Seeufer

Rosalie ließ den Zauber fallen und folgte Leon.
Nun konnte auch sie die kleinen, tränenförmigen Blüten erkennen.

Seeufer

Rosalie schritt langsam vom Seeufer weg, tiefer in den Wald hinein.
Dann und wann musste sie anhalten, um erneut wegweisende Blumen erblühen zu lassen.
Die Mondtränen wuchsen nun um Einiges dichter und Rosalie hoffte, dass sie das Zeichen richtig deutete.

Mondtränenlichtung

Auf einer Lichtung, die übersäht war mit den kleinen Blumen, blieb Rosalie stehen.
Hier schienen sie auch ohne ihren Zauber zu blühen.
Winzige, schillernde Regentropfen hingen in den kleinen Blüten.
Kein Vogel zwitscherte hier, der ganze Ort war von einer friedlichen Ruhe erfüllt.
Es war, als wären sie in eine fremde Welt getreten.

Mondtränenlichtung

"Zeig es ihr, wenn sie wieder gesund ist", antwortete Rosalie leise.
Vorsichtig schritt sie weiter auf die Lichtung, sorgsam darauf bedacht, keine Blumen zu zertreten.
In der Mitte der Lichtung sprudelte eine Quelle klaren Wassers.
Dort setzte sie sich hin.
Sie waren am richtigen Ort angelangt.

Mondtränenlichtung

Rosalie schloss die Augen.
Ruhe.
Ruhe und Geduld, das waren laut all den Büchern die Tugenden, mit denen eine reine Jungfrau ein Einhorn anlocken konnte.
Beides nicht ihre Stärken.

Mondtränenlichtung

Rosalie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie schließlich ein leises Rascheln vernahm.
Langsam schlug sie die Augen auf, regte sich aber ansonsten nicht.
Schließlich wollte sie das Einhorn nicht verjagen.
Noch sah sie allerdings nichts.

Mondtränenlichtung

Rosalie sah es vom Waldrand kommen.
Schneeweiß war es und von zarter Statur.
Die Mähne fiel in sanften Locken herab bis zur Flanke des Wesens, einige kleine Locken umrahmten auch die schmalen Hufe.
Silbrig schlängelte sich das Horn von der Stirn empor.
Einzig die Augen waren dunkel, von einem tiefen Nachtblau, endlos und zeitlos.
Langsam trabte das Einhorn näher, hielt vor Leon an und legte die Nüstern an seine Wange.

Mondtränenlichtung

Das Einhorn schnaubte leise und hob den Kopf.
Anmutig schritt es näher, ehe es sich an der Quelle niederließ, das Haupt auf Rosalies Schoß bettete.
Diese verharrte einen Moment, ehe sie die Hand ausstreckte, um vorsichtig die Mähne zu berühren.
Das Wesen ließ es geschehen.
Sacht nickte Rosalie Leon zu.

Mondtränenlichtung

Langsam erhob sich das Einhorn wieder.
"Was begehrt ihr, Menschenkinder?"
Das Einhorn bewegte seine Lippen nicht, die Stimme klang entkörpert, hatte keinen Ursprung, es war, als würde sie einfach in der Lichtung schweben.
Und doch bestand kein Zweifel daran, wer da sprach.

Mondtränenlichtung

Das Einhorn schnaubte leise und legte den Kopf leicht schief.
"Wer ist eure Ailis?
Ist sie ein Menschenkind wie ihr?
Ist sie rein und schön?"
Rosalie war nicht sicher, ob sie das als Kompliment betrachten sollte.
"Mehr als das", antwortete sie und konnte die Ungeduld trotz aller Mühe nicht gänzlich aus ihrer Stimme vertreiben.
"Und sie wird ohne deine Hilfe sterben!"

Mondtränenlichtung

Das Einhorn schaute nun an Rosalie vorbei und in Leons Gesicht.
"Deine Lippen sprechen keine Lügen.
Du sprichst von Herzen.
Was verlangst du von mir?"
Rosalie biss sich auf die Lippe.
Sie hatte keine Ahnung, wie man ihm das weißmachen sollte.

Mondtränenlichtung

Das Einhorn schwieg eine Weile.
"Also wollt ihr mein Leben für das ihre opfern?"