Ohne den Zauber auch nur ein wenig zu lösen, schritt Rosalie um den gefällten Baum herum und blieb dann vor dem Leoparden stehen.
Während sie ihn fester zu Boden drückte, wirkte sie erneut den Enthüllungszauber.
Warmes, gelbes Licht ging von ihr aus und umhüllte alles im Umkreis.
Sie war gespannt, ob das Tier wirklich war, was sie vermutete.

Erschrocken schrie Rosalie auf.
Wie hatte das verdammte Tier das getan?
Reflexartig kam ein Wort der Macht über ihre Lippen, ihre Hand streckte sich aus und erzeugte eine Welle aus roher Gewalt und Hitze, die den Leoparden zurückwarf.
Nur dass er, jetzt wo die Strahlen des Enthüllungszaubers ihn berührt hatten, kein Leopard mehr war.

Rosalie zuckte ein wenig zusammen.
Nicht einmal Kleidung hatte er getragen ...
Seufzend ließ sie sich auf einem Baumstumpf nieder und begutachtete ihre Wunde.
Besonders tief war sie nicht, zum Glück hatte die Bestia sich schnell zurückverwandelt.
Dennoch schmerzte es.
Vorsichtig legte Rosalie Hand an.
Zum Reinigen und zum Stoppen der Blutung sollten ihre Künste reichen ...
Seltsame Tätowierung, schwarzes Haar, auffällig goldene Augen, vermutlich Iblianer.
Keine besonders genaue Beschreibung, doch bei dem momentanen Aufruhr würde die Stadtwache sie sicher mit Kusshand nehmen und ihr eine vernünftige Summe zahlen.
Dann hätte sich der kleine Ausflug wenigstens in einer Hinsicht gelohnt.

Als zumindest der Schmerz einigermaßen verschwunden war, erhob Rosalie sich seufzend.
Sie würde wohl besser zurück in die Stadt gehen und mit der Stadtwache sprechen.
Immerhin hatte die sicher ein großes Interesse daran.
Aber sie würde erst reden, wenn sie einen guten Preis für die Information erzielt hatte.

Einen Arzt würde Rosalie auch noch suchen müssen - die Wunde sollte definitiv noch von jemandem behandelt werden.
Oder vielleicht doch die Heilerschüler in der Akademie fragen?
Einer von ihnen schuldete ihr noch etwas ...
In ihren Gedanken stolperte Rosalie und fiel fluchend zu Boden.
Dann schaute sie auf und hob nachenklich den Gegenstand auf, welcher ihr im Weg gelegen hatte.
Ihre Augen funkelten mit einem Mal.
Womöglich hatte sich der Ausflug doch gelohnt.

Erschrocken fuhr Rosalie zusammen und warf instinktiv eine weitere Hitzekugel in Richtung des Geräuschs.
Dann sprach sie hastig einen Schildzauber, Wachsamkeit musste schließlich sein!

Rosalie blieb weiter wachsam.
Unvorsichtige Magier lebten kürzer.
Und so näherte sie sich langsam wieder der Stadt.

Rosalie -> Kaserne

Tiamat -> Ankunft

Am Seeufer sank sie ins Gras und schaute aus trüben Augen in den Himmel.
Tiamat liebte Mondnächte, es stimmte sie umso trauriger, dass heute keine bleiche Scheibe am Himmel stand.
Aber der Mond würde wiederkehren, er tat es immer.
Was auch immer sie sonst entbehren musste, er würde da sein.
Den Kopf in weiches Moos gebettet, blickte Tiamat in die Sterne, erinnerte sich daran, wie sie sie zum ersten Mal erblickt hatte.
Nicht am Himmel, sondern auf Karten, mit Linien zu Bildern verbunden.
Manche konnte sie sogar noch erkennen, die Feuerkatze in etwa oder den Kelch.
Andere waren ihr völlig unbekannt.
Als Tiamat zum ersten Mal an die Oberfläche gestiegen war, hatte sie geglaubt, nach ihnen greifen, sie fangen zu können.
Bücher hatten sie gelehrt, dass es unmöglich war und trotzdem hatte sie ihre Hände ausgestreckt, es versucht und hatte die schwere Enttäuschung gespürt.
So, wie es nun auch war - nur dass die Sterne keine Sterne waren und ihre Hände müde, ihr Herz müde, sie selbst müde.
So müde ...
Zittrig umklammerte Tiamat den Griff ihres Messers.
Noch durfte sie nicht schlafen.

