeweils eine, ehe sie sich auf einen Stuhl setzte, der dabei so laut quietschte, dass man schon befürchten konnte, er würde auseinanderfallen.
"Weiß der liebe Junge", begann die Frau mit ihrer Erzählung, "welche drei Arten von Menschen man unschuldig und rein nennen kann?"
Anna nahm die Tasse, nippte an dem Tee und kicherte. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, lässig und eindeutig entspannt.
"Erzähl es uns, Kestrel."
"Hat das rote Mädchen etwa wieder vergessen, was die alte Kestrel ihm damals erzählt hat?
Und hat der liebe Junge gar keine Idee?"
Kestrels Seufzen klang gespielt, doch ehe Zephyr sich erweichen und raten konnte, fuhr sie schon fort:
"Unschuldig, rein ohne jeden Zweifel, das sind jene, die ihr Leben den Göttern und nur ihnen verschreiben, das sind jene, deren Leiber die Lust des Fleisches nie gespürt haben und das sind jene, deren Herzen vom Tod nicht verdunkelt werden.
Und nahe dieses Waldes lebte vor vielen Jahren eins eine junge Frau, die all diese Tugenden in sich vereinte..."
Murrend lehnte Anna sich weiter zurück und nippte an ihrem Tee, verzog angewidert das Gesicht. Ohne Rum schmeckte das nicht, egal wie viel Mühe man sich beim Brauen gab.
Die Geräusche, welche Anna von sich gab, führten zu einer kurzen Pause und ernteten strafende Blicke aus Kestrels Augen.
Dann jedoch fuhr die alte Frau unbeirrt fort, als wäre gar nichts geschehen.
"Ihr Name war Helene. Liebreizend und zart war sie, doch es war nicht einzig ihre Erscheinung, die dazu beitrug. Als Priesterin diente sie im Tempel, tagein, tagaus, frommer und froher, als jeder andere es tat. Oft kümmerte sie sich um die Verletzten und Kranken, wohnte aber auch den Sterbenden in ihren letzten Stunden bei und spendete ihnen Trost, schenkte ihnen Hoffnung, bis sie schließlich mit lächelnden Lippen aus dem Leben schieden. Und sie selbst schloss ihren Frieden mit dem Tod, akzeptierte ihn als Teil des Lebens und weder im Wachen oder im Traum verfolgten sie die Seelen der Verblichenen.
Unzählige Männer umwarben sie und versuchten, ihre Gunst zu erlangen, doch Helene wies sie alle zurück, denn ihr Leben gehörte den Göttern und ihr Herz dem Dienst an ihnen..."
Die Geschichte einer Heiligen also. Einer Frau ohne Makel, ohne Fehler. Zephyr hatte sich immer gefragt, worin der Reiz an diesen lag, denn eine solche Figur war einfach nicht greifbar. Zu glatt, zu abstrakt, ein Konstrukt aus Licht und Nebel, das ihm nicht einmal erstrebenswert schien, waren es doch die Unebenheiten, welche eine Person erst lebendig und interessant machten.
"Jetzt kommt der interessante Teil." Anna grinste breit und zwinkerte dem Eiselfen neckend zu. Sie war bestimmt keine Lichtgestalt, keine Heilige.
Kestrel ging nicht auf Annas Kommentar ein, sondern fuhr in aller Ruhe fort:
"Ein Freier allerdings war besonders beharrlich. Er war ein junger Seemann, der einzige Überlebende eines Schiffbruchs. Schwer waren seine Wunden, hoch sein Fieber, sodass die meisten Heiler schon alle Hoffnung aufgegeben hatten. Nicht aber Helene - sie pflegte ihn geduldig und unbeirrt, sprach sanft mit ihm und sang ihm manchmal leise Lieder. Und mit der Zeit genas er, wurde kräftiger, das Leben kehrte in seinen Leib zurück. Gleichzeitig aber verliebte er sich so tief in Helene, dass er sich, noch ehe er wieder vollkommen gesund war, bereits schwor, sie zu seiner Braut zu machen.
Und so kam es, dass er eines Morgens, nur wenige Wochen nachdem er das Krankenbett verlassen hatte, vor der Türe ihres Zimmers stand, einen Strauß selbstgepflückter Frühlingsblumen mit sich trug und um ihre Hand anhielt."
An dieser Stelle machte die Alte eine Pause. Prüfend schaute sie ihren Zuhörern in die Augen.
"Und?", fragte sie. "Was glaubt ihr, tat Helene dann?"
"Das gleiche wie immer. Sie versuchte ihren Freier mit sanften Worten abzuservieren." Anna stellte die Tasse ab und das Grinsen verebbte. "Nur akzeptierte er vermutlich kein Nein, egal wie süß es war."
Zephyr entging die Veränderung in Annas Mimik nicht. Er führte seine eigene Tasse zum Mund, trank einen kleinen Schluck Tee und kam dabei nicht umhin, festzustellen, dass das eine interessante Reaktion von einer Frau war, die sich selbst schwer damit tat, ein Nein zu akzeptieren.
"Richtig, Mädchen, Helene wies ihn zurück, doch er nahm es nicht hin. Jeden Tag kehrte er zu ihr zurück und fragte sie erneut und jeden Tag erhielt er die gleiche Antwort in sanften, bestimmten Worten.
Was der Seemann aber nicht wusste, war, dass Helenes Tränen Nacht für Nacht ihr Kissen tränkten, denn sie liebte ihn ebenfalls, konnte seinen Antrag jedoch nicht akzeptieren, weil sie den Göttern geschworen hatte, sich niemals einen Mann zu nehmen."
Erneut hielt Kestrel inne, ließ ihre alten Augen über das kleine Publikum gleiten, als erwarte sie wie eine Reaktion von ihren Zuhörern. "Keiner von uns ist blutjung und närrisch, wir kennen das Liebesglück ebenso wie den Schmerz und die Vergänglichkeit." Sie seufzte und ihr Blick wurde traurig. Zephyr bemerkte ihn diesem Moment, wie tief sie wirklich in der Geschichte steckte. Sie erzählte wie eine Frau, welche die Fehler ihrer Jugend bereute. Als wäre sie selbst dort gewesen.
"Aber Helene... ihr war all das unbekannt. Tag und Nacht litt sie an dieser unbekannten Krankheit, die kein Arzt, kein Zauber und kein frommes Gebet heilen konnten. Sie wusste nicht ein noch aus, ihre Freude und ihr Appetit erstarben, sie stürzte sich in Arbeit und Pflicht, doch ihre Sehnsucht ließ sich nicht töten.
