04. Roter Winter
Durch den dicken, kardinalsroten Stoff des Schals wurde sein Atem bis zu einer kaum sichtbaren, warmfeuchten Wolke gedämpft. Daryl drückte den harten, dunklen Einband eng an seine Brust, selbst durch den dicken Wintermantel spürte er die harten Kanten des Bucheinbandes. Es drückte sich gegen Stoff, gegen Knöpfe aus Metall.
Golden schimmerte sein Haar, als er sich durch die lichte Menschenmenge schlängelte, bis seine Stiefel nicht mehr auf kalten, vereisten Stein und gefrorene Erde trafen, sondern auf Kies und Sand, er bei jedem Schritt etwas absank.
Sanftes, stetiges Rauschen, Wasser das mit melodischer Stimme sang, erfüllte Daryls Ohren, dämpfte die allseits vorhandene Traurigkeit, erdrückende Einsamkeit.
Wenn Alrian aufs Meer schaute, wusste er nicht, ob er etwas suchte oder sich darin verlieren wollte. Eines aber wusste er, und zwar, dass er es vom ersten Moment an geliebt hatte. Diese hypnotische Weise, auf welche die Wellen sich aneinander schmiegten, das Rauschen des Windes, das hier lauter war als sonst wo, abgesehen vielleicht von den höchsten Turmspitzen des Palastes von Andakeshah, die besondere, wildromantische Stimmung weckten Gefühle in ihm, die er sonst unterdrückte. Fantasien, Leidenschaften, diese Dinge, die er sonst beinahe automatisch schon unterdrückte. Oder Frieden, den er suchte. Die See konnte aufbrausen und beruhigen und das machte sie so faszinierend.
Als er das Meer zum ersten Mal erblickt hatte, hatte er oft in Sternennächten hinausgeschaut und nach den Türmen Zidores gesucht. Natürlich hatte er nie etwas dergleichen gesehen, doch die Suche selbst hatte ihn glücklich gemacht. Das war lange her, er war sehr jung gewesen. Doch geblieben war die Tatsache, dass er Stunde für Stunde in die Wellen schauen konnte, ohne dass es ihm an etwas mangelte. Und gerade an Wintertagen wie diesem war es angenehm, denn niemand kam, um ihn zu stören. Kein Schnee, kein Eis versperrte den Weg, keine Wolken verhängten den Himmel, und trotzdem blieben die Menschen zu Hause. Und Alrian alleine wie es sich gehörte und wie er es mochte.
Auch heute hatte er geglaubt, dass er allein und ungestört bleiben würde, während er den Kiesstrand entlangwanderte. Und lange Zeit schien sich das zu bestätigen. Bis er aus Richtung der Stadt eine entfernte Gestalt mit einem leuchtendroten Kleidungsstück kommen sah.
Der Wind, kommend vom schier endlos wirkenden Meer war kalt, nass, roch nach Salz und Melancholie, etwas von beidem das Daryl zu genüge hatte und von dem anderen wusste er nicht wie er es nutzen sollte. Er klammerte das Buch fester, drückte es eng an sich.
Glasig wirkte sein Blick, weltfremd und als wäre er nicht ganz hier, als schwebe sein Geist getrennt vom fleischlichen Gefängnis seines Körpers, über den Wolken, eile den Zinnen einer reinen, hellen Stadt entgegen.
Beim Anblick des nahenden Adorys musste Alrian unweigerlich frösteln, er zog sich den gefütterten Mantel aus dunklem Leder enger um den Leib. Daryl haftete immer etwas Kühles an. Etwas Unnahbares. Vielleicht fühlte er sich wie etwas besseres - und genaugenommen war er das ja auch - vielleicht fürchtete er sich davor, beschmutzt zu werden. Aber Alrian war nicht sicher. Denn was er niemals in Daryls Augen gesehen hatte, war Ekel. Leere, Traurigkeit, ein kurzes Aufblitzen von Freude, Unsicherheit... aber niemals Ekel. Vielleicht war es auch eine merkwürdige Art von Scham, die ihn daran hinderte, sich bei ihren Begegnungen auszuziehen. Auch das passte zu seinem Wesen des weltfremden Adorys-Kindes.
Was auch immer die Antwort sein mochte, Alrian kannte sie nicht. Er wusste nur, dass er Daryl zu nichts drängen würde. Er würde beobachten, fragen, ohne zu bohren, Schlüsse ziehen, und sollte der Tag kommen, da er feststellte, dass es keinen Sinn hatte, würden seine Besuche enden. Im Augenblick war da noch die Faszination, die ihn trieb, die ihn darüber hinwegtröstete, dass er keine Nähe - wahre oder falsche - und keine Wärme spürte, wenn er den jungen Mann besuchte. Aber Alrian wusste gut genug, dass Faszination nicht ewig währte...
"Goldkind", begrüßte er den blonden Jungen in seiner Muttersprache. "Hier, um den kalten Wind zu genießen?"
Das Buch entglitt Daryls Händen, traf auf den kalten Sand auf. Er war schrecklich erschrocken, zu einer Salzsäule erstarrt, als er Worte in seiner Muttersprache vernahm.
Üppiges, goldenes Haar legte sich wie ein Schleier über seine Schulter, als Daryl in die Hocke ging, das Buch aufklaubte und mit gefühllosen Fingern den Sand abklopfte.
"Ich wollte lesen", antwortete er sanft, gerade hörbar. "Und ich habe noch nie das Meer gesehen."
