Ailis schluckte, ihre Hand fuhr sanft über Leons Arm.
Sie wollte Leon nicht verjagen.
Sie wollte ihn verstehen.
Und auf keinen Fall wollte sie nach letzterem zielen und dadurch ersteres bewirken.
Lange zögerte sie, ehe sie die Hand wieder zurückzog und fragte leise:
"Was ist passiert?"

"Sie würde das nicht tun!", entfuhr es Ailis.
Sie schwieg einen Moment lang betreten.
"Aber ich würde ihr ohnehin nichts über andere erzählen.
Über dich nicht."
Sie sprach überhaupt so gut wie nie über andere Leute.
Nicht über Leute, die nicht in Büchern standen.
Also nickte sie.
"Ich verspreche es."

Nein, das würde Rosalie nicht tun - dafür würde Ailis ihre Bücher ins Feuer legen.
Rosalie würde niemals einen Freund verraten.
Oder jemandem absichtlich Schaden hinzufügen.
Das wollte sie Leon sagen - doch sie schloss ihren Mund, als er zu erzählen begann.
"Es tut mir leid", sagte sie leise, als er wieder verstummte, und fühlte sich mit einem Mal ganz verschüchtert.
Wusste gar nicht mehr, was sie sagen sollte.
Sie kannte den Schmerz des Verlusts.
Aber sie kannte es nicht, ihn zu teilen.

"Es tut mir trotzdem Leid."
Ailis meinte ihre Worte, doch sie meinte damit auch, dass es ihr leid tat, dass sie es nicht besser zeigen konnte.
Lange Zeit schwieg sie und sagte dann:
"Ich glaube nicht, dass alle Menschen Bestiae hassen.
Ich glaube nicht einmal, dass viele sie hassen."

Ailis blickte zu Boden.
"Von dem was ich gehört habe", sagte sie nach einer Weile, "glaube ich, dass beide Fehler gemacht haben."
Wieder schwieg sie.
"Wirst du sie jetzt dein Leben lang hassen?", fragte sie ernst und schaute Leon mit großen Augen an.
"Damit du jemanden für den Tod deines Freundes hassen kannst?"

Da war etwas in Leons Blick, etwas in seiner Stimme, das Ailis Angst machte, etwas, das sie nicht kannte.
Etwas, das sie, so sehr es sie beschämte, auch nicht kennen wollte.
"Vergeben ist der Schlüssel zur Veränderung", murmelte sie leise.
"Das hat Alastair Goldcrown einmal gesagt - und ich glaube, dass es stimmt.
Ich glaube, dass sich nichts ändern kann, wenn Fehler ein Leben lang nachgetragen werden."
Sie merkte, dass sie zitterte.
Obwohl es nicht kalt war, obwohl die Sonne schien, zog sie ihre Beine enger an.

Ailis’ Augen wurden weit.
"Das ... das meine ich gar nicht", antwortete sie mit bebender Stimme.
"Ich meine doch Rosalie."
Auch ihre Hände bebten.
Feuer.
Allesverschlingendes Feuer.
Ailis spürte, wie ihr Atem schneller ging, flacher, und sie schloss die Augen, um sich zu beruhigen.
"Du machst mir Angst, Leon", wisperte die Rothaarige.
Die Unsicherheit war wieder da.
Die Ungewissheit.
Nur die Tatsache, dass alles enden, dass man sie wieder allein lassen würde.

Ailis nickte und hob den Kopf ein wenig.
Doch ihre Unsicherheit blieb.
Auch die Angst.
Das, was sie gesehen hatte, wollte sie nie wieder sehen.
In keinen Augen, auch nicht in Leons.
Besonders nicht in Leons.
"Was ist eigentlich mit der Bestia passiert?", fragte Ailis irgendwann, weil sie die Stille nicht mehr ertrug.

"Hat er es dir nicht erzählt?", fragte Ailis verwundert und schaute Leon an.

"Die Bestia, die bei der Stadtwache oder anderswo ist."
Ailis konnte nicht "verraten" sagen.
Verrat war meist eine Sache des Standpunktes.
Und wenn er wirklich ein schlimmer Verbrecher war, dann hatte es womöglich Leben gerettet.
"Ich meine nur ..."
Ailis legte den Kopf schief.
"Vielleicht sollten die beiden miteinander reden."

"Nun hasst du sie doch", antwortete Ailis betrübt und stand ebenfalls auf.
Sie hielt inne, bevor sie fragte:
"Wirst du mich auch hassen und zurückweisen, wenn ich einen Fehler mache?"
Sie wartete die Antwort nicht ab, zu sehr fürchtete sie sich davor.
Eiligen Schritts machte sie sich auf den Weg zurück zur Stadt, drehte sich nicht einmal zu Leon um.

Ailis -> Akademie, Bibliothek

Lucretia -> Händlerviertel, Wohnhäuser

Langsam schwebte Lucille zu Boden, das weiße, mit vereinzelten Blutflecken beschmutzte Gewand flatterte leicht im Wind, eine kleine Kugel magischen Lichts schwebte über seiner Handfläche.
Ein Lächeln trat auf seine Lippen, als er neben der Leiche des Mannes aufkam, sie mit dem Fuß herumwälzte und sich dann zu ihr herunterbeugte.
"Tat es weh?
Es tat sicher weh - doch du solltest froh sein.
Du bist nun bei ihr und es wird nie wieder schmerzen."
Seine Stimme verstummte, das Lächeln erstarb und er betrachtete mit plötzlichem Ekel in den Zügen die zerschundene Gestalt.
"Wie ich dich dafür hasse.
Hässlich bist du und abstoßend und trotzdem liebt sie dich, lieben sie dich alle."
Sanft strich er über die blutüberströmte Haut.
"Aber das macht nichts.
Es muss dich ja nicht mehr kümmern oder sorgen."
Sanft legten sich Lucilles Lippen auf die des Toten und er spürte die Veränderung deutlich.
Hitze wallte im Körper des Engels auf, ein Verlangen, das niemals gestillt werden konnte, erfüllte ihn.
Aber es sollte ruhig unerfüllt bleiben.
Es war ihm Befriedigung genug, zu wissen, dass er seine Mutter missachtete, ihr Werk schändete.
Das alleine schon war genug, wenn er sonst schon keinen Frieden finden konnte.

Lucille -> Gasthaus "Zur Wasserschlange"