Und der Seemann fand immer wieder zurück zu ihr, besuchte sie während der Gottesdienste, wenn sie im Garten die Blumen und Kräuter hegte oder in der Bibliothek die heiligen Schriften ordnete. Und immer wieder begegnete er Helene in trauter Zweisamkeit, um sie daran zu erinnern, was er für sie fühlte.
So kam es schließlich, dass sie nachgab und einwilligte, den Seemann heimlich auf einer Lichtung im Wald zu treffen."
An dieser Stelle senkte Kestrel ihre Stimme, bis nur noch ein unheilvolles Flüstern blieb.
"Am vereinbarten Tage besuchte er also jenen Ort, setzte sich auf einen moosbewachsenen Stein und wartete. Stunde um Stunde verging, ohne dass Helene erschien, und in ihm machte sich schon die Sorge breit, sie würde nicht kommen. Doch dann, als der volle Mond über den Wald kletterte und sein fahles Licht durch die Zweige fiel, stand sie vor ihm. Willig ließ sie sich in seine Arme sinken und sie teilten einen Kuss, der für all das Verlangen, all die Sehnsucht, all den Schmerz der vergangenen Wochen entschädigte.
Als sie sich voneinander lösten, sich tief in die Augen schauten, lächelte Helene. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Und mit einem letzten Blick voller Liebe und Bedauern zückte sie einen verborgenen Dolch. Ihr Geliebter konnte nicht schnell genug nach ihrem. Handgelenk greifen, fasste nur den Zipfel ihres Ärmels, als sie sich die Klinge in den Bauch trieb.
Auf dieser Lichtung starb Helene, gab ein Leben in die Hände der Götter, wie sie es versprochen hatte und war frei von dem Zwiespalt in ihrem Herzen.
Vielleicht hatte sie gehofft, dass der Seemann ihr folgen würde. Vielleicht aber hatte sie auch geahnt, dass er bei aller Liebe für sie dennoch nicht bereit war, sein Leben zu opfern. Er ließ sie zurück, allein, tot und kalt, zog in die Welt und kehrte nie zurück.
Doch dort, wo Helenes Blut den Boden berührt hatte, wächst heute eine Pflanze und öffnet in Menschen Mondnächten ihre Blüten, weiß, durchscheinend und rein, wie die Seele eines unschuldigen Wesens.
Und diese Pflanze nennt man Geisterknolle."
Anna stellte ihre Tasse ab, so schnell, dass einige Tropfen über den zerschrammten Rand gelangten, den Tisch benetzten. Ihr Appetit war vergangen, sie hatte keine Lust mehr auf den Tee, der ihr ohnehin nicht schmeckte. Zu schwer lag diese klebrig bitter-süße Geschichte auf ihrem Magen, sie wollte diese Märchenansicht von Liebe mit bitteren und giftigen Worten verderben, zerspringen Lassen wie ein Spiegel, getroffen von einem schweren Hammer.
"Gut. Und wo ist jetzt diese Blume?" Annas Stimme klang zu hart, zu gepresst. Früher hatte sie auch von so einer Liebe geträumt. Wahr und Innig. Und dann war Mikaal gekommen. Saure Galle stieg ihre Kehle auf. "Sprich, Kestrel."
Zephyr warf Anna einen stummen, nachdenklichen Blick zu. Er hatte gemerkt, wie ihre Mimik sich während der Erzählung immer weiter verfinstert hatte, bis der Unmut schließlich ihr gesamtes Gesicht verzerrte. Die alte Frau jedoch ließ sich dadurch nicht beirren.
"Ihr müsst sehr tief in den Wald gehen", antwortete sie schulterzuckend. "Von der Tür meiner Hütte geradeaus, bis ihr an einen Bach geratet. Folgt ihm dann gegen den Strom zu seiner Quelle - dort werdet ihr die Ruine eines alten Wachpostens finden. Sucht nach dem Grundriss des Wachturms, er ist kreisförmig, und lauft in diese Richtung weiter. Wenn ihr dann irgendwann an eine Formation aus drei Felsen gelangt, die spitz emporragen, wisst ihr, dass ihr richtig seid. Auf der nächsten Lichtung wird die Geisterknolle blühen." Kestrel kicherte leise. "Zumindest wenn der Mond voll oder zunehmend ist... aber da habt ihr noch zwei Nächte Zeit."
Zephyr nickte und stellte seine artig geleerte Teetasse brav auf ihrem Tisch ab. "Habt Dank, Kestrel. Ihr wart eine große Hilfe."
Bevor er sich aber umdrehen konnte, ergriff die Alte seinen Arm. Erstaunlich fest, wie er bemerkte, als er versuchte, ihn wegzuziehen. Und als er der Frau in die Augen blickte, sprach sie:
"Der liebe Junge sollte sich in Acht nehmen. Dunkle Orte bergen dunkle Kräfte - und nicht alles, was dort seinen Ruheort hat, schläft auch immer."
Eine leichte Gänsehaut legte sich auf Zephyrs Arme, weniger aufgrund der Warnung selbst, sondern wegen des Tonfalls, der subtilen Veränderung in Kestrels Stimme. Er konnte nicht festmachen, was es war, doch etwas Unheilvolles hallte darin wieder, etwas, das ihm Schauer über den Rücken laufen ließ. die plötzliche Ernsthaftigkeit vielleicht ...?
"Danke", wiederholte er lächelnd. Dann schob er ihren Arm sanft beiseite, was sie zuließ. "Ich werde es beherzigen."
Daraufhin drehte er sich um und trat nach draußen, spürte seinen Atem freier werden, nicht länger beschwert von dem schweren Duft tausender Kräuter. Und sein Herz beflügelt von der Aussicht auf ein näher rückendes Ziel.
Die Stimmung war ungewöhnlich still, denn Anna schwieg, sagte nichts. Sie ging ohne zu zögern, sah weder zurück, ob Zephyr folgte, nur ob die Richtung stimmte. Sie wollte einfach nur, dass es endlich vorbei war.
Was eigentlich?
Der Alptraum. Die ständige Erinnerung an Mikaal.
Anna massierte sich leicht die Schläfen und nahm sich fest vor, im nächsten Hafen eine Hure mit eiselfischem Blut zu nehmen. Und den oder die würde sie nicht gehen lassen, sondern so lange nehmen, nutzen, bis die Hure nicht mehr konnte.