"Ja, Shillian ist nicht gerade mit Küsten gesegnet. Ich war einmal als Junge am Meer. Bevor ich hierher kam." Eine Reise mit seiner Mutter und seinem Bruder, die er niemals vergessen hatte. Hearys, eine wunderschöne, verschlafene Kleinstadt am Meer, Teil einer der letzten Kolonien des ehemaligen Großreiches. Sie waren zur Erholung dorthin gereist, Alrians Mutter war zuvor einige Wochen lang bettlägerig gewesen und die frische Meeresluft sollte bei der Genesung helfen. Freier war es dort zugegangen, die Gesetze der Kasten hatte man weniger genau genommen - Hochelfen und Deviqa hatten mehr oder weniger Seite an Seite miteinander gelebt. Wenige Jahre später hatte Shillian die Kolonie dann auch ganz ihrer Freiheit überlassen.
Aber Alrian erinnerte sich mit süßer Nostalgie an jene Zeit, die er dort verbracht hatte. Obwohl sie im Nachhinein betrachtet, wohl einen der ersten Funken gezündet hatte, die einst seine Leidenschaft für Dinge, die ihm verwehrt waren, entflammen sollten. Das Leben ging manchmal merkwürdige Wege.
Neugierde flammte in Daryl auf, er hing förmlich an den Lippen des anderen, hatte selbst kaum etwas gesehen, nichts von der Welt gesehen, als den goldenen Käfig von erdrückender Größe seiner Kindheit und die verwischten Schatten auf seiner Flucht.
"Habt Ihr schon viel gesehen?"
Da war es wieder. Dieses flüchtige, kurze Aufleben im Gesicht des Adorys. Neugierde in Augen, denen die Welt sonst vollkommen gleich schien, die Sehnsucht nach der Antwort auf eine Frage, die Alrian nicht einordnen konnte.
"Nun..." Der Pfandleiher zuckte mit den Schultern. "Was bezeichnest du als 'viel', Goldkind?
Ich bin durch Shillian gereist, habe gesehen, was auf dem Weg hierher lag. Ich habe Menschen getroffen. Ein paar Dinge gelernt. Ja, wahrscheinlich habe ich viel gesehen."
"Viel bezeichne ich alles, dass mehr ist als..." Daryl brach ab und starrte dumpf zur Seite.
Druck.
Seelenbrechender, überall vorhandener Druck.
Isolation.
Ein goldenes Gefängnis.
"Was für Dinge hast du denn gelernt?"
"Nichts, das einen so traurigen Blick von dir rechtfertigt, Goldkind", antwortete Alrian abwehrend. "In erster Linie habe ich wohl das Überleben gelernt. Dann, dass es sich unter Deviqa einfacher lebt als unter unseresgleichen. Und komplizierter." Hier gab es keine Kasten, die einschränkten, keine Gesetze, die jemanden von niederer Geburt auffangen konnten. Doch genauso wenig gab es hier ein System, durch das man bei Fehltritten aufgefangen werden konnte. Es gab kaum Grenzen, bis wohin man aufsteigen konnte, doch auch Fallen konnte man, ohne auf einen Grund zu stoßen. In Shillian war alles klar und fest, in Brightgale verworren und beweglich.
"Für einen Feos zumindest."
"Es ist andersartig." Daryl hob das Kinn in einem vagen Anflug von Stolz, beinahe als wolle er sich für seine Worte rechtfertigen wollen. Die Geste hatte etwas so herausforderndes, etwas so widerspenstiges in sich, es passte nicht zu dem verwaschenen, vagen Bild, das Daryl darstellte. Dennoch tat er es. "Und mag es kompliziert sein, so ist es auch eine Befreiung."
Oh, er war weit gefallen, doch noch nicht am Boden der Gesellschaft angekommen. Daryls plötzliche Provokation brach in sich zusammen, verlor an Grund und Luft und war schließlich wieder verschwunden. Devot wirkte sein Auftreten nach diesem überraschenden Aufblitzen von Willenskraft.
"Für mich zumindest."
Nachdenklich ruhten Alrians Augen auf dem jungen Mann, ehe er kopfschüttelnd antwortete: "Du bist schon eine seltsame Gestalt. Kenne nicht viele, die freiwillig ihr gutes Leben aufgeben, wegziehen und dann damit ihr Geld verdienen, Geschlechtsteile abzulutschen." Er zuckte mit den Schultern und wandte sich ab, schaute wieder aufs Meer, wo noch immer keine Spur weißer Zinnen zu sehen war. "Aber ich schätze, ich sollte nicht urteilen."
Erneut fiel das Buch, dieses ach so kostbare, dumme Buch zu Boden. Daryl hatte den Kopf gesenkt, die Fäuste an den Seiten geballt. Hinter geschlossenen Augenlidern pochte es, er fühlte den Wind plötzlich so scharf auf seinen Wangen, als wären sie Nass. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab, ging mit langen Schritten von dannen. Fort. Immer weiter fort. Nur Knirschen von Sand und Rauschen von Wellen und das fliegen des eigenen, verhassten Atems in den Ohren.
Warum war es noch nicht vorbei?
Unter seinen Ärmeln brannten seine Narben, schmerzten und juckten, als wären sie rot und offen.
Stumm schaute Alrian dem Adorys nach, zog eine Sekunde lang in Erwägung, ihm zu folgen und weiter mit ihm zu sprechen. Doch welchen Sinn hätte das? Wie wollte der Junge in einer Welt wie dieser überleben, wenn selbst simple Wahrheiten ihn aus dem Konzept brachten? Er hatte selbst gesagt, dass er es lieber kompliziert hatte - das war Alrian nur recht. Falsche Rücksichtnahme war nie seine Stärke gewesen.
Trotzdem hob er das Buch auf, und schob es nach einem kurzen Abwischen vorsichtig unter seinen Mantel. Er würde es Daryl bei seinem nächsten Besuch zurückgeben.
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