Ein plötzliches Geäusch ließ Tiamat hochfahren, ein dunkler, grollender Klang.
Es war nicht völlig dunkel und selbst wenn es das gewesen wäre, hätte sie mit ihren Augen immer noch genug gesehen.
Doch den Ursprung konnte die Dunkelelfe nicht erkennen.
Unruhig blickte sie umher, ihr Messer fest in ihrer Hand.
Und dann sah sie den Schatten durch die Bäume jenseits der Lichtung huschen, groß und schnell.
Tiamat wusste, dass sie hier auf der nicht sicher war, dass es hier keinerlei Schutz gab.
Also zog sie rasch die Schatten um sich und floh zur anderen Seite ins Gehölz.
Sie rannte zwar, vor Blicken und Ohren geschützt durch ihre Magie, doch das unbehagliche, schwere Gefühl wich nicht von ihr.
Der Wald und diese mondlose Nacht schienen zu leben, mit tausend Augen auf sie zu starren.
Zweige stellten sich ihr in den Weg, hielten sie auf, Wurzeln ließen sie straucheln und stolpern, Dornen rissen schmerzhaft an ihrer Haut.
Und dann diese Eingebung, dieses Gefühl, dass etwas direkt hinter ihr war, dass jeder ihrer Schritte verfolgt wurde, dass nur der rechte Augenblick abgewartet wurde, sie niederzureißen, dass ihre Anstrengung vergeblich war.
Tiamats Atem ging schwer, sie keuchte laut, ihre Beine versagten schließlich ihren Dienst.
Hart prallten ihre Knie auf den Boden und die Haut ihrer linken Hand, mit der sie sich hatte abfangen wollen, wurde bei dem Versuch aufgerissen, sodass Blut warm und heiß herabrann. Ihre Rechte hielt noch immer das Messer umklammert.
Als die Dunkelelfe sich schließlich zitternd aufrichtete, und den Kopf hob, schaute sie in ein Paar leuchtender Augen.
Tiamat erstarrte, bewegte nur langsam schützend das Messer vor sich.
Sie schlug damit, wich gleichzeitig aus, als das Wesen auf sie zusprang.
Doch es war vergeblich, ein gezielter Hieb ließ das Messer zu Boden fallen, ein weiterer schleuderte Tiamat nieder.
Diesmal schaffte sie es nicht, sich rechtzeitig wieder aufzurichten.
Aus verschwommenem Blick glaubte sie, in der Ferne eine fremde Gestalt - einen Menschen wohl - in diese Richtung wanken zu sehen. Dann versperrte ihr Angreifer ihr die Sicht.
"H-hilfe", keuchte sie, schrie es noch einmal.
Sie wollte nicht, dass es nun endete.
Nicht so.
Nicht auf diese Weise.
Doch dass es zu spät war, wusste sie, als sie schmerzhaft zu Boden gepresst wurde, sie den brennenden Schmerz spürte, als ihre Haut und ihr Fleisch durchbohrt wurden.
Wie es schien, würden weder Nilay, noch Sadas sich um irgendein Kind kümmern müssen.

Die Dunkelelfe regte sich nicht.
Ihre Augen waren geschlossen, ihre Wange kalt.
Ihr Kleid, das vorher blütenweiß gewesen sein musste, war schmutzig und zerrissen - ihre Haut darunter war derart mit anscheinend sehr frischen Wunden übersäht, dass ihr ganzer Leib einer einzigen, blutigen Wunde glich.
Nur ein leichtes Beben ihrer Lippen verriet, dass die Frau überhaupt noch am Leben war.

Tiamats Körper war wie in ein Fass Säure getaucht.
Regen konnte sie sich nicht, spürte aber wohl, wie jemand sie hochhob, wie eine der Wunden dabei erneut aufriss und mehr Blut hervorströmte.
"Lord ... Leo...nis ...?", murmelte sie.
Sie wollte ihre Augen öffnen, doch sie waren verklebt, hielten ihre Lider gewaltsam zusammen.
Aber er musste es sein. Wer sollte es auch sonst sein?
Immer hüllte er sie in diesen Schmerz und versorgte anschließend ihre Wunden.
Und sie würde es immer ertragen.
Eine andere Wahl hatte sie gar nicht.
"Nehmt Euch ... mehr, ich ... ich habe ... noch Kraft ..."

Gwarens Lager

"Wie Ihr ... wünscht ... Mylord ...", wisperte Tiamat.
Manchmal zuckten ihre Glieder unter den Berührungen, die meiste Zeit jedoch lag die Dunkelelfe ganz ruhig da.
War es immer so schlimm gewesen?
Nein, sie musste schwach geworden sein, dass sie es nicht mehr ertrug.
Dass sie ihre Pflicht nicht mehr ausreichend erfüllen konnte.
"Es ... tut mir ... leid ..."