"Anna."
Bei dem schnellen Gang, den sie einlegte, hätte man fast meinen können, es wäre sie und nicht Zephyr, der am meisten daran gelegen war, diese Geschichte zum Abschluss zu bringen. Überhaupt hatte er keineswegs den Eindruck, dass es ihr darum ging, einen Fehler zu begleichen - oder eine Möglichkeit zu finden, ihn doch für eine Nacht zu gewinnen.
"Warte. Bitte."
Die Zähne zusammen gebissen verharrte Anna, stoppte so abrupt, dass ihre Absätze tiefe Abdrücke in dem weichen Waldboden hinterließen. Die Hände kurz zu Fäusten geballt, dann wieder entspannt, sah Anna über die Schulter zurück, schenkte Zephyr ein kurzes Lächeln.
"Bin ich zu schnell für dich, Schneeflöckchen?" Obwohl sie sich bemühte, ihr Spott war dumpf, ihre Stimme einen gehetzten Unterton. "Das tut mir leid."
"Nein." Zephyr schüttelte den Kopf und blieb ebenfalls stehen, nur wenige Schritte von ihr entfernt. "Bist du nicht."
Er erwiderte das Lächeln nicht, verschränkte nur die Arme.
"Aber du musst nicht mitkommen und das wissen wir beide."
"Ich weiß." Waren ihre Worte nicht ein Widerspruch zu den seinen? Anna wusste es nicht, es war schwer die Masse an Gedanken und aufkeimenden Erinnerungen zu erdrücken. Letztendlich schaffte sie es, schlug wieder ein zügiges Tempo an. "Aber willst du deine Knolle nicht finden?"
Zephyr seufzte. "Doch, das will ich."
Er folgte Anna, holte den Abstand auf und tauchte gemeinsam mit ihr in die Dichte des Waldes ein, fernab von Wegen und Pfaden, die ihn hergeführt hatten. Es erinnerte ihn ein wenig an die Ausflüge, die er damals mit Vaera unternommen hatte. Umgeben von Natur war es so viel einfacher, ihre Macht zu spüren und ihre Kraft in Bahnen zu lenken, das hatte sie ihn gelehrt. Mit Wehmut dachte er an jene Worte zurück und schob sie schnell wieder beiseite, denn Vaera würde nicht eher zurückkommen, als all die anderen.
"Ich frage mich nur, was du davon hast, mitzukommen."
"Etwas weit kostbareres als eine seltene Blume." Annas Stimme klang eiskalt und so schrecklich entschlossen, blanker Stahl einer gezogenen Klinge. Zwar war sie nicht gegen Zephyr sondern gegen die Vergangenheit gerichtet, doch sie war vorhanden, trieb Anna gnadenlos voran. Immer weiter, über Wurzeln und Unterholz hinweg. Unaufhaltsam.
Zephyr zuckte bei der Härte ihres Tonfalls leicht zusammen. Er wollte weiterbohren, ließ es aber stattdessen auf sich beruhen. Anna schien nicht in Redelaune zu sein und ihre Faust wollte er nicht ein weiteres Mal spüren, nur weil er die falschen Fragen stellte. Auch wenn er ihr im Wald vermutlich haushoch überlegen war.
Also schritten sie schweigend weiter, über den dichten Laubboden unter fallenden, roten, braunen und gelben Blättern hinweg. Der ohnehin schon fortgeschrittene Tag alterte schneller und schneller, als sie schließlich den Bach erreichten, dämmerte es bereits.
"Weißt du, wie weit es noch zur Ruine ist?", fragte Zephyr und verfluchte sich dafür, Kestrel die Frage nach der Zeit nicht selbst gestellt zu haben.
"Nicht mehr weit. Man kann ein Stück des Gemäuers bereits sehen." Anna deutete auf eine Lücke zwischen den Bäumen, wo man einen kurzen, verschwommenen Blick auf zusammen gefallene Steine erhaschen konnte, von Moos überwuchert und verfallen. Vergessen von der Menschheit und beinahe verschlungen vom Wald.
"Ah... jetzt sehe ich es auch."
Zephyr hielt tapfer auf die alten Steine zu, die sich aus dem herbstlichen Waldgrund hervorhoben, doch er spürte, wie seine Füße schmerzten, darum bettelten, von den festen Stiefeln befreit zu werden. Und auch der Rest seines Körpers, genau wie sein Geist, sehnten sich nach einer Pause. Verwunderlich war das nicht, schließlich war er bereits seit dem frühen Morgen wach, hatte viel Aufregung, aber wenig Ruhe erlebt. Ächzend ließ er sich auf einem Stein nieder, der wohl einst zu einer Mauer gehört hatte, schloss einen Moment lang die Augen.
Anna packte Zephyr am Arm und zog ihn wieder hoch, dirigierte ihn tiefer in die Ruine, in eine trockene, geschützte Ecke.
"Wir sollten hier übernachten, in der Nacht wandere ich hier nur ungern herum.", Anna sah sich um, befand, dass die Ecke für ein Nachtlager geeignet war.
"Ich auch nicht", erwiderte Zephyr und ließ sich mitschleifen, nachdem er eine Weile unwillig gezögert hatte. Er hatte nicht die Kraft, sich zu wehren und begriff auch, dass sie Recht hatte. Er war müde, sie vermutlich auch, und bei Müdigkeit nutzten auch scharfe Elfensinne nicht viel.
"Hast du Proviant dabei?", fragte er leise, während er sich nach trockenem Holz für ein Feuer umschaute.
"Nur wenig." Anna wühlte in einer Tasche an ihrem Gürtel, fand ein wenig Dörrobst und eine Hand voll süßer, exotischer Gebäckstücke in einem kleinen Leinenbeutel. "Hab nicht damit gerechnet so lang weg zu bleiben."
"Ich schon."
Zephyr lächelte schwach und sammelte weitere Holzscheite. Er fand sich in der Wildnis gut zurecht und würde auch ohne mitgeführtes Essen nicht verhungern. Trotzdem zog er nie unvorbereitet los. Als er schließlich nach einer Weile des Umherlaufens und Suchens genügend Äste und Zweige gesammelt hatte, schichtete er diese in einer Vertiefung im steinernen Boden auf und begann daraufhin, in seinem Rucksack zu kramen. Hervor kamen ein kleiner Laib Brot, ein Stück Hartkäse, ein Beutel gepökeltes Fleisch - und schließlich endlich die Zunderbüchse.
Nach einigen Versuchen brannte dann auch endlich ein Feuer - angenehmerweise, denn die Nacht würde sicher noch kühler werden.
Es raschelte, einige kleinere Schmuckstücke, geraubt und vergessen fielen zu Boden, als Anna ihren Mantel aus ihrer Tasche zerrte.
"Ups." Rasch beeilte sie sich die vielen kleinen Broschen, Ketten und Ringe wieder einzusammeln. "Hab ganz vergessen, dass da noch was drinnen ist."
Sich den Mantel überziehend ließ Anna sich an dem Feuer nieder, seufzte schwer und streckte die Beine aus, massierte sich die Waden. "Verdammt, ich bin zu sehr die See gewöhnt."
"Und ich zu sehr an eine warme Stube."
Zephyr streckte sich, dann zog er eine Decke aus seinem Rucksack, hüllte sich in diese ein und setzte sich ans Feuer. So war es wenigstens warm.
Er riss ein Stück seines Brotes ab, überlegte dann einen Moment und hielt es vage in Annas Richtung.
"Du auch?"
Ein neckender Funken blitzte in Annas Augen auf, sie grinste und näherte sich Zephyr langsam, war ein wenig zu nah als nötig gewesen wäre.
"Zu dir sag ich doch nie nein~"
"Es ging nicht um mich, sondern das Brot", antwortete Zephyr abwehrend und brach ein Stück für sie ab. Sie mochte ihn aus Gründen folgen, die er nicht verstand, und es machte ihn nervös, wie sie ihn anschaute, doch er musste ihre Ausdauer und Beharrlichkeit bewundern. Und verhungern lassen wollte er sie ebenfalls nicht.
Aber er wusste nicht, was er mit ihr anfangen sollte, wie er sie einzuschätzen hatte. Im einen Moment lächelte sie ihn auf eine Weise an, die ihn an seinem Fluch verzweifeln ließ, im nächsten verwandelte sie sich bei einem unbedachten Wort in eine rasende Furie ... und dann in ein sanftmütiges Geschöpf, wenn sie ein niedliches Tier erblickte. Dass Menschen viele Facetten hatten, wusste Zephyr schon seit langem, doch aus dieser Frau wurde er einfach nicht schlau.
Anna lächelte süffisant, nahm das Brot entgegen und hielt kurz Zephyrs Hand fest, hauchte einen kurzen Kuss auf dessen Fingerspitzen, ehe sie sich wieder zurückzog. Als wäre nichts geschehen aß sie in aller Seelenruhe ihr Brotstück, zusammen mit einer getrockneten Feige, bot die süßen, zähen Früchte auch Zephyr an.
"War einen Versuch wert", antwortete sie irgendwann mit einiger Verspätung, zuckte mit den Schultern.
Zephyr nahm das Obst schweigend entgegen, biss stumm und nachdenklich hinein. Zuckersüßer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus, das Fruchtfleisch schien seine Zähne, seinen gesamten Gaumen zu verkleben. Langsam kaute er, schluckte und erwiderte schließlich mit rauer Stimme:
"Nein. Ist war es nicht."
"Alles eine Sache der Ansicht.", Anna grinste und schluckte das klebrig süße Fruchtstück runter, ehe sie die Hände in Richtung des Feuers ausstreckte, leicht rieb und seufzten die Wärme genoss. Es wurde immer dunkler, binnen kürzester Zeit fielen nicht mal mehr die Strahlen der Abendsonne gelangten durch das Blätterdach des Waldes.
"Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?", murmelte Zephyr und schlang die Decke enger um sich, als ein kühler Windstoß durch die über Lichtung und Ruinen hinwegfegte. Hastig beendete er seine Mahlzeit und erhob sich. Im möglichst engen Umkreis der Ruine suchte er Pflanzen und Bäume, bis er sich für passende Stellen entschieden hatte, die - hätte man sie mit Linien verbunden - ein Fünfeck um das Lager bildeten. An jeder blieb er kurz stehen, legte seine Hände auf geschlossene Blüten, grüne Blätter oder raue Rinde, schloss die Augen und fühlte sich in die Macht des Waldes ein, die ihn von allen Seiten umgab. Beeindruckend, fast angsteinflößend hatte es gewirkt, als Vaera ihm vor so vielen Jahren zum ersten Mal gezeigt hatte, wie man sie erspürte. Doch er hatte schnell gelernt, dass diese gewaltige pulsierende Kraft des ein Werkzeug sein konnte, ein Schild, eine Waffe sogar - alles, was man sich denken konnte. Man musste nur die Furcht überwinden, sich auf sie einlassen, ihr hingeben. Flüchtig leuchteten Zephyrs Hände in einem warmen, haselnussfarbenen Licht auf, dann zog er zum nächsten Punkt weiter.
"Natürlich!", Anna legte sich gespielt entsetzt die Hand auf die Brust und lachte auf, beobachtete dann fasziniert den Eiselfen bei seinem Tun. Sie legte den Kopf schief, strich sich die dicken Locken aus dem Gesicht. "Was tust du da?"
Nachdem er alle fünf besucht hatte und sich wieder neben dem Feuer hinsetzte, atmete Zephyr tief durch und lächelte sanft. Die Aura des Waldes versagte nie darin, eine entspannende Wirkung auf ihn zu haben.
"Ich brauche Schlaf", erklärte er, "also habe ich... eine Art Kreis um unser Lager gezogen. Die meisten Tiere hält das Feuer fern, aber eben nicht alle und nicht immer. Sollte etwas Gefährliches in der Nähe sein, werde ich es rechtzeitig erfahren."
"Hu, interessant.", Anna kicherte auf und seufzte dann, ließ sich hintenüber fallen und lag dann auf dem Boden, das Haar wie ein roter Heiligenschein um ihren Kopf ausgebreitet. Sie wirkte wie eine müde Gottheit, deren vormals goldener Heiligenschein vom vergossenen Blut getränkt war. Bereit jederzeit wieder aus ihrem Schlummer aufzuschrecken und rubinrote Tropfen zu vergießen.
"Es hat mir auf Reisen mehrmals das Leben gerettet", erzählte Zephyr schmunzelnd. "Ich bin froh, es gelernt zu haben."
Nachdenklich betrachtete er Anna, die ausgestreckt auf dem Boden lag, beinahe so schutzlos wirkte, wie ein Käfer auf dem Rücken. Erneut fegte dieser eiskalte Wind über das Lager hinweg, ließ das Feuer flackern und Zephyr frösteln.
Während er sich tiefer in seine warme Decke einmummte, fragte er gedämpft durch den Stoff:
"Frierst du nicht?"
"Ein wenig." Anna klang so müde, sie rollte sich auf die Seite und lächelte, blinzelte Zephyr müde an. Der Wind spielte mit ihrem roten Haar, sie ließ es zu, zog nur den Kragen ihres Mantels höher.
Zephyr schaute sie lange an, dann seufzte er. Er hatte zu Viele erfrieren oder an den Folgen einer Erkältung sterben sehen, als dass er Anna einfach so dort liegen lassen konnte. Leicht zog er die Decke zurück und sagte:
"Wenn du willst, kannst du mit hier drunter... und wenn du mir bei deiner Wellenbraut versprichst, keine Dummheiten anzustellen."
"Hmmm." Anna war rasch unter die warme Decke geschlüpft, schmiegte sich auf gerade noch unschuldige Weise an den Elfen und kicherte. "Wir haben völlig unterschiedliche Wahrnehmungen von Dummheit."
"Haben wir wahrscheinlich", brummte Zephyr leise. "Aber ich glaube, dass du genug weißt, um zu verhindern, dass ich dich hier alleine lasse."
Als könnte ich das.
Er konnte vieles tun, doch jemanden in der Wildnis zurückzulassen, der definitiv nicht darauf vorbereitet war, gehörte nicht dazu. Und so ließ er zu, dass Anna sich an ihn drückte, wie man es vor so vielen Jahren auch in seiner Sippe getan hatte, in kalten Nächten und wenn Schneestürme oder anderweitig raues Wetter das Weiterziehen verhinderten.
Seine Gedanken wanderten zurück zu jenen Tagen seiner Jugend, Tage, die er manchmal vermisste, die ihn oft genug daran erinnerten, wie einsam er eigentlich war. Diese Erinnerungen schickten ihn schließlich in einen seichten Schlummer.
"Als ob du das könntest, Schneeflöckchen.", flüsterte Anna mehr zu sich selbst als zu dem schlafenden Elfen. Sie lächelte matt, ehe sie ihren Kopf auf seine Brust bettete, ohne zu fragen ihn als lebendes Kissen nutzte. Das war wesentlich bequemer als Waldboden.
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RE: 04. Die Suche nach der Geisterknolle
in Herbst 520 05.09.2015 21:41von Glacies Citris • Herzog | 15.151 Beiträge
Als Zephyr am nächsten Morgen erwachte, lag Anna halb auf ihm. Eine ihrer roten Locken hatte sich in der Nacht verirrt und kitzelte sein Kinn. Ihre Augen waren geschlossen, die vollen Lippen etwas geöffnet und so nah, dass ein leichtes Vorbeugen gereicht hätte, um sie zu küssen. Der ruhige, regelmäßige Atem verriet Zephyr, dass sie noch schlief. Und seiner Meinung nach durfte das gerne noch ein wenig so bleiben.
Vorsichtig, um die schlafende Frau nicht zu wecken, setzte er sich auf und legte seinen Teil der Decke so zusammen, dass er ihren Kopf darauf betten konnte. Dann stand er auf, unterdrückte ein Ächzen ob seiner schmerzenden Muskeln. Zu sehr hatte er sich in den vergangenen Jahren an weiche Betten gewöhnt.
Das Feuer war mittlerweile erloschen, nur noch ein wenig Glut befand sich in der Feuerstelle, auch das Schüren nutzte nichts. Doch das Sonnenlicht, welches über der Lichtung durch ein blaues Himmelsloch im Blätterdach herabwanderte, war trotz der kühlen Luft warm und golden. Farbenfrohe Blätter tanzten dann und wann zu Boden und Vögel sangen, um den Tag zu begrüßen.
In dieser friedvollen Atmosphäre schwelgend, folgte Zephyr langsam dem lebhaften Plätschern der Quelle. Als er dort angekommen war, drehte er sich noch einmal kurz um, um sicherzustellen, dass Anna noch schlief, streifte dann aber Mantel und Wams ab und tauchte die Hände in kühles Quellwasser, um sich zu waschen und richtig wach zu werden.
Langsam erwachte Anna, blinzelte und rieb sich die Augen. Sie setzte sich nicht auf, denn vermutlich reichte eine einzige Bewegung und sie würde das reizvolle Geschehen direkt vor ihrer Nase abbrechen. Allerdings musste sie sich auch das Sabbern vor Gier verkneifen, denn es war reizvoll zu sehen, dass Zephyr ohne Wams nicht so zerbrechlich war, wie es den Anschein hatte. Sehnig war er, Anna glaubte sogar den Schatten einiger Narben erhaschen zu können.
Sanft löste Zephyr das Band, welches sein Haar seit dem gestrigen Tag zusammengefasst hatte. Lose fielen die glatten, weißen Strähnen nun auf Rücken und Schultern, und als er mit den Fingern hindurchkämmte, bemerkte er, dass sie wieder einmal länger geworden waren, ihm bis über die Hüfte reichten. Er hatte sein Haar gerne lang, musste sich aber eingestehen, dass er es bald wieder schneiden musste. Die Spitzen waren so dünn und brüchig...
Seufzend massierte er sich die schmerzende Kopfhaut und wusch anschließend seinen Kopf. Dann begann er langsam und geduldig, das Haar zu flechten, befestigte es diesmal lockerer und sanfter.
Anna spürte wie sich in ihrem Bauch ein warmer Knoten bildete, die Wärme tiefer sackte, sich schwer, heiß, feucht und pochend zwischen ihren Schenkeln niederließ, während sie mit gierigem, hungrigen Blick beobachtete, wie sehnige Muskeln sich unter heller, beinahe leuchtender Haut bewegten. Sie biss sich auf die Unterlippe, griff langsam, vorsichtig unter die Decke, zwischen ihre Schenkel und bemerkte mit halbem Grinsen, dass sie heiß. Bereit war.
Verdammt, Schneeflöckchen~
Ein leises Rascheln, als ein Windstoß durch die Baumkronen ging und einige goldene Blätter herabwehte, riss Zephyr aus seiner beinahe meditativen Entspannung. Aufmerksam lauschte er, blickte sich um ... und bemerkte, dass er beobachtet wurde. Er warf Anna einen kurzen, flüchtigen Blick zu, streifte sich dann hastig und fast schon auf ertappte weise das Wams über die zum Teil noch feuchte Haut.
"Ich wusste nicht, dass du schon wach bist", bemerkte er und schritt schließlich näher, als sein Körper wieder ordentlich mit Stoff bedeckt war. "Hast du gut geschlafen?"
Lasziv räkelte Anna sich, rollte sich auf den Bauch, das heiße Pochen in sich ignorierend. Sie beobachtete Zephyr aus grünen Augen, glänzend und bewundernd.
"Oh ja und mein Erwachen erst~"
"Hmm, das... ist schön."
Zephyr wandte hastig den Blick von Anna ab. Er konnte den Anblick ihrer glühenden Katzenaugen nicht ertragen, ebenso wenig den Ausdruck, mit dem sie ihn bedachte. Er erlebte den Traum eines jeden Mannes, alleine mit einer Frau zu sein, die ihn begehrte, als Tortur, gerade weil er dagegen kämpfen musste, sie ebenfalls zu begehren, gerade weil er der Verlockung nicht nachgeben durfte. Und er wusste nicht einmal, ob das anders sein würde, wenn sie die Geisterwurzel fänden und er Yaeeta überzeugen könnte, sich zur ewigen Ruhe zu legen.
Er hatte so lange keine Frauen mehr freiwillig berührt, umarmt, geküsst, dass er nicht wusste, ob er es überhaupt noch richtig konnte, ihnen geben konnte, was sie wollten und brauchten. So viele von ihnen hatte er sterben sehen, wer konnte ihm sagen, dass er ihre kalten, toten Hände nicht im Nacken spüren, ihr Wehklagen in seinen Ohren widerhallen hören würde, wenn er versuchte, sich einer anderen hinzugeben? Selbst wenn Yaeeta ihm vergeben würde, er glaubte nicht, dass er es selbst könnte. Schuld wog manchmal schwerer als jeder Fluch.
"Finde ich auch." Anna erhob sich langsam, streckte sich und gähnte. Genüsslich schlenderte sie ebenfalls an Zephyr vorbei zur Quelle, tauchte die Hände in das kühle Wasser, seufzte wohlig auf. Sie streifte rasch ihre Kleidung ab, wusch sich in dem kalten, erfrischenden Wasser und kleidete sich dann erneut an. "Wir sollten weiter gehen."
Zephyr schaute Anna erst wieder an, nachdem er sich durch ein kurzes Schielen vergewissert hatte, dass sie nicht nackt war. Seine Sachen hatte er weitestgehend zusammengepackt und nickte. Sie wussten nicht, wie lange der Weg noch sein würde...
"Möchtest du vorher noch etwas essen?
Oh, und wir sollten die Wasserschläuche auffüllen."
"Ich hab keinen Hunger.", Anna füllte mit breitem Grinsen die Wasserschläuche, reichte Zephyr den seinen. Dann erhob sie sich, klopfte sich etwaige Überbleibsel von der Nacht auf dem Waldboden ab. "Wenn wir jetzt aufbrechen, sollten wir noch vor Mittag da sein."
"Und müssen bis zum Abend warten, bis die Blume blüht, nicht wahr?"
Zephyr nahm seinen Schlauch entgegen und nahm einen kleinen Schluck. Dann holte er ein Stück Brot hervor und setzte sich in Bewegung. Er konnte auch beim Laufen essen.
Anna schien heute etwas bessere Laune zu haben als noch am Vortag. Das war zumindest der Eindruck, den Zephyr gewann, als sie die Ruinen hinter sich ließen und langsam tiefer in den herbstgoldenen Wald vordrangen. Er hakte trotzdem nicht weiter nach, was ihre Erfahrungen an diesem Ort betrafen. Er wollte nicht noch einmal erleben, wie ihre Stimmung von einem Moment auf den nächsten umschlug.
"Oh, wir finden bestimmt eine Möglichkeit", Annas Stimme nahm einen süffisanten Tonfall an, glitt in tiefere Tonebenen. Einen Ton, den man normalerweise bei erotischen Bettspielen anschlug, der die Haut streichelte und die Seele in Schwingung versetzte. "Ganz bestimmt."
Annas Worte fühlten sich an wie spitze Dornen, die sich mit Widerhaken in der Haut festsetzten. Zephyr beschleunigte seinen Schritt. "Bestimmt", antwortete er, aber seine Stimme war kalt, abweisend. Er stapfte weiter, schweigend, brütend. Er achtete nicht darauf, ob die Frau noch hinter ihm war.
Am liebsten hätte er sie angeschrien und geschüttelt, doch das war nicht seine Art. Er schluckte lieber, womit sie ihn bewarf.
Genervt verdrehte Anna die Augen und schloss auf, packte Zephyr am Arm und drehte ihn ruckartig zu sich herum, fauchte, gereizt wie eine wütende Katze.
"Was ist dein verdammtes Problem?! Bist du schon derart in Selbstmitleid versunken, dass du harmlosen Spaß von Ernst nicht mehr unterscheiden kannst?!", ihre Stimme war rau, wie mit einem Reibeisen bearbeitet, glühte vor Zorn wie eine frisch geschmiedete Klinge. "Was? Sag schon, Spitzohr, was ist dein verdammtes Problem?!"
Zephyr riss seinen Arm los und wich vor Anna zurück, blieb dann jedoch stehen, seine Stiefel gruben sich fest in den von weichen Herbstblättern bedeckten Waldboden. Er hatte alles geschluckt, die anzüglichen Kommentare, die provokanten Posen, aber nun ertrug er es nicht länger. Er gab sich keine Mühe mehr, Zorn und Frust aus seiner Stimme zu halten, als er heftig zurückgab:
"Du bist mein verdammtes Problem!
Erst fasst du mich an, wenn ich nein sage, du schlägst mich, wenn ich dir eine Frage stelle, du verfolgst mich, wenn ich sage, dass ich allein sein will und jetzt-!" Zephyr hielt inne, um Atem zu holen, ehe er weiter wetterte: "Jetzt nimmst du es mir übel, dass ich deinen Humor nicht teile!? Schön, dass das alles ein 'harmloser Spaß' für dich ist! Schön, dass ich ein so furchtbar lustiger Mann bin! Dann lach eben - aber lass mich da raus!"
"Dann verkriech dich auf ewig in deinem Selbstmitleid!", spuckte Anna wütend aus, spie die Worte wie pure, mit Gift bestrichene Pfeile Zephyr entgegen und wandte sich ab. Kleine Äste und Zweige zerbrachen lautstark unter ihrem Absatz, sie schnaubte zornig. "Als Tier hast du mir wesentlich besser gefallen, als als verbitterter Mensch!"
"Ja, es muss wundervoll sein, etwas in der Hand sitzen zu haben, das keine Widerworte gibt und dem man einfach die Federn stutzen kann, damit es nicht wegfliegt." Zephyr war zu zornig, als dass ihre Worte in diesem Moment geschmerzt hätten. Das würden sie erst im Nachhinein. Im Nachhinein tat alles immer mehr weh. "Tut mir leid, dass ich nicht zahm genug für dich bin!"
"Du hast keine Ahnung von Zähmen und wie es ist, zahm gemacht zu werden!", und damit ging Anna. Es wurde zu viel, sie würde ihn nur erwürgen.
Im Nachhinein, als sie schon auf dem Deck ihres Schiffes stand und sie langsam den Hafen Brightgales hinter sich ließen, bereute sie, dass sie die Zutaten nicht mit Gewalt an sich gebracht hatte. Das hätte Zephyr zumindest das Maul gestopft.
Zephyr rief ihr nichts hinterher, auch wenn er einen Moment lang versucht war, es zu tun. Doch er sparte sich seine Kraft in diesem Moment lieber und ging weiter vorwärts. Weit konnte es nicht mehr sein und Annas Hilfe brauchte er wirklich nicht, um die Lichtung zu finden. Sollte sie sich doch im Wald verirren, ihm sollte es recht sein. Alles war besser, als diese höhnische, schadenfrohe Furie im Nacken zu haben...
Als er die spitz zulaufende Felsformation erreichte, war es früher Nachmittag. Zephyr konnte die Lichtung sehen, auf der die Geisterknolle wachsen sollte, und hielt zügig darauf zu, bis er schließlich auf sattes, weiches Gras statt welkes, rutschiges Laub trat und warmes Licht ungefiltert durch Baumkronen auf der Haut spürte. Er blickte auf eine große Fläche, frei von Bäumen, bis auf eine Weide in der Mitte der Wiese, deren zu Boden hängende Blätter schon wie in Gold getaucht waren. Still war es hier, auf eine beinahe andächtige Weise, die ihn an einen Friedhof erinnerte.
Doch wie auch Friedhöfe, steckte dieser Ort in Wahrheit voller Leben. Weiße Schmetterlingsflügel streiften flüchtig und zart sein Gesicht, in einiger Entfernung schaute ein Reh erschrocken auf und sprang davon, als er sich ein wenig näherte, und er konnte etliche friedlich grasende Kaninchen erspähen. Auf den ersten Blick mochte man kaum glauben, welch grausige Geschichte sich hier einst abgespielt haben sollte. Aber Zephyr wusste nur zu gut, dass die Natur immer einen Weg fand, sich zurück zu erobern, was Menschen ihr genommen oder an ihr besudelt hatten. Die Natur scheute den Tod nicht, sie umarmte ihn, schuf neues Leben aus dem alten, verwelkten. Und das war manchmal ein wahrer Trost. Das Wissen, dass niemals jemals wirklich starb, weil alles miteinander verwoben war.
Nahe der Weide, wo ihr Schatten ihn leicht berührte, Muster aus Licht und Dunkel auf seine Haut zeichnete, ließ er sich auf einem großen, moosbewachsenem Stein nieder - vielleicht war es sogar der Stein aus der Erzählung. Vielleicht hatte hier wirklich einmal ein Seemann gesessen und auf seine Liebste gewartet, nicht wissend, dass sie seinetwegen bald ihren letzten Atemzug tun würde. Ob die Geschichte sich nun wirklich zugetragen hatte oder nicht, Zephyr musste gestehen, dass es auf traurige, morbide Weise passend war, dass er nun hier saß und auf den Untergang der Sonne wartete. Auch seine Liebe hatte getötet, auch er trug Schuld daran, dass Frauen vorzeitig ihre Leben ausgehaucht hatten. Er wollte es nicht noch einmal erleben. Noch einmal würde er es nicht ertragen.
Es ging ihm nicht darum, wieder die Nähe anderer Körper zu suchen. Warm und weich mochten sie sein, süß und verlockend, doch die reine Lust konnte er mit den eigenen Händen ebenso gut stillen wie zwischen zarten Frauenschenkeln. Es ging ihm nicht darum, sein Herz aufs Neue zu verschenken. Yaeeta hielt es fest in ihren kalten, toten Fingern, sie hatte es mit in ihr Grab genommen. Nach ihr hatte Zephyr nie mehr wahrhaft geliebt und er war sicher, dass es für immer so bleiben würde. Und es war gerecht - sie zu verschmähen, zu hintergehen, sie mit seiner Dummheit zu töten war sein größter Fehler gewesen, er sollte ruhig für den Rest seines Lebens daran nagen. Es ging ihm auch nicht darum, Erlösung zu finden, denn was er getan hatte, konnte nie wieder gut gemacht werden. Er konnte keine Vergebung verlangen, weder von Yaeeta, noch von dem Kind, das ungeboren in ihr geschlummert hatte und mit ihr gestorben war, noch von den Frauen, die der Fluch dahingerafft hatte. Er würde sich selbst niemals vergeben können.
Es ging ihm um etwas anderes. Zephyr wollte nicht länger, dass seine starke, vom Leben vernarbte, im Herzen so sanfte und verletzliche Yaeeta selbst im Tode keinen Frieden fand, als hasserfüllter Geist durch die Welt streifte, Unglück und Verderben brachte. Er wollte nicht, dass ihr kleines Kind, sein Kind, an ihre Seite gekettet war und von ihr durch diese Finsternis gezerrt wurde. Er wollte nicht, dass andere für seine Fehler büßen mussten. Er wollte die Bürde als Einziger tragen.
Mit der Dunkelheit kam schließlich die wahre Stille. Am Anfang war es nicht mehr als das Verstummen des Windes, als der rotgelbe Himmel sich langsam verdunkelte. Das Schwinden der Schmetterlingsflügel. Und irgendwann bemerkte Zephyr, dass die Kaninchen fort waren, die Vögel nicht mehr sangen. Kein Laub raschelte mehr unter den Bewegungen eines Tiers, kein Grashalm bog sich in einer sanften Brise.
Reglos war die Welt nun und stumm, das einzige lebende Wesen schien der weißhaarige Elfenmann zu sein, der auf einem Stein saß und den Mond erwartete, das einzige Geräusch sein starker, stetiger Herzschlag. Er war allein, spürte die Einsamkeit klamm um sein Herz. Und trotzdem war ihm, als wäre da noch etwas anderes, als würden geisterhafte Augen auf ihm ruhen, ihn verfolgen. Doch wann immer er sich umdrehte, sah er nichts als diese Lichtung im schwindenden Licht und den dunkel in den Himmel heraufragenden Waldrand. Aber das Gefühl verschwand niemals wirklich. Schwer lastete das Gewicht auf seinen Schultern, die Schuld schien ihn zu erdrücken. Yaeeta... was wäre geschehen, was hätte sein können, wäre er nicht schwach geworden, hätte er sie nicht so feige hintergangen? Vielleicht wären sie dann immer noch vereint, vielleicht würde es ihr besser gehen. Vielleicht wäre sie endlich glücklich. Ein erwachsenes Kind hätten sie, vielleicht zwei, vielleicht sogar ein drittes. Enkel, mit etwas Glück. Hätte er es nur gewusst, hätte er nur gewusst, dass sie damals neues Leben unter ihrem Herzen getragen hatte, hervorgegangen aus Liebe, er hätte anders gehandelt. Hätte er nur mehr Geduld mit ihr gehabt, ihre flüchtigen Launen ertragen, ihre Worte als das erkannt was sie waren, Ausdruck von Schmerz, nicht von Hass, Eiter, der aus einer offenen, entzündeten Wunde troff, er hätte sich richtig entschieden. Aber er hatte keine Geduld gehabt, kein Mitgefühl, war blind gewesen und dumm, hatte Yaeeta zurückgelassen, als sie ihn am meisten gebraucht hatte, hatte sie dem Tod überlassen und damit alles zerstört.
Als Zephyr die Ruhe nicht mehr ertrug, als schon Tränen in seinen Augen standen, erhob er sich, schritt unruhig auf und ab. Es war, als wolle der Wald, diese Stätte, ihn prüfen, ihn beobachten, sehen, ob er der Herausforderung gewachsen war, ob er nicht fliehen würde, vor der Vergangenheit, vor seinen inneren Dämonen. Und ja, er wollte fliehen. Am liebsten würde er davonlaufen, in irgendeinem dunklen Loch verschwinden und für immer dort bleiben, bis die Welt und selbst alle Geister ihn vergessen hatten. Das Warten in dieser Stille, dieser Dunkelheit war die größte Qual, doch selbst seine dumpf klingenden Schritte auf weichem Boden verschaffte keine Linderung. Vielmehr unterstrichen sie die Abwesenheit jeglicher Geräusche, seine Rastlosigkeit. Jeder Nerv war gedehnt, jeder Muskel gespannt, seine Gedanken wurden finsterer mit jedem Schritt, bis sie dunkler waren als selbst das Zwielicht um ihn herum.
Plötzlich hielt Zephyr inne, denn er hörte nach einer gefühlten Ewigkeit wieder ein Geräusch, das nicht von ihm selbst kam. Leise und fein, das Flüstern der Blätter im Wind, wie ein Murmeln, ein Wispern, das von kalten Lippen wich. Er spürte einen Lufthauch an der Wange, eisig wie Geisterfinger. Dann sah er den Mond. Voll und rund kletterte er über die Baumwipfel, tauchte die Lichtung mit seinen Strahlen in kaltes Silber. Und kaum dass der erste schimmernde Funken das Gras küsste, bemerkte Zephyr die Veränderung. Weiße Blüten, die sich entfalteten und langsam dem Himmel entgegenstreckten, als würden sie ihn erreichen wollen. Ein wenig verstreut wuchsen sie, von der Weide ausgehend. Erst als Zephyr sich ihnen näherte, bemerkte er, wie groß die Geisterknollen waren, ein glockenförmiger Blütenkelch so lang wie seine Hand. Es war seltsam, dass er sie nicht zuvor bemerkt hatte...
Unter der Weide kniete er sich nieder und streckte seine Finger nach einer der Pflanzen aus, begann damit, die weiche Erde aufzuwühlen. Tiefer und tiefer grub er, immer der dicken Wurzel entlang, bis er schließlich auf etwas hartes stieß. Etwas kaltes, glattes, scharfkantiges. Stirnrunzelnd hob Zephyr die Hand und bemerkte mit einem leisen, milden Fluch, dass sie blutete. Hastig wühlte er in seiner Tasche und zog ein feines Taschentuch hervor, welches er rasch um die Wunde band, eher er vorsichtig weiter grub. Er hörte nicht auf damit, als er die Geisterknolle ausgehoben und sicher verstaut hatte - was er gespürt hatte, hatte ihn neugierig gemacht. Schließlich brachte er eine Scherbe zum Vorschein, dann eine weitere, schließlich eine Flasche, deren Hals abgebrochen war. Sie musste schon sehr lange dort vergraben sein, das Glas war völlig verdreckt und was sie einst beinhaltet hatte, war nicht mehr zu erkennen, auch die alte Aufschrift war nicht mehr lesbar. Das war auch nicht notwendig, denn obwohl es dunkel und verwittert war, erkannte Zephyr das Siegel wieder. Es gehörte zu einer bestimmten Weinhändlerfamilie aus dem Südwesten von Iblia-Keth, die einen einzigartigen Gewürzwein verkauften. Einen Moment lang starrte er das Gefäß verdutzt an, denn es war wahrlich nicht, was er hier zu finden erwartete. Dann aber zuckte Zephyr mit den Schultern und schob es zurück in die Erde. Er hatte andere Dinge, um die er sich kümmern musste.
Als er aufschaute, war es wieder still. Unangenehm still. Die Dunkelheit schien zu wabern, sich zu neuen, seltsamen und schrecklichen Formen zusammen zu setzen. Und hervor leuchteten die weißen Blumen, gespenstisch und kalt. Zephyr bekam eine Gänsehaut und er war froh, diesen Ort hinter sich zu lassen. Rasch erhob er sich und eilte über die Lichtung auf die schwarze Mauer aus Bäumen zu, stolperte mehrmals fast über Wurzeln und Steine. Erst als die vertrauten Schatten und Geräusche des nächtlichen Waldes ihn wieder umgaben, sein Atem und Herzschlag nicht länger das lauteste waren, das er hören konnte, verlangsamte er seinen Schritt wieder. Doch das Gefühl, beobachtet zu werden, verließ ihn in dieser Nacht nicht mehr